Profilbild von evaczyk

evaczyk

Lesejury Star
offline

evaczyk ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit evaczyk über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 24.10.2024

Der traurige Kommissar und die toten Waisenkinder

Der Schatten einer offenen Tür
0

Einerseits ist "Der Schatten einer offenen Tür" des belarussischen Exil-Autoren Sasha Filipenko ein Stück Kriminalliteratur, geht es doch um die Ermittlungen eines Moskauer Kriminalkommissars in der nordrussischen ...

Einerseits ist "Der Schatten einer offenen Tür" des belarussischen Exil-Autoren Sasha Filipenko ein Stück Kriminalliteratur, geht es doch um die Ermittlungen eines Moskauer Kriminalkommissars in der nordrussischen Provinz. In einer Kleinstadt, in der ein Kinderheim, ein Gefängnis und ein psychiatrische Klinik die größten Jobchancen für die Einwohner zu bilden sein, soll er eine Selbstmordserie aufklären. Vier jugendliche Bewohner des Kinderheims sind tot. Waren es am Ende gar keine Selbstmorde?

Zugleich ist der Roman ein Porträt einer perspektiv- und hoffnungslosen Gesellschaft, in der im Zweifelfall Brutalität und Intrigen den Sieg davontragen. Alexander Koslow, der aus Moskau geschickt wurde, um die Selbstmordserie aufzuklären, ist nach dem Scheitern seiner Ehe selbst tieftraurig und steht in der Provinz auf verlorenem Posten - der örtliche Polizeichef ist wegen eines vorangegangenen Falls schlecht auf ihn zu sprechen - und hat selbst bereits seinen Verdächtigen, den naiven und gutmütigen Petja, selbst einst Zögling des Kinderheims, von dem sich die örtliche Polizei genervt fühlt. Petja ist zwar unschuldig, soviel sei bereits verraten, aber die Polizisten haben Mittel und Wege, ein Geständnis zu bekommen.

Filipenko schreibt teils mit bitterem Humor, teils pointiert und legt den Finger in so manche Wunde. Das Kinderheim wie auch das lokale Polizeirevier werden zur Parabel einer Gesellschaft, die von Zwang und Anpassungsdruck bestimmt ist und Individualität unterdrückt. Verletzungen wie Selbstverletzungen sind hier Alltag. Der traurige Kommissar löst am Ende zwar seinen Fall, doch er kann weder sich noch Petja helfen. Angesichts der Realitäten kann er im Ringen um die Wahrheit nur scheitern.

Mit repressiven Systemen kennt sich Filipenko aus. In seinen früheren Romanen schilderte er das Leben unter dem Stalinismus ebenso wie Korruption und Gier in seiner Heimat in der Gegenwart. Sein neues Buch, im Stil der griechischen Tragödie in Gesänge gegliedert, beeindruckt mit seiner Kompromisslosigkeit und Düsternis.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 23.10.2024

Kriegstagebuch aus der Distanz

Israel im Krieg
0

Es gibt Tagebuchschreiber, die halten ihre persönlichsten Gedanken nur für sich fest - und andere, die schreiben bereits mit dem Gedanken an ein (Lese-)Publikum. Saul Friedländers eher analytisch als persönliches ...

Es gibt Tagebuchschreiber, die halten ihre persönlichsten Gedanken nur für sich fest - und andere, die schreiben bereits mit dem Gedanken an ein (Lese-)Publikum. Saul Friedländers eher analytisch als persönliches Tagebuch "Israel im Krieg" gehört eindeutig in die zweite Kategorie. Der renommierte Historiker weiß um die historische Tragkraft der Ereignisse, über die er, ausgehend vom 7. Oktober, schreibt. Und er hat von Anfang an den Gedanken, seine Beobachtungen, Analysen, Eindrücke in Bezug auf das zuvor veröffentlichte Tagebuch zur Innenpolitik Israels im Streit um die Justizreform fortzusetzen, denkt an eine Veröffentlichung beider Texte in einem Band.

Was Friedländers Tagebuch etwa von dem vor wenigen Wochen veröffentlichten Tagebuch Dror Mishanis unterscheidet - das Persönliche wird stark zurückgenommen, Friedländer beobachtet die Entwicklung in seiner Heimat mit dem Blick eines Wissenschaftlers, weniger eines Betroffenen. Der Ansatz ist distanziert, buchstäblich: Friedländer lebt in den USA, die Stimmung in Israel kann er also nicht so unmittelbar spüren, er verfolgt die israelischen Medienberichte, beobachtet und analysiert.

Persönlich wird - neben dem Erschrecken über die Details, die nach und nach zu den Massakern und den Lebensumständen der Geiseln bekannt werden, dem Mitgefühl mit dem Leid der Menschen in Gaza - vor allem die zunehmend antisemitische Stimmung in den USA und in Europa kommentiert. Das gilt insbesondere für die Entwicklung an den US-Hochschulen, lehrte doch Friedländer jahrelang an der UCLA. Zugleich wendet sich Friedländer, der nicht nur ein bekannter Holocaust-Forscher ist, sondern selbst ein Überlebender, dessen Eltern in Auschwitz ermordet wurden, energisch gegen eine Relativierung oder Instrumentalisierung der Schoah im Zusammenhang mit Hamas-Terror und Gaza-Krieg.

Immer wieder gerät das Tagebuch zur Abrechnung mit politischen Fehlern der Regierung Netanjahu, die die Gefahr durch die Hamas herunterspielte, auch wenn das nicht das Versagen der Sicherheitsdienste am 7. Oktober und in seinem Vorfeld entschuldigt. Kritisch setzt sich Friedländer insbesondere mit den ultranationalistischen Mitgliedern der Regierungskoalition auseinander, alle voran Polizeiminister Itamar Ben-Gvir ("der böse Clown") und Finanzminister Smotrich, mit den radikalen Siedlern und ihrem Beitrag an der Eskalation im Westjordanland. Immer wieder denkt er über ein Szenario für die Zeit nach dem Krieg nach und plädiert dabei nachdrücklich für eine zwei-Staaten-Lösung.

Das Tagebuch endet im Frühjahr 2024, vieles, worüber Friedländer zu diesem Zeitpunkt noch als mögliches Risiko nachdenkt, hat sich seitdem verschärft, etwa der Krieg gegen die Hisbollah und die Konfrontation mit dem Iran. Friedländers Schlussfolgerung bleibt aktuell: "Das einzige Licht am Ende dieses Tunnels ist die Möglichkeit, einen ziellosen Krieg zu beenden und damit die Geiseln zu retten, die noch gerettet werden können, der Zivilbevölkerung in Gaza Erleichterung zu verschaffen und schlussendlich die Idee eines palästinensischen Staates zu akzeptieren."

Veröffentlicht am 23.10.2024

Ökokrimi aus dem Schwarzwald

Black Forest
0

Der elfte Fall von Georg Dengler in Wolfgang Schorlaus Schwarzwaldkrimi "Black Forest" wird sehr persönlich für den Privatdetektiv aus dem Südwesten. Zum einen geht es für ihn back to the roots, auf den ...

Der elfte Fall von Georg Dengler in Wolfgang Schorlaus Schwarzwaldkrimi "Black Forest" wird sehr persönlich für den Privatdetektiv aus dem Südwesten. Zum einen geht es für ihn back to the roots, auf den Bauernhof seiner Mutter Margret. Anrufe der örtlichen Polizei und alter Bekannter lassen befürchten, dass die alte Frau wunderlich wird, womöglich eine Demenz entwickelt - wiederholt hat sie die örtliche Polizei angerufen, dass Fremde sich nachts auf dem Hof herumtrieben - angetroffen wurde nie jemand. Dengler ist verständlicherweise besorgt.

Wer Schorlaus Dengler-Serie über die Jahre hinweg verfolgt hat, weiß: Hier geht es nie nur ums Persönliche, aktuelle Bezüge, auch Probleme bei der Polizei, werden immer wieder thematisiert. Schließlich hatte ja auch Dengler seinen Posten beim LKA aufgegeben, weil er sich mit den dortigen Zuständen nicht abfinden wollte. Und die Polizeiskandale der vergangenen Jahre sorgen obendrein dafür, dass dem Autor die Themen nicht ausgehen.

Zugleich ist "Black Forest" ein Öko- bzw Energiekrimi, in dessen Zentrum unvermittelt Denglers Mutter steht, die mit Herzensweisheit und alemannischem Dialekt schnell zu einer Lieblingsfigur mutiert. Eine örtliche Ökogruppe möchte auf einem ihrer Äcker ein Windrad errichten. Doch die alte Dame hat bereits ihrer Heilpraktikerin versprochen, diesem Vorschlag nicht zuzustimmen - aus Angst vor Strahlung und Sorge um Vögel, die in den Sog des Rades geraten könnten.

Denglers Sohn, mitten in einer Beziehungskrise aus Berlin angereist, versucht die Oma vom Gegenteil zu überzeugen. Und während er sich mit seinem Vater noch um die Legitimität von Klimaklebern und das Gendern streitet, erfahren die Leser*innen, dass das Windrad auf dem Acker mächtige Gegner hat, die die ganze Energiewende gerne rückgängig machen wollen.

Damit hat Schorlau eigentlich bereits reichlich Stoff, scheint aber entschlossen, in diesem Band allen Denglerschen Familiengeheimnissen auf den Grund gehen zu wollen. In einem Nebenstrang setzt sich Dengler mit einem persönlichen Trauma auseinander und findet heraus, was es mit dem Unfalltod seines Vaters in seiner Kindheit auf sich hatte.

Viele Themen also, dennoch wirkt "Black Forest" nicht überfrachtet. Die aktuelle Thematik und die Art, wie Schorlau große Probleme und Themen auf die kleine Welt in den schwäbisch-allemannischen Hügeln herunterbricht, hat mir jedenfalls sehr gut gefallen. Obendrein führt er in dem Buch den generationsübergreifenden Dialog über gesellschaftliche Themen, wokeness und politische Korrektheit, der in der Gesellschaft so oft an wechselseitiger Verhärtung der Positionen scheitert. Da erweist sich Boomer Dengler als lernfähig - und Margret Dengler ist für manche Überraschung gut.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 21.09.2024

Götter, Sterne, Lügen

Hey guten Morgen, wie geht es dir?
0

Sie haben die Namen von Göttern, aber die Realität von Juno und Jupiter ist eher irdisches Elend: Er leidet an fortgeschrittener Multipler Sklerose, die Welt des Schriftstellers ist im wesentlichen auf ...

Sie haben die Namen von Göttern, aber die Realität von Juno und Jupiter ist eher irdisches Elend: Er leidet an fortgeschrittener Multipler Sklerose, die Welt des Schriftstellers ist im wesentlichen auf das Schlafzimmer mit Pflegebett zusammengeschrumpft. Sie ist Performancekünstlerin in der freien Theaterszen, sprich, ein regelmäßiges Einkommen ist eher nicht vorhanden, mal läuft es finanziell besser, mal schlechter. Neben Balletttraining und Aufführungen sowie einer wachsenden Leidenschaft für Tätowierungen werden nächtliche Chats mit Love Scammern zu Junos kleiner Flucht aus dem Alltag, ebenso wie das Nachdenken über Sterne und planetare Katastrophen.

"Guten Morgen, wie geht es Dir?" von Martina Hefter ist für den Deutschen Buchpreis nominiert und hat sich ziemlich viel aufgeladen: Liebesversprechen und Lügen, Reflektionen übers Älterwerden und die etwas kühne Argumentation von afrikanischen Scammern als späte Rächer kolonialer Ausbeutung. Eine ordentliche Portion Ironie sorgt dafür, dass es nicht zu depressiv wird.

Juno ist kein Opfer von Liebesbetrug, ihr ist nur zu bewusst, dass sich hinter den sonnengebräunten Männern mittleren Alters mit Segelyacht oder Swimming-Pool im Hintergrund junge afrikanische Männer verbergen, die das Vertrauen und die Liebe einsamer Europäerinnen gewinnen wollen, um sie dann umso mehr zu schröpfen. Juni dreht den Spieß um, erzählt den Männern allerlei Lügen, bis diese irgendwann einmal feststellen, dass sie gewaltig verschaukelt werden und sie ihrerseits blockieren.

Und dennoch: Als sie den jungen Nigerianer Benu kennenlernt und sein Fake-Profil schon bald enttarnt, ist nicht etwa Schluss, sondern die Gespräche dauern an, ja werden persönlicher. Einerseits merkt Juno, dass sie Benu mehr Wahrheiten über sich erzählen möchte, andererseits wartet sie nur, dass er sich ebenso als Scammer erweist wie alle anderen und mit einer Geschichte über eine kranke Mutter, einen plötzlichen Unfall oder sonstige Geldnot beginnt.

Letztendlich bleibt offen, was Juno eigentlich zu den Scammern zieht. Nur die einsamen Nachtstunden voller Schlaflosigkeit können es eigentlich nicht sein. Das Internet als Fluchtort in einer Realität zunehmend beschränkter Möglichkeiten? So originell ist das nun nicht. Und auch Benu bleibt ( no pun intended) blass, sowohl als Person als auch mit seinen Motiven, die für ihn finanziell uninteressanten Chats fortzusetzen. Immerhin mal ein anderer Ansatz zum Thema love scamming mit der Einsicht: Jeder lügt.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 18.09.2024

Dekoloniale Zeitreise

Antichristie
0

Mit "Identitty" hat Mithu Sanyal gezeigt, dass sie in Identitäts- und Diversitätsdebatten Humor hat und nach allen Seiten austeilen kann. Um Zugehörigkeit, Cancel Culture, Dekolonisierung der Literatur ...

Mit "Identitty" hat Mithu Sanyal gezeigt, dass sie in Identitäts- und Diversitätsdebatten Humor hat und nach allen Seiten austeilen kann. Um Zugehörigkeit, Cancel Culture, Dekolonisierung der Literatur und die Frage, was für wen sag- und zumutbar ist, geht es auch in "Anti-Christie", ihrem neuesten Buch, darüber aber auch um eine Zeitreise, Doktor Who, die tote Queen, Agatha Christie und die Frage, welches "Wir" gerade angesagt ist und wie inklusiv es ist.

Klingt nach ziemlich viel? Ist es auch, teilweise erschien mir das mit viele popkulturellen und literarischen Zitaten versehene Buch deshalb ein wenig überfrachtet, denn so klug und unterhaltsam es auch ist, entgleiten der Autorin doch mitunter die Erzählfäden und ich möchte rufen, bitte ein bißchen das Tempo drosseln, um nicht den Anschluss zu verpassen und damit sich die einzelnen Elemente setzen können!

Ich-Erzählerin Durga, Tochter einer deutschen Mutter und eines indischen Vaters, Drehbuchautorin um die 50, ist zu einem Autoren-Workshop in London. Es gilt, Agatha Christie zu dekolonisieren in einer neuen Fernsehserie. Hercule Poirot soll schwarz sein, und auch geht es um die Auseinandersetzung mit Christie, die nicht mehr dem Zeitgeist entspricht - war da nicht mal ein Buchtitel mit N-wort? Die Autor*innenrunde ist entsprechend divers aufgestellt, böse könnte man sagen: Hauptsache divers, wobei Durga immerhin eine Doppelfolge von Doktor Who verfasst hat. Kontrovers wird es auch, denn divers bedeutet schließlich ganz unterschiedliche "Wirs" wie Durga bald feststellen muss.

Vor dem Workshop formiert sich der Protest verunsicherter weißer Christie Fans. Wird jetzt auch noch die große alte Dame des britischen Kriminalromans für politisch unkorrekt erklärt, zensiert oder gar verbannt? Und das, wo gerade die Queen gestorben ist und die Briten Trauer tragen?

Das wäre eigentlich schon mal ordentlich Stoff für ein Buch, doch damit ist nicht genug: Durga fällt gewissermaßen durch die Zeit und landet im India House des frühen 20. Jahrhunderts, unter Studenten/Revolutionären, die nicht so ganz dem Gewaltlosigkeitsideal des von Durga verehrten Gandhi entsprechen, dafür aber um so mehr dem revolutionären Eifer, den Durgas vor kurzem verstorbene Mutter teilte. Das Verhältnis der beiden war schwierig. Durga hat es der Mutter nie wirklich verziehen, dass diese sich aus ihrem Leben und in den politischen Widerstand verabschiedete, als Durga gerade einmal 14 war.

Plötzlich findet sich Durga im Körper von Sanjeev, einem Studenten, der ihre Erinnerungen und ihr Ethos hat. Sich plötzlich als Mann wiederzufinden, ist allerdings ziemlich verwirrend, Durga steht vor der Herausforderung wieder in die Gegewart zu Mann und Sohn zurückzufinden und in der Zwischenzeit möglichst nicht die Geschichte zu verändern. Man kennt das ja aus Science Fiction - die Vergangenheit zu verändern, könnte Zeitreisenden die Rückkehr unmöglich machen...

Zugleich ist die Reise in die Vergangenheit eine Reise zu Durgas kulturellen Wurzeln, die, was die indische Seite angeht, ziemlich brachliegen. Sie ist wütend, dass ihr Vater ihr nie Bengali beigebracht hat, plötzlich ist sie in einem hochpolitisierten indischen Mikrokosmos in London, erlebt koloniale Unterdrückung, findet sich in politischen Debatten wieder, über die sie bisher nur gelesen hat.

Auch auf knapp 550 Buchseiten ist das ganz schön viel Stoff. Wäre weniger mehr gewesen? Vielleicht. Aber andererseits ist diese Mischung ausgesprochen reizvoll. Ein paar Logiklöcher hat die Geschichte und lässt ein paar Fragen offen, bietet aber auch viel zum Nachdenken. Lesenswert.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere