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Veröffentlicht am 16.12.2024

Ein zärtliches literarisches Denkmal

Luzia
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Für die einen – die Großen, die Erwachsenen – ist es eine trostlose Welt, dieses Nachkriegswien. Eine Welt der Armut und Hoffnungslosigkeit. Eine Welt der ungewissen Zukunft. Doch für die achtjährige Luzia ...

Für die einen – die Großen, die Erwachsenen – ist es eine trostlose Welt, dieses Nachkriegswien. Eine Welt der Armut und Hoffnungslosigkeit. Eine Welt der ungewissen Zukunft. Doch für die achtjährige Luzia hält diese Welt so manches kleine Wunder bereit. Als Pflegekind der undurchsichtigen Frau Tóth, die regelmäßig von Frauen aufgesucht wird, um ihnen aus gewissen Schwierigkeiten zu helfen, ist sie wahrlich nicht auf Rosen gebettet. Doch das kleine Mädchen entdeckt kleine, zarte Lichtblicke, wo andere nur Finsternis sehen. Da ist ihr Onkel Leo, der so lieb und so fröhlich ist und sie hin und wieder besucht. Frau Tóths Untermieter Liszt, der Luzia gelegentlich mit ins Wirtshaus nimmt. Und ihre Mutter, die gewiss eine feine Dame sein muss, wohnt sie doch im Weißen Rössl.

Luzias überschaubarer Kosmos bricht jäh in sich zusammen, als sie in die „Bucklige Welt“ geschickt wird, um sich als Dienstkind bei Bauern zu verdingen. Gleichzeitig eröffnet sich dem Kind dort die Chance, mehr über die eigene Herkunft zu erfahren – und damit über sich selbst.

„Luzia“ ist die berührende Geschichte einer Kindheit vor dem Hintergrund sozialer und politischer Umwälzungen. Mit leisen Tönen und behutsamer Poesie, dabei klar und bildhaft zugleich, beschwört Daniel Stögerer eine dem Untergang geweihte Welt herauf, die Raum lässt für einzelne Schicksale, allen voran das der kleinen Luzia, deren reales Vorbild die Urgroßmutter des Autors ist. Und vielleicht ist es das, was mich ganz besonders und ganz persönlich berührt hat, ähnelt Luzias Kindheit doch in einigen Punkten der meiner eigenen Großmutter. Für mich ist „Luzia“ mehr als ein Roman, es ist ein zartes, zärtliches literarisches Denkmal.

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Veröffentlicht am 27.10.2024

Ein intensives Leseerlebnis

Kleine Monster
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„Es tut mir leid, wenn du der Meinung bist, du hättest es schwer gehabt als Kind. Aber es gab immer ein Essen am Tisch, warme Sachen zum Anziehen und Spielzeug. Es ist euch nicht schlecht gegangen.“

Was ...

„Es tut mir leid, wenn du der Meinung bist, du hättest es schwer gehabt als Kind. Aber es gab immer ein Essen am Tisch, warme Sachen zum Anziehen und Spielzeug. Es ist euch nicht schlecht gegangen.“

Was genau macht eine glückliche Kindheit aus? Das ist nur eine der Fragen, die mir während der Lektüre von Jessica Linds „Kleine Monster“ durch den Kopf gingen. Genug zu essen, angemessene Kleidung, Spielzeug: Kein Zweifel, das gehört dazu – und ist keineswegs selbstverständlich. Und sonst?

Eine weitere Frage war: Wie sehr prägt die Erziehung, die wir erlebt haben, unsere Art zu erziehen? Werden wir, ob gewollt oder nicht, wie unsere Eltern? Und ist die Art unserer Eltern nicht immer präsent? Auch ex negativo, gerade wenn wir sie vermeiden wollen?

Und: Inwieweit kennen wir unser Kind, ja, können wir es überhaupt kennen?

Vor allem die letzte Frage treibt Protagonistin Pia um, seit sie und ihr Mann zur Klassenlehrerin ihres siebenjährigen Sohnes Lucas gebeten werden. Es habe einen „Vorfall“ gegeben, mit einem gleichaltrigen Mädchen. Pia kann und will es nicht glauben: Ihr Luca? Dieses liebe, zarte, sensible Kind? Unmöglich! Und doch schleichen sich langsam leise Zweifel in den mütterlichen Beschützerinstinkt. Ist Luca vielleicht doch nicht so unschuldig? Liegt da nicht etwas Lauerndes, Berechnendes in dem Blick aus großen Kinderaugen? Je zerrissener Pia sich fühlt, umso mehr erwachen Erinnerungen an ihre eigene Kindheit, an die Schwestern, die Mutter – und das, was damals geschah.
„Kleine Monster“ ist ein intensiver, zum Nachdenken anregender und gleichzeitig im besten Sinne unprätentiös erzählter Roman: bewegend und eindringlich, doch ohne Melodram.

„Ich sehe mein Kind vor mir, unverstellt und wahrhaftig. Er ist nicht perfekt. Er muss es nicht sein.“

Große Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 30.09.2024

Ein Highlight: inhaltlich, sprachlich, emotional

Hey guten Morgen, wie geht es dir?
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„Hey guten Morgen, wie geht es dir?“ – So oder so ähnlichen beginnen die DMs, die Juno fast täglich erhält. Die Absender heißen JimmyTaylor354, Phil Gibson 1973, Dr. Antonio Allessandro und sind ausnahmslos ...

„Hey guten Morgen, wie geht es dir?“ – So oder so ähnlichen beginnen die DMs, die Juno fast täglich erhält. Die Absender heißen JimmyTaylor354, Phil Gibson 1973, Dr. Antonio Allessandro und sind ausnahmslos attraktiv, erfolgreich, begehrenswert: Mal braungebrannt vor einer Yacht, mal mit Basecap und Dreitagebart. Mal ein General im Kadettenkostüm, mal ein Witwer, der in seiner Luxusküche Pancakes backt.

Natürlich weiß Juno, dass die Fotos genauso falsch sind wie die Accounts. Dass in Wahrheit irgendwelche jungen Männer am anderen Ende der Welt die kitschigen Nachrichten schreiben. Juno ist schließlich nicht blöd. Sie kann nur nicht schlafen …
Da kommen ihr die gefakten Galane gerade recht, helfen sie ihr doch unwissentlich dabei, die langen Nächte zu überstehen. Juno macht sich einen Spaß daraus, die Scammer zu scammen, ihnen die absurdesten Geschichten aufzutischen, sie so lange zu belügen, bis sie entnervt aufgeben, nicht mehr zurückschreiben, Juno blockieren.

Sie ist nicht so einsam wie die unzähligen Frauen, die auf solche Typen hereinfallen. Juno hat einen Beruf, den sie liebt, sie ist Tänzerin und Performancekünstlerin, tritt auch mit über fünfzig nach wie vor auf. Und sie hat Jupiter, der im Zimmer nebenan liegt, in seinem Pflegebett. Ihr Jupiter, der so klug ist und so hinfällig. Der immer häufiger Hilfe braucht bei alltäglichen Handgriffen. Das Geld ist knapp, die Wohnung nicht barrierefrei – aber es geht. Irgendwie.

Doch dann meldet sich Owen Wilson bei ihr, der natürlich nicht DER Owen Wilson ist, sondern Benu. Der in Nigeria lebt. Der Junos Geschichten ebenso durchschaut wie sie die seinen und trotzdem nicht lockerlässt. Und es entspinnt sich eine Verbindung, die so zart und zugeneigt ist, dass man sie beinahe für Freundschaft halten könnte …

„Hey guten Morgen …“ ist eines der berührendsten Bücher, die ich je gelesen habe, und schon jetzt eines meiner Lesehighlights – wenn nicht sogar DAS Highlight – dieses Jahres. Und mir fehlen tatsächlich die Worte, um zu beschreiben, wie sehr und auf wie vielen Ebenen der Roman mich erwischt hat: Da ist diese zarte Melancholie, die dennoch nie die Zuversicht und den Humor verliert. Die leise Poesie, die zugleich klar und leichtfüßig daherkommt. Figuren, die sich ihre Haltung allen Widrigkeiten zum Trotz bewahren. Und nicht zuletzt das kleine Glück, das manchmal als eine Schachtel Spekulatius daherkommt, weit vor dem Advent.

Ganz, ganz, GANZ große Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 27.06.2023

Die Architektur ist eine Frau

Das Haus am Meeresufer
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„An manchen Tagen rettete mich die Liebe, an anderen die Architektur.“

Paris in den Zwanzigerjahren. Als ihre Liebe zu der Chansonnière Damia zerbricht, ist es die Architektur, die der Interieurkünstlerin ...

„An manchen Tagen rettete mich die Liebe, an anderen die Architektur.“

Paris in den Zwanzigerjahren. Als ihre Liebe zu der Chansonnière Damia zerbricht, ist es die Architektur, die der Interieurkünstlerin Eileen Gray eine neue Lebensperspektive bietet. Die Architektur – und dann doch wieder die Liebe. Aus der anfangs behutsamen Freundschaft zu dem um etliche Jahre jüngeren Architekturkritiker Jean Badovici entwickelt sich erst eine tiefe Verbundenheit, die von gegenseitigem Respekt und wechselseitigem Lehren und Lernen geprägt ist, und schließlich, beinahe unvermeidlich: Liebe.
Während die Öffentlichkeit noch uneins ist, was sie von der ungewöhnlichen Formensprache Eileens halten soll – die einen rühmen sie als eigengeprägte und originelle Künstlerin, während die anderen sie als „Caligaris Tochter“ verhöhnen –, ist Jean von Eileens Talent beeindruckt und überzeugt. Er erkennt ihr Potenzial, ihre Originalität, ihr kompromisslos klares Design als das, was es ist: absolut einzigartig. Modern. Visionär.

„‚Zeig der Welt, was du kannst. Ich weiß schon jetzt, dass dein Haus außergewöhnlich werden wird, Eileen.‘
Es gehört uns beiden, Jean. Das Haus sind wir. Du und ich.‘“

Bestärkt durch Jeans unerschütterliches Vertrauen in ihr Können, wagt Eileen sich an ihr bislang größtes, letztlich bahnbrechendes Vorhaben: Sie baut ihm eine Villa an der französischen Riviera: E.1027, die „maison en bord de mer“, das Haus am Meeresufer. Doch wo außerordentliches Talent ist, sind Selbstsucht und Missgunst nicht fern. Erst recht, wenn die derart talentierte Person eine Frau ist, zudem eine, die in einem männlich dominierten, nach Aufmerksamkeit gierenden Metier „in leisen Farben denkt“. Wie soll, wie kann man in einer solchen Welt bestehen, wenn das Grelle und das Laute in die eigene Stille und Klarheit einbrechen, wenn die feine Grenze zwischen Bewunderung und Neid verwischt, ja verschwindet?

Joséphine Nicolas schafft es wie keine Zweite, Frauen, die in der kollektiven Wahrnehmung allenfalls eine untergeordnete Rolle spielen, aus der Dunkelheit des Vergessens zu befreien und ihnen eine eigene, unverwechselbare Stimme zu verleihen. Nach ihrem fulminanten Romandebüt „Tage mit Gatsby“, in dem sie Zelda Fitzgerald aus dem erdrückenden Schatten ihres berühmten Ehemannes Scott hat treten lassen (wer es noch nicht gelesen hat, dem sei die Lektüre an dieser Stelle wärmstens empfohlen!), widmet sie sich in ihrem neuen Roman der Avantgardistin Eileen Gray. Versiert und detailliert recherchiert, literarisch überzeugend und sprachlich betörend zeichnet die Autorin ein eindringliches Bild einer bewunderten und beneideten, gefeierten und unverstandenen, etwas spröden und gleichzeitig herzzerreißend feinsinnigen Frau, die den ästhetischen Konventionen ihrer Zeit ihr Ausnahmetalent und ihre visionäre Kraft entgegensetzte: das kongeniale Porträt einer (fast) vergessenen Ikone. Für mich ein Jahreshighlight, das ich von ganzem Herzen weiterempfehle!

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Veröffentlicht am 09.05.2023

Eine authentische und einfühlsame Zeitreise

Nur einmal mit den Vögeln ziehn
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Nur einmal mit den Vögeln ziehn – wer hätte in seiner Jugend nicht einmal daran gedacht? Der Enge des Elternhauses, des Wohnorts entfliehen, seinen Weg gehen, seinen Platz in der Welt finden …

Jens träumt ...

Nur einmal mit den Vögeln ziehn – wer hätte in seiner Jugend nicht einmal daran gedacht? Der Enge des Elternhauses, des Wohnorts entfliehen, seinen Weg gehen, seinen Platz in der Welt finden …

Jens träumt davon, Fußballprofi zu werden, Sivs Leidenschaft gehört der Musik. Anna Maria betrachtet, seit ihr Opa ihr als Neunjährige eine Kamera schenkte, die Welt am liebsten durch ein Objektiv. Aki wünscht sich ein behagliches Zuhause mit einer fürsorglichen Mutter, wohingegen Ivo schon früh erkannt hat, dass ein gutbürgerliches Elternhaus noch lange keine glückliche Kindheit verspricht: fünf junge Menschen, die 1977, als die Handlung einsetzt, noch Kinder sind und deren Leben wir bis 1990 begleiten. Die wachsen und sich entwickeln, Träume verfolgen und Sehnsüchte begraben. Und die soeben beginnen, sich in ihrem Erwachsensein einzurichten, als die Welt, wie sie sie kannten, ein jähes Ende findet – am 10. November 1989 …

Unter dem Pseudonym Sylvia Frank beschwört das Autorenpaar Sylvia Vandermeer und Frank Meierewert eine Vergangenheit herauf, die beinahe mit Händen zu greifen ist. Und das liegt nicht nur an den fünf außerordentlich lebendig gezeichneten Hauptfiguren des Romans (die ich während der Lektüre mehr und mehr ins Herz schloss), sondern auch an der gesellschaftlichen und geschichtlichen Realitätsnähe, die ebenso gekonnt wie feinfühlig den Hintergrund dieses Romans bildet. Dabei gelingt es ihnen auf bemerkenswerte Weise, alles Klischeehafte oder gar Plakative, sei es mit positiver, sei es mit negativer Konnotation, zu vermeiden: Weder wird in schönfärberischer Ostalgie geschwelgt, noch wird eine literarische Abrechnung mit historisch-politisch-gesellschaftlichen Gegebenheiten vollzogen. Stattdessen findet man sich als Leser*in in einer Vergangenheit wieder, die – nun ja: die war, wie sie nun einmal war.

Besondere Leseempfehlung!

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