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Veröffentlicht am 27.10.2024

Verlust und Ankommen als Coming of Age Story

Kein Ort für ein Zuhause
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In JJ Bolas "Kein Ort für ein Zuhause" steckt vermutlich ein ganzes Stück Autobiographie: Wie sein Protagonist Jean wurde er in Kinshasa geboren und wuchs in London auf. Der Originaltitel "No place to ...

In JJ Bolas "Kein Ort für ein Zuhause" steckt vermutlich ein ganzes Stück Autobiographie: Wie sein Protagonist Jean wurde er in Kinshasa geboren und wuchs in London auf. Der Originaltitel "No place to call home" drückt noch deutlicher die Verlorenheit der Familie aus, die versucht, sich mit unsicherem Rechtsstatus ein Zuhause aufzubauen und eine Identität in der Fremde zu finden.

Bola erzählt einerseits die Coming of Age Geschichte des 16-jährigen Jean, andererseits aber auch die Geschichte von dessen Eltern, die für das Band zur alten Heimat und der Verhältnisse dort stehen. Jean und seine jüngere Schwester Marie stehen für die Hoffnung auf eine bessere Zukunft: Der Vater, der in Belgien Medizin studierte, arbeitet zwei Jobs als Sicherheitsmann und Reinigungskraft, die Mutter, die einst ein gehobenes Lyzeum in Kinshasa besuchte, als Hilfskraft in der Cafeteria von Maries Schule. Die Kinder sollen lernen, Leistung zeigen, erfolgreich sein, sie sollen es schaffen im neuen Land.

Diesen Druck spüren viele Kinder aus Einwandererfamilien, die erst noch ankommen. Erst spät erfahren Jean und Marie, dass die Eltern nicht einfach nur Einwanderer sind. Sie sind Flüchtlinge, haben keine Pässe, leben in ständiger Angst vor Ausweisung und sind daher geradezu überangepasst vor Angst, (negativ) aufzufallen.

Einen genauen Hintergrund gibt Bola nicht, aber ich vermute, die Geschichte spielt während der Mobutu-Herrschaft, als die Demokratische Republik Kongo den Namen Zaire trug. Die Andeutungen von Plünderungen und Gewalt auf den Straßen, von den Zuständen in den Gefängnissen, von sexueller Gewalt sind in dem Land ja leider nicht auf eine Ära beschränkt.

Insofern steht die Familiengeschichte zugleich für die große Geschichte von Verlust und Ankommen, von der kleinen Heimat in der Diaspora, in diesem Fall eine kongolesische Kirchengemeinde. Während die Eltern die enge Verbindung zur alten Heimat spüren, erlebt Jean das Schweben zwischen zwei Welten - an der Schule hat er das Gefühl, sich als afrikanischer Junge doppelt beweisen zu müssen und besonders gesehen zu werden. Während seine Schwester und er vor allem für die Mutter aus dem Englischen übersetzen, schwindet seine Muttersprache Lingala immer mehr aus seinem Bewusstsein.

Bola schreibt ohne Sentimentalität oder übertriebene Gefühligkeit, vieles ist tragikomisch, überwiegend aus der Sicht Jeans geschildert, der die meiste Zeit vor allem ein ganz normaler Teenager sein möchte. Der Epilog bringt am deutlichsten zur Sprache, was die Existenz von Flüchtlingen von anderen Migranten und jenen unterscheidet, die nie ihr Zuhause unfreiwillig verlassen mussten: "Wenn du Glück hast, wird Zuhause für dich nie etwas sein, woran dich die Tränen deiner Mutter oder die vor Wut bebende Stimme deines Vaters erinnern.... Zuhause sollte dich niemals brechen, so dass du nie vollständig bist, wohin du auch gehst, eine Hälfte immer dort, wo du sie zurückgelassen hast, und die andere nicht willkommen, wohin du auch gehst. Du bist ein gespaltenes Pendel, beide Hälften in der Luft."

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Veröffentlicht am 06.10.2024

Letzte Stimmen

Israel, 7. Oktober
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Lee Yaron ist Journalistin der liberalen israelischen Zeitung "Haaretz", einer Zeitung, die schon seit jeher immer wieder auch über die israelischen Palästinenser und die Geschehnisse in Gaza und im Westjordanland ...

Lee Yaron ist Journalistin der liberalen israelischen Zeitung "Haaretz", einer Zeitung, die schon seit jeher immer wieder auch über die israelischen Palästinenser und die Geschehnisse in Gaza und im Westjordanland berichtete, die kritisch zum Siedlungsbau und der Regierung Netanjahu steht. In ihrem Buch „Israel, 7. Oktober“ erzählt sie von den letzten Stunden der Menschen, die bei den Anschlägen ums Leben kamen, von denen, die zwar überlebt haben, aber schwer traumatisiert sind von dem Erlebten und dem Tod von Freunden und Angehörigen.

Damit ist sie nicht alleine - in den vergangenen Monaten erschienen mehrere Bücher, in denen der Terrorangriff aufgearbeitet wurde, in denen auch Angehörige der Geiseln ihre Perspektive schilderten, etwa wie Ron Leshems "Feuer". Doch Yaron blickt über die "heimischen" Opfer hinaus, widmet sich auch denen, die in den Geschichten über den 7. Oktober seltener erwähnt werden. So berichtet sie nicht nur von Kibbuzbewohnern, sondern auch von betroffenen Beduinen in der Negev-Wüste, die weder über Schutzräume verfügten noch über Warnanlagen.

Yaron beschreibt auch das Leben nepalesischer Landwirtschaftsstudenten und thailändischer Arbeiter, die von einem besseren Leben träumten und in einem Konflikt starben, den sie ebenso wenig verstanden wie die Sprache der Menschen, für die sie Obst oder Salat ernteten. Damit wird auch ein Blick auf die marginalisierten Menschen in der israelischen Gesellschaft geworfen, die am 7. Oktober ebenso von Terror und Gewalt betroffen waren wie die jüdischen Israelis.

Abschriften von Messenger-Nachrichten, von Telefongesprächen aus Schutzräumen, beschossenen Fahrzeugen und Gebüsch lassen auch diejenigen zu Wort kommen, die wussten, dass sie den Tag wohl nicht überleben würden. Gerade diese letzten Worte und Stimmen lassen die Angst der angegriffenen Menschen ganz besonders intensiv wirken.

Zugleich unterscheidet Yaron, die auch auf die Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts eingeht, zwischen Hamas-Kämpfern und Zivilisten in Gaza, stellt Überlegungen an, ob und wann eine Versöhnung doch noch möglich ist und wirft einen kritischen Blick auf den Preis des andauernden Krieges. In der Tradition von oral history/reporting geschrieben, ist ihr Buch nachdenklich und voll nachklingender Trauer der Hinterbliebenen und Überlebenden.

Veröffentlicht am 21.08.2024

Killer jagen die lahmen Gäule des MI 5

Slough House
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Wenn Mick Herron seine "lahmen Gäule" in ein neues Rennen schickt, ist eines klar: spannende Unterhaltung gewürzt mit schwarzem britischen Humor und intriganten Politikern, die irgendwie sehr an tatsächlich ...

Wenn Mick Herron seine "lahmen Gäule" in ein neues Rennen schickt, ist eines klar: spannende Unterhaltung gewürzt mit schwarzem britischen Humor und intriganten Politikern, die irgendwie sehr an tatsächlich existierende Persönlichkeiten erinnern, ist garantiert. Und man sollte die einzelnen "slow Horses" besser nicht zu lieb gewinnen, denn schon in den vorangegangenen Bänden um die Parias des britischen Inlandgeheimdienstes MI5 war die Überlebensquote nicht so toll.

Niemand dürfe sich sicher fühlen, bestätigte Autor Herron denn auch im Interview. Vielleicht mit Ausnahme von Jackson Lamb, dem ständig missgelauntem Herrn des "Slough House" - soviel Zynismus, politische Unkorrektheit und reptilienartige Verschlagenheit ist schließlich schwer zu ersetzen. Wobei auch Diana Taverner, Oberintrigantin und endlich auch oberste Chefin beim MI 5, ihm in letzterem kaum nachsteht.

In "Slough House" werden treue Leser*innen allerdings ein paar Namen aus der Vergangenheit vorfinden. Auch wenn nicht alle von ihnen über ein paar Buchseiten hinaus erhalten bleiben. Denn wieder einmal sind die slow horses unfreiwillig Zielscheiben. Diesmal, weil nach der Ermordung eines russischen Spions durch eine gezielte Indiskretion dem russischen Geheimdienst suggeriert wird, es gäbe beim MI5 eine Einheit für das, was die Amerikaner wet ops nennen. Also ein Killerkommando. Und auf wen soll nicht mit dem Finger gezeigt werden wenn nicht auf die Agenten, die von ihren Kollegen im "Park" seit jeher für entbehrlich gehalten werden. Kurzum: die lahmen Gäule sollten besser galoppieren. Funktioniert der Überlebensinstinkt, der bei der angepeilten Geheimdienstkarriere leider versagt hat?

Herron überzeugt einmal mehr mit seinen Pechvögeln aus dem Slough House, die gegen alle Hoffnung und Erfahrung von ihrer Rehabilitation träumen. Und wie immer sorgen nicht zuletzt die Konfrontationen zwischen Lamb und Taverner für giftsprühende Dialoge. Wobei das ja auch eigentlich für die tagtägliche Kommunikation zwischen Lamb und seinem Team gilt. Auch wenn Herron irgendwann mal die Gäule ausgehen könnten hoffe ich auf weitere Abenteuer der slow horses!

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Veröffentlicht am 29.07.2024

Spuren der Wildnis

Karte der Wildnis
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Es gibt Bücher, die sind ebenso lehrreich wie unterhaltsam. Robert MacFarlane´s "Karte der Wildnis" gehört für mich auf jeden Fall dazu. Angetrieben von der Sehnsucht nach den letzten verbliebenen Gebieten ...

Es gibt Bücher, die sind ebenso lehrreich wie unterhaltsam. Robert MacFarlane´s "Karte der Wildnis" gehört für mich auf jeden Fall dazu. Angetrieben von der Sehnsucht nach den letzten verbliebenen Gebieten von Wildnis in einem von Industrialisierung und intensiver Landwirtschaft geprägten Großbritannien, macht er sich auf die Suche - in Mooren und Tälen, auf Bergen und and der Küste, von Wales über Schottland nach Irland.

Mac Farlane legt keinen Wert auf Bequemlichkeit, biwakiert auch bei Frosttemperaturen, Schneefall und Regensturm im Freien. Der Lohn dafür sind immer wieder Sternennächte ohne Lichtverschmutzung, Tierbeobachtungen, Stille und Momente voller Freude, aber auch Ängste und Respekt vor der Macht der Natur.

In seiner Karte der Wildnis, die im Gegensatz zum Autoatlas eher an die gesungenen Traumkarten indigener Völker erinnert, stellt sich MacFarlane ganz bewusst in die Tradition derjenigen, die an den beschriebenen Orten, aber auch überall auf der Welt im Laufe der Jahrhundert die Begegnung mit ursprünglicher Natur gesucht haben. So ist das Buch auch ein Nachdenken über Geschichte und Kultur, über die Mönche und Einsiedler, die bewusst solche Orte der Stille gesucht haben. Andere Landschaften sind von Entvölkerung durch Gewalt und Elend geprägt, etwa im schottischen Hochland oder im irischen Burren, in dem verlassene und verfallene Dörfer die verbliebenen Spuren der großen Hungersnot im 19. Jahrhundert sind.

MacFarlane beschreibt Begegnungen mit Förstern und Naturfreunden, zitiert Philosophen, Gelehrte, Naturforscher. Seine Begeisterung für die Natur ist ansteckend. Seine Erkenntnis, dass man manchmal gar nicht so weit und in so herausfordernde und unwirtliche Landschaften gehen muss, um zu beobachten, wie wilde Natur sich kleine Reservoire zurückerobert, ist eine Einladung, neugierig zu sein, genau hinzuschauen und zu staunen.

Veröffentlicht am 26.07.2024

Nachdenken über den Krieg

Fenster ohne Aussicht
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Als Schriftsteller ist Dror Mishani Autor von Kriminalromanen, sein Protagonist Avi Avraham ist ein eher nachdenklicher Inspektor. Als nachdenklich-reflektiert, nach einem Sinn im Chaos suchend zeigt sich ...

Als Schriftsteller ist Dror Mishani Autor von Kriminalromanen, sein Protagonist Avi Avraham ist ein eher nachdenklicher Inspektor. Als nachdenklich-reflektiert, nach einem Sinn im Chaos suchend zeigt sich auch Mishani in seinem Kriegstagebuch "Fenster ohne Aussicht", das sich mit dem Privaten und dem Öffentlichen seit dem 7. Oktober befasst.

Mishani wurde während eines Literaturtreffens in Frankreich von der Nachricht über die Anschläge überrascht. Die ganze Dimension des Terrors war ihm da noch nicht klar. Dann die immer hektischere Suche nach einem Flug zurück nach Tel Aviv, zur Frau und den beiden Kindern. Und die bange Frage: Wäre es vielleicht besser, die Familie nach Europa zu holen? War es ein Fehler, aus Bequemlichkeit und im Bewusstsein einer womöglich falschen Sicherheit nie den Versuch unternommen zu haben, den Kindern einen EU-Pass zu verschaffen?

Mishani weiß: Die Antwort auf Terror ist in Israel stets Härte. Und trotz des Schocks über die zunehmenden Berichte über die maßlose Brutalität und Grausamkeit des Angriffs denkt er auf dem Rückflug nicht über Rache nach, sondern über einen offenen Brief, in dem er zum Innehalten appellieren will: "nicht reingehen, nicht in Schutt und Asche legen, nicht zerstören, nicht vernichten, sondern trauern, Shiva sitzen, Wunden verbinden und verbinden lassen.Und dann nachdenken. Zuerst einmal nachdenken. Nachdenken nicht nur darüber, wie wir angreifen sollen oder den nächsten Angriff verhindern können, sondern darüber, wie wir hier mit unseren Nachbarn leben wollen, auch mit unseren derzeitigen Feinden - was nicht alle sind, das dürfen wir nie vergessen."

Mishani schreibt als Wissenschaftler und Lehrer, als Vater, dessen fast 16-jähriger Sohn in wenigen Jahren womöglich selbst in einer Kampfeinheit ist, als ehemaliger Rekrut im Westjordanland, der glaubte, seine Pflicht tun zu müssen und dann um Entlassung aus dem Militärdienst bat. Er beobachtet, wie der Krieg die Öffentlichkeit wie auch die eigene Familie spaltet: Seine Tochter verfolgt in Dauerschleife Horrorvideos und verweigert sich Mitgefühl für die Zivilbevölkerung in Gaza, der Sohn zieht sich unpolitische Schlupfwinkel zurück, Premier League und Computerspiele.

Wie mit den Kindern über den Krieg reden? Wie mit den verstummten Studenten im Kurs für literarisches Schreiben? "Aus der Sicht meiner Mutter ist die Teilhabe am Krieg durch das Anschauen von Videoaufnahmendes Massakers und den fortlaufenden Nachrichtenkonsum so etwas wie ein Initiationsritus im Israelisch-Sein für unbeschwerte Jungen und Mädchen, die gedacht haben, das Leben bestehe nur aus Katzenvideos auf TikTok oder Taylor Swift Songs", schreibt er nach einem Familien-Schabbatmahl in der frühen Zeit des Krieges.

Der Terror nimmt Mishani nicht die Fähigkeit, die Menschen auf der anderen Seite zu sehen, ihre Menschlichkeit und ihr Leiden. Er geht zu den Demonstrationen der Angehörigen der Geiseln, verfolgt das Hoffen und Bangen um die Freilassung, die Enttäuschung, dass ein Deal für alle Entführten weiterhin nicht in Sicht ist. Polemische oder nationale Töne sind diesem Tagebuch völlig fremd, es ist eine Absage an Fanatismus, aber auch Fatalismus. Nachdenklich, reflektiert, verstört weiß Mishani, es muss doch noch einen anderen Weg geben. Und auch für ihn als Schriftsteller wird das Schreiben nun anders. Kann er in der aktuellen Lage Avi Avraham noch zum Ermitteln schicken? Welche Bücher braucht es jetzt?

Nach allem, was über den Terror vom 7. Oktober bekannt ist, wäre Hass eine einfache Reaktion. Mishani macht es sich aber nicht so einfach. Sein Buch sollte gerade von denjenigen gelesen werden, die Israel derzeit pauschal verteufeln - es gibt nicht nur das Israel von Benjamin Netanjahu. Und auch in Israel wären ihm viele Leser zu wünschen. Allerdings: Das Buch wurde gar nicht erst für eine hebräische Ausgabe geschrieben, sondern für die deutschsprachige Diogenes-Ausgabe.