Cover-Bild Suche liebevollen Menschen
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30,00
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  • Verlag: Molden Verlag in Verlagsgruppe Styria GmbH & Co. KG
  • Themenbereich: Biografien, Literatur, Literaturwissenschaft - Biografien und Sachliteratur
  • Genre: Sachbücher / Geschichte
  • Seitenzahl: 308
  • Ersterscheinung: 19.09.2024
  • ISBN: 9783222151316
Julian Borger

Suche liebevollen Menschen

Mein Vater, sieben Kinder, und ihre Flucht vor dem Holocaust
Hainer Kober (Übersetzer)

Wien, 1938. Verzweifelt versuchen jüdische Eltern, ihre Kinder vor den Nazis in Sicherheit zu bringen. In ihrer Not schalten sie Kleinanzeigen im »Manchester Guardian«, in denen sie ihre eigenen Kinder ausschreiben, um ihnen ein Überleben in der Fremde zu sichern – obwohl sie wissen, dass sie sich nie wiedersehen werden. Jahrzehnte später stößt der Journalist Julian Borger auf eine dieser Anzeigen und erkennt den Namen eines der Kinder: Robert Borger. Sein Vater. Es ist der Beginn einer Recherche, die Julian Borger mitten hinein führt in ein dunkles Familiengeheimnis. Und Anlass für ihn ist, die Spuren von sieben weiteren Kindern zu verfolgen, deren Schicksalsreise von Wien aus ins Exil nach Shanghai, in die Arme von niederländischen Schmugglern, an die Seite französischer Widerstandskämpfer – oder ins KZ Auschwitz führte.

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Lesejury-Facts

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 05.10.2024

Bleibt wachsam - gegen das Vergessen !

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Vorweggenommen : Das Buch ist erschütternd, emotional, auf Tatsachen beruhend und absolut lesenswert.
Denn diese Geschichten müssen erzählt werden, gerade jetzt, wo es nur noch wenige Zeitzeugen gibt, ...

Vorweggenommen : Das Buch ist erschütternd, emotional, auf Tatsachen beruhend und absolut lesenswert.
Denn diese Geschichten müssen erzählt werden, gerade jetzt, wo es nur noch wenige Zeitzeugen gibt, die die Verbrechen der Nazidiktatur überlebt haben.
Der Wiener Molden Verlag hat in der feinfühligen Übersetzung aus dem Englischen von Hainer Kober die umfangreichen und mitreissend erzählten Recherchen des 1961 in London geborenen Journalisten Julian Borger herausgebracht.
Erzählt wird in zwölf Kapiteln die Geschichte seines Vaters und weiterer sieben Kinder auf der Flucht vor dem Holocaust.
Diese verbürgten Einzelschicksale stehen exemplarisch für das unermessliche Leid jüdischer Kinder und ihrer Eltern auf der Flucht vor den Nazis in eine ungewisse Zukunft, sie haben im hochwertig gestalteten Buch auch durch Abbildungen ein Gesicht.
Es ist eine Mischung aus Verzweiflung und Weitsichtigkeit, wenn jüdische Eltern aus Wien im Sommer 1938 Kleinanzeigen im >>Manchester Guardian<< schalten, um ihre Kinder vor den Nazis zu retten.
Mögen sich alle Eltern gegenwärtig einmal vorstellen, ihr heranwachsendes, sich mitten in der Entwicklung befindliches und verletzliches 11-jähriges Kind in ein fremdes Land zu fremden Menschen zu verschicken, der Sprache nicht mächtig, die Kommunikation abgeschnitten.
Welche Qualen für beide Seiten - und natürlich ging es auch nicht immer gut, manche Kinder wurden aufgenommen und als zusätzliche Haushaltshilfen vereinnahmt.
Aber sie lebten - zumeist im Gegensatz zu ihren Eltern, denen eine solche Flucht oftmals verwehrt blieb, spätestens nach dem 1. September 1939, als Hitler die Wehrmacht in Polen einmarschieren ließ und Großbritannien Nazideutschland den Krieg erklärte.
Und musste eine Rettung der Kinder ins Ausland überhaupt sein ? Waren die Gräuel der Naziherrschaft voraussehbar oder war die Hoffnung grösser, es sei nur ein vorübergehendes Phänomen, eine Hoffnung, wie es an einer Stelle des Buches heisst, die aus dem tief verwurzelten Glauben an Recht und Unrecht und an Normalität erwuchs ?
Der Ursprungsinstinkt aller Eltern ist es ja, in Zeiten der Gefahr ihre Söhne und Töchter in ihrer Nähe zu behalten.
Es musste sich die bittere Erkenntnis durchsetzen, dass die Eltern nicht mehr in der Lage sein würden, ihre Familien zu beschützen.
Fassungslos wissen wir heute, was damals geschah - und ebenso fassungslos blicken wir in die Gegenwart, wo sich Rechtsextremismus in Deutschland, Österreich, Italien oder Frankreich wieder einnistet.
Die Kinder, wenn denn die achtzig im Manchester Guardian geschalteten Annoncen erfolgreich waren, trafen aber auch auf liebevolle englische >>Ersatzeltern<<, die den Wunsch hatten, den Kindern und Jugendlichen in ihrer Not zu helfen, zuweilen aber eben auch unfähig schienen, wahres Mitgefühl oder Verständnis für ihre Leiden aufzubringen, und sei es deshalb, weil sie anderen Glaubens waren oder unten der Last der Trennung nicht fröhlich genug auftraten.
Denn auch dies gehörte dazu - kaum waren die Kinder in Sicherheit, suchten sie nach einer Möglichkeit, ihre eigenen Eltern zu retten - was für eine belastende Aufgabe.
Durch die Vielzahl der im Buch aufgeführten Schicksale gelingt es Borger, ein breites Spektrum des tödlich praktizierten Antisemitismus aufzuzeigen und zugleich aufzudecken, wie unbehelligt die Täter oftmals blieben, so zum Beispiel SS-Obersturmführer Albert Gemecker, der von 1942 bis 1945 den Transport von achtzigtausend Juden in Konzentrationslager organisierte und später behauptete, er habe keine Ahnung gehabt, was an ihren Bestimmungsorten mit ihnen geschah.
Nach einer sechsjährigen Freiheitsstrafe in den Niederlanden lebte er bis zu seinem Tode 1982 unbehelligt in Deutschland.
Und es wird über Auschwitz berichtet, wo anlässlich einer Inspektion des Roten Kreuzes 1944 eine oberflächliche Normalität inszeniert wurde, nachdem man 7.500 Häftlinge in Todeslager deportiert worden waren, um die Eindruck einer Überbelegung zu vermeiden. Doch all jene, die verzweifelt als Mitwirkende in einem Propagandafilm der Nazis glaubten, so dem Tode angehen zu können, wurden dennoch in Auschwitz ermordet. Fünfzehntausend Kinder wurden durch Theresienstadt geschleust, nur eines von zehn überlebte.
Die Mehrzahl der inserierten Kinder des Guardian hingegen überlebten, ihre Eltern jedoch wurden häufig deportiert und ermordet.
Mit dieser Last mussten die Kinder fertigwerden : das Gewicht des Verlustes und die Schuld des Überlebens.
Die Vergangenheit drohte sie zu vereinnahmen, wenn sie sich zu intensiv mit ihr beschäftigten. Doch auch die Verdrängung der erlittenen Traumen birgt eine Gefahr, die im Falle des Vaters des Autors zum Suizid 1983 führte.
Borger schildert auch die Täter-Opfer-Umkehr in Österreich, ehemalige Wehrmachtssoldaten wurden als vorrangige Opfer betrachtet, deren Interessen durch Kriegsteilnehmerverbände aggressiv vertreten wurden, mehr als ein Hohn für die Opfer und Überlebenden des Holocaust und des NS-Terrors.
Geschichte wiederholt sich - Progrome von Odessa 1906, Novemberpogrome in Deutschland 1938, die Angriffe auf Israel ...
So bleibt dem Buch eine Vielzahl von Lesern zu wünschen, hoffentlich auch als Bestandteil des Geschichtsunterrichts für junge Menschen, unter denen sich schon viel zu sehr rechtsradikale Ideologien manifestierten, die das Einfallstor für weitere Verbrechen längst bereitet haben.

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Veröffentlicht am 02.10.2024

Das Schicksal jüdischer Wiener Kinder nach dem "Anschluss"

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Bereits die Lektüre der 21-seitigen Leseprobe von Julian Borgers Sachbuch "Suche liebevollen Menschen - Mein Vater, sieben Kinder und ihre Flucht vor dem Holocaust" (Originaltitel "I Seek a Kind Person: ...

Bereits die Lektüre der 21-seitigen Leseprobe von Julian Borgers Sachbuch "Suche liebevollen Menschen - Mein Vater, sieben Kinder und ihre Flucht vor dem Holocaust" (Originaltitel "I Seek a Kind Person: My Father, Seven Children and the Adverts that Helped Them Escape the Holocaust") weckte auf Anhieb mein Interesse.
Und das am 23. 09. 2024 unter der ISBN 978-3-222-15131-6 im Molden Verlag in der Verlagsgruppe Styria GmbH & Co. KG erschienene 308 Seiten umfassende Buch enttäuschte mich denn auch nicht.
Es wurde von Hainer Kober aus der englischen in die deutsche Sprache übersetzt und ist mit einem zum Inhalt passenden Cover versehen.
Auch im Buch selbst gibt es etliche Abbildungen und Fotografien.

Erzählt wird die auf Tatsachen basierende Geschichte verzweifelter Wiener Elternpaare jüdischen Glaubens, die nach dem "Anschluss" Österreichs an das "Dritte Reich" im Jahr 1938 durch Anzeigen in der englischen Zeitung "Manchester Guardian" versuchten, ihre Kinder vor dem Holocaust zu retten.
Nach dem Inhaltsverzeichnis werden zunächst die Mitglieder der Familie Borger vorgestellt. Ihr Sohn Robert ("Bobby") zählte zu den Kindern. Dessen Sohn, ein britischer Journalist, ist der Autor dieses Buches. Er stieß in der Gegenwart auf die alten Annoncen und fand darin den Namen seines Vaters.
Die Recherchen über das Schicksal der Kinder zu lesen war sehr ergreifend.
Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 21.12.2024

Wichtiger Beitrag #gegendasvergessen

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In diesem Buch erfahren wir mehr über eine etwas andere Art der Kinderverschickung in den 1930iger Jahren. Vielen von euch, die sich mit der Zeit des Zweiten Weltkrieges beschäftigen und auch darüber lesen, ...

In diesem Buch erfahren wir mehr über eine etwas andere Art der Kinderverschickung in den 1930iger Jahren. Vielen von euch, die sich mit der Zeit des Zweiten Weltkrieges beschäftigen und auch darüber lesen, wissen Bescheid über die ersten Kinderverschickungen nach Großbritannien.

Doch schon zuvor waren einige jüdische Eltern klug und haben, wie die Großeltern von Journalist Julian Borger, im "Manchester Guardian" Kleinanzeigen geschaltet. Sie suchten nach Menschen, die ihre Kinder aufnehmen, um sie vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Sicherheit zu bringen. Obwohl sie ahnten, dass sie ihre Kinder eventuell nie mehr wiedersehen würden...

Ein kleiner Teil dieser Kleinanzeigen wurde auch für den Titel des Buches ausgewählt ("Seek a kind person, who will educate my intelligent Boy, aged 11, Viennese of good family. Borger 5/12 Hintzerstrasse, Vienna 3)
Im Jahre 1938 hat sein Großvater Leo genau diesen Text für seinen Sohn Robert Borger gewählt. Nach dem Tod seines Vaters Robert 1983 hat sich Journalist Julian Borger auf die Spurensuche betreffend seiner Familiengeschichte begeben. Niemand in der Familie wusste über seine Zeit als jüdisches Kind in Wien und sein Leben nach der Ankunft in Großbritannien. Julian Borger recherchierte akribisch. Dabei erfuhr er auch über dieses Inserat seines Großvaters und beginnt nachzuforschen. Im Verlauf seiner Recherche versuchte er mehr über die Schicksale der weiteren sechs Kinder herauszufinden, die am selben Tag in den Kleininseraten im "Manchester Guardian" ausgeschrieben wurden. Dies war alles andere als einfach und hat gedauert. Borger hat nach den Nachkommen der damaligen Kinder gesucht und versucht Kontakt aufzunehmen.
Was alle damaligen Kinder ihr ganzes Leben lang "verfolgte", war die "Schuld des Überlebens". Gleichzeitig fühlten sie sich auch unwürdig gegenüber Überlebenden aus den Konzentrationslagern, weil sie relativ sicher den Holocaust überlebt haben. Diese Traumata führten auch zum Selbstmord von Borgers Vater.

Was mir doch einige Schwierigkeiten bereitet hat, waren Julian Borgers oftmalige Wechsel von Personen und Zeit. Oft schwenkt der Autor mitten in seiner Erzählung von einer Person zu einer anderen und streut Fakten aus deren Leben ein. Das verwirrt zusätzlich, nachdem die Erzählungen auch zeitlich nicht chronologisch sind. Man benötigt deshalb hohe Konzentration und trotzdem sind mir oftmals die Schicksale mancher Menschen durcheinander gekommen. Trotz der wirklich akribischen Recherche und den berührenden Schicksalen, konnte ich deswegen manches Mal keine wirkliche Beziehung zu einigen der Figuren herstellen. Diese abrupten Wechsel und sich ins uferlose Verlieren, nimmt der biografischen Erzählung etwas an Tiefe. Das hätte vermieden werden können. Trotzdem sind die Erzählungen berührend. Man möchte sich gar nicht vorstellen, dass man seine eigenen Kinder alleine auf den Weg in ein fremdes Land schickt, deren Sprache sie nicht sprechen und sich einer ungewissen Zukunft entgegen sehen. Ich möchte nicht in dieser Haut der Eltern stecken, die sich entscheiden müssen....einfach grausam und auch heute noch genauso ein Thema!

Zwischen den einzelnen Kapiteln "lockern" schwarz-weiß Bilder der beschrieben Personen, die doch oftmals sehr emotionalen Schilderungen, auf.

Obwohl es sich bei seiner Erzählung nicht um eines der sechs Kinder handelt, die damals in den Kleinanzeigen vorkamen, hat mich die Geschichte um Borgers Großtante Marci und deren Schicksal fast am meisten berührt.


Fazit:
Dieses Buch ist sowohl eine Familienbiografie, als auch eine Art Enthüllungsstory. Auf jeden Fall aber ein wichtiger Beitrag zum Thema #gegendasvergessen - besonders in der heutigen Zeit, in der die Zeitzeugen von damals verstorben sind und der Rassismus eine neue Hochsaison erlebt.

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Veröffentlicht am 28.10.2024

Schicksalhafte Zeiten

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Der Autor Julian Borger ist Leiter des Außenpolitik-Ressorts der britischen Tageszeitung »The Guardian« in Washington und hat jüdische Wiener Wurzeln. Bei seinen Recherchen, stößt er im Jahr 2021 durch ...

Der Autor Julian Borger ist Leiter des Außenpolitik-Ressorts der britischen Tageszeitung »The Guardian« in Washington und hat jüdische Wiener Wurzeln. Bei seinen Recherchen, stößt er im Jahr 2021 durch Zufall auf eine Kleinanzeige, mit der seine Wiener Großeltern das Leben seines Vaters zu retten suchten.

Inhalt:
Wien, 1938. Verzweifelt versuchen jüdische Eltern, ihre Kinder vor den Nazis in Sicherheit zu bringen. In ihrer Not schalten sie Kleinanzeigen im »Manchester Guardian«, in denen sie ihre eigenen Kinder ausschreiben, um ihnen ein Überleben in der Fremde zu sichern – obwohl sie wissen, dass sie sich nie wiedersehen werden. Jahrzehnte später stößt der Journalist Julian Borger auf eine dieser Anzeigen und erkennt den Namen eines der Kinder: Robert Borger. Sein Vater. Es ist der Beginn einer Recherche, die Julian Borger mitten hinein führt in ein dunkles Familiengeheimnis. Und Anlass für ihn ist, die Spuren von sieben weiteren Kindern zu verfolgen, deren Schicksalsreise von Wien aus ins Exil nach Shanghai, in die Arme von niederländischen Schmugglern, an die Seite französischer Widerstandskämpfer – oder ins KZ Auschwitz führte.

Meine Meinung:
In seinem persönlichsten Buch erzählt der Autor Julian Borger, wie es seinem Vater Robert „Bobby“ Borger Anfang 1939 nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich und nach den Pogromen vom 9. November 1938 die Flucht nach Wales, gelang.

Traurig zu lesen, dass Eltern überhaupt gezwungen waren zu versuchen, ihren Kinder per Kleinanzeigen das Leben zu retten.

Robert Borger war offenbar traumatisiert und verdrängte alles, was seiner eigenen Familie, die viele Opfer zu beklagen hatte, widerfahren war. Über die Umstände der Flucht und das Leben danach wurde in der Familie nicht gesprochen und alles hüllte sich in Schweigen.
Im Jahr 1983 nahm sich Julians Vater Robert, das Leben. Julian war gerade erst 22 Jahre alt und konnte den Suizid seines Vaters, nicht verstehen.
Erst Jahrzehnte später erfährt Julian Borger, von der Flucht seines Vaters aus Wien und beginnt mit seinen Recherchen wobei er auf eine Kleinanzeige stößt und den Namen seines Vaters erkennt. Es ist der Beginn einer Recherche, die Julian Borger mitten hinein führt in ein dunkles Familiengeheimnis und in das Schicksal vieler Kinder, die hinter den von ihm gefundenen Kleinanzeigen stecken.

Besonders beeindruckt hat mich das Schicksal von Leo, Roberts Vater und Julians Großvater. Genauso das harte Leben und Schicksal von Malvine Schickler genannt „Malci“, geborene Borger, Roberts Tante und Julians Großtante.
Über das Leben und Schicksal von Robert „Bobby“ Borger, hätte ich gerne etwas mehr gelesen.

Fazit:
Die Schicksale sind zwar berührend und gut recherchiert ausgearbeitet, verlangen aber beim Lesen eine hohe Konzentration, da die vielen Erzählungen und Handlungen, nicht chronologisch dargestellt sind. Oft ergreift der Autor mitten in einer Erzählung plötzlich nach einer Person aus der Borger Familie und streut Fakten, aus deren Leben ein, die dann mehr als Verwirrung stiften.
Von mir 4 von 5 Sternen!

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Veröffentlicht am 14.10.2024

Dem Vergessen entrissen

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Julian Borger, Vollblutjournalist und auf der ganzen Welt zu Hause, geboren Anfang der 1960er Jahre in England als Sohn eines jüdischen Wiener Emigranten und einer britischen Mutter, beginnt 20 Jahre nach ...

Julian Borger, Vollblutjournalist und auf der ganzen Welt zu Hause, geboren Anfang der 1960er Jahre in England als Sohn eines jüdischen Wiener Emigranten und einer britischen Mutter, beginnt 20 Jahre nach dem Freitod des Vaters dessen Geschichte und die Familiengeschichte zu recherchieren. Dass es bis 2020 dauerte, ehe er damit überhaupt begann, hatte viele Gründe: das Schweigen in der Familie, das viele dieser Generation kennen und erst spät aufbrechen wollen oder müssen, die Arbeit, die Schnelllebigkeit der heutigen Zeit, immer war etwas anderes wichtiger. Dann fiel ihm die Anzeige wieder in die Hände, um die er sich schon lange kümmern wollte „Seek a kind person who will educate my intelligent Boy, aged 11, Viennese of good family, Borger, … Vienna 3“. Sie war im Manchester Guardian am 3. August 1938 veröffentlicht worden. Der intelligente Junge, der in der Anzeige beschrieben wird, war sein Vater Robert. In der gleichen Zeitungsspalte wird für vier weitere Kinder ein „Ausbildungsplatz“ gesucht. Julian Borgers Interesse ist plötzlich geweckt, er beginnt zu suchen und findet zuerst Material für einen umfangreichen Zeitungsartikel, der dann den Grundstock für dieses Buch bildet.
Was aber hatte es auf sich mit diesen Anzeigen? Sie erschienen nach dem sogenannten Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938. Offiziell wurde die Bevölkerung am 10. April des gleichen Jahres zur Abstimmung aufgefordert, mehr als 99 Prozent der Österreicher und Deutschen stimmt mit Ja für den Anschluss. Aber bereits nach dem Einmarsch der Truppen begann wie aus heiterem Himmel die Verfolgung und Entrechtung der Juden. Im Gegensatz zum „Alt-Reich“, wo bereits seit der Machtergreifung Hitlers im Januar 1933 die Juden Schritt für Schritt entrechtet und verfolgt wurden, geschah das in Österreich sozusagen über Nacht. Besonders drastisch sind die Bedingungen zuerst in Wien, wo der Großteil der jüdischen Österreicher lebt. Es beginnt eine unbeschreibliche Hetzjagd, der sich die Juden auf unterschiedlichste Weise zu entziehen suchen. Panikartiges Verlassen des Landes, Verstecken, oder der Weg durch die bürokratischen Instanzen, um legal das Land zu verlassen. Egal, was sie tun, sie werden enteignet, alles wird ihnen genommen, konfisziert oder zerstört. Viele werden verhaftet und gefoltert oder ins nahe KZ Dachau gebracht. In diesem Tumult sind es vorausschauende Eltern wie die Borgers, die zuerst versuchen, ihr Kind zu schützen und zu retten. Erst später im Jahr 1938 werden die organisierten Kindertransporte nach England beginnen. Die private Übersiedlung von Kindern ohne ihre Eltern kurz nach dem Anschluss kam im Kleinen der Aktion der Kindertransporte nach England zuvor. Die große Tragik beider Aktionen war, dass weder die Eltern noch die Kinder ahnten, welche Pläne schon wenige Jahre später von den Nazis in die Tat umgesetzt werden würden. Nicht selten war der Abschied am Wiener Westbahnhof ein Abschied für immer.
Julian Borger beschränkt sich aber in seinen Recherchen rund um den Erdball nicht auf die Lebensgeschichte seines Vaters, er sucht auch nach den anderen Kindern, die auf diese Weise vor dem sicheren Tod bewahrt wurden. So entstehen mehrere Porträts von jüdischen Familien mit ihren unterschiedlichen Schicksalen, immer im Fokus die geretteten Kinder.
Überlebende und deren Nachkommen eint oftmals das Schweigen und Verdrängen des Erlebten, manche Holocaustüberlebenden wollen die junge Generation nicht mit den schrecklichen Erlebnissen belasten, andere überleben nur, weil sie erfolgreich verdrängen, was geschehen ist. Daran zu denken oder gar darüber zu sprechen, verbieten sie sich, es ist ein Schutzmechanismus, der immer wieder berichtet wird. Für Julian Borgers Vater war dieser Schutzmechanismus offensichtlich nicht stark genug, er schied über 40 Jahre nach der Flucht nach England aus dem Leben. Und hinterließ vollkommen ratlose Kinder. Für Julian Borger eine schwere Last, an der er bis heute trägt. Immer wieder wird er sich die Frage stellen, warum er mit seinem Vater nicht über all das sprechen konnte. Mit dem vorliegenden Buch schreibt er sich diese Last etwas von der Seele, indem er endlich erfährt und begreift, was in seinem Vater und all den anderen Kindern, die gerettet wurden, vorgegangen sein muss. Entschuldigung, es folgt ein Spoiler: Eines ist wirklich wunderbar in diesem Buch, Julian wird eines der geretteten Kinder tatsächlich noch lebend und bei wachem Verstand und guter Gesundheit interviewen können.
Julian Borger macht es dem Leser nicht ganz leicht, er konfrontiert mit vielen verschiedenen Familiengeschichten und sehr vielen Namen und Ereignissen. Dass auch geschichtliche Exkurse eingestreut sind, empfinde ich als bereichernd, obwohl mir vieles bekannt war. Aber ich denke, Leser, die mit der Materie von Holocaust, Nationalsozialismus, Emigration nicht so bewandert sind, finden hier gute Erklärungen und Grundlagen.
Beim Epilog musste ich schmunzeln, als Julian Borger auf dem Wiener Friedhof in der Stille der verwahrlosten jüdischen Gräber ein Reh sieht. Genau das Gleiche erlebte Shelly Kupferberg in ihrem Buch „Isidor“, das ich in diesem Zusammenhang interessierten Lesern als zusätzliche Holocaust-und-Wien-Lektüre sehr empfehlen kann. Auch das Buch „Café Schindler“ von Meriel Schindler befasst sich mit der Vertreibung einer Wiener jüdischen Familie und mit dem Verlust des eigenen Geschäfts, ähnlich wie es die Borgers mit ihrem Radiogeschäft erlebten.
Aber bisher gab es wahrscheinlich kein einziges Buch, dass die Geschichte der privaten Rettung von jüdischen Kindern über Zeitungsanzeigen beschrieben hat. Ich kenne jedenfalls keines. Schon das allein ist für mich die große Überraschung dieses Buches. Mich haben die einzelnen Geschichten sehr berührt, gerade weil auch ich Nachkomme eines Holocaustopfers und dessen Tochter, einer Überlebenden, bin. Ich beschäftige mit seit Jahren mit der Thematik und bin doch immer wieder erstaunt, wie vielfältig und unterschiedlich die Schicksale einzelner Menschen sind, die am Ende doch ein großes Ganzes bilden, immer mit der Hoffnung „Nie wieder“.
Ins Buch haben sich einige Flüchtigkeitsfehler eingeschlichen, bei einer nächsten Auflage werden sie wohl verschwunden sein und z. B. der Wienerwald heißt dann auch wieder so. Bedauert habe ich, dass das Buch nicht auch als E-Book erschienen ist. Wen es interessiert: Die englische Originalausgabe ist auch als E-Book erhältlich.UPDATE: Am 18.11.2024 wird auch das deutschsprachige E-Book erhältlich sein.
Fazit: Ein starkes und tragisches Buch, gut lesbar, nahe an den beschriebenen Menschen. Jedes einzelne Schicksal könnte einen Roman füllen. Eindeutig eine Leseempfehlung. Gute vier Sterne.

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