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Veröffentlicht am 22.11.2017

Er.Ich.Wir

The Ending - Du wirst dich fürchten. Und du wirst nicht wissen, warum
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In Iain Reids Debütthriller mit dem schönen deutschen Titel “The Ending“, bei dem die Mehrdeutigkeit des Originaltitels “I´m Thinking of Ending Things“ verloren geht, ist ein Paar in einer dünn besiedelten ...

In Iain Reids Debütthriller mit dem schönen deutschen Titel “The Ending“, bei dem die Mehrdeutigkeit des Originaltitels “I´m Thinking of Ending Things“ verloren geht, ist ein Paar in einer dünn besiedelten Gegend Kanadas im Auto unterwegs zu der Farm der Eltern des Mannes. Obwohl Jake und die junge Frau erst wenige Wochen zusammen sind, will er sie seinen Eltern vorstellen. Die namenlose Ich-Erzählerin fühlt sich zwar sehr zu Jake hingezogen, äußert aber gleichzeitig immer wieder Zweifel an der Beziehung. Schon der erste Satz – “Ich trage mich mit dem Gedanken, Schluss zu machen“ - stimmt den Leser auf die Geschichte ein. Jake und seine Freundin sprechen über eine Menge Dinge, aber sie geben kaum etwas von sich preis. Die junge Frau erzählt nicht, dass ein Stalker sie mit einer Vielzahl von Anrufen belästigt und ängstigt, und Jake scheint ebenfalls Geheimnisse zu haben. Der Leser empfindet die Atmosphäre zunehmend als unheimlich und bedrohlich. Dieses Gefühl verstärkt sich noch, als sie auf der heruntergekommenen Farm eintreffen und Jakes Eltern begegnen. Diese verhalten sich seltsam, so dass es nicht verwunderlich ist, dass Jake und seine Freundin sich trotz der widrigen Wetterverhältnisse noch am selben Abend auf den Heimweg machen. Während der Rückfahrt im Schneesturm treffen sie einige schwer nachvollziehbare Entscheidungen und landen schließlich in einer alten High School mitten in der Einöde. Hier kommt es zum Höhe- und Wendepunkt der Geschichte, den der Leser inzwischen gespannt erwartet. Das Geschehen ist mittlerweile unscharf und irreal wie ein Traum, die Auflösung überraschend, auch wenn die zwischen den Abschnitten eingeschobenen kursiv gedruckten Gespräche zweier Unbekannter den Leser darauf vorbereiten, dass etwas Schlimmes passieren wird. Es wird einen Toten geben, aber was hat diese Leiche mit Jake und seiner Freundin zu tun?
Der zunächst verwirrte Leser kommt nach einigem Nachdenken zu dem Schluss, dass es gar nicht so sehr darauf ankommt, was passiert, sondern auf die Schaffung einer Wortkulisse, die Ängste und Unbehagen auslöst. Dabei werden auch eine Reihe von Themen abgehandelt, die dem Autor offensichtlich wichtig sind: Einsamkeit, Beziehungen, Wahrheit und Wirklichkeit, Ängste und Zweifel und nicht zuletzt Identität. In einem Interview hat Reid geäußert, dass er gar nicht so genau wisse, warum er diesen Roman geschrieben habe. Aha. Noch erstaunlicher ist seine Aussage, dieser Roman sei persönlicher als seine zuvor veröffentlichten nicht-fiktionalen Texte über sein Leben. Darauf wäre ich jetzt nicht gekommen.
Das Buch liest sich nicht schlecht, obwohl ich es nicht außergewöhnlich spannend und gruselig finde. Originell ist es auf jeden Fall, aber schon etwas gewöhnungsbedürftig.

Veröffentlicht am 22.11.2017

Die langen Schatten der Vergangenheit

Der Fall Kallmann
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Hakan Nessers neuer Roman “Der Fall Kallmann“ spielt in der schwedischen Kleinstadt K. Der beliebte, aber ausgesprochen exzentrische Schwedischlehrer Eugen Kallmann starb unter nie ganz geklärten Umständen ...

Hakan Nessers neuer Roman “Der Fall Kallmann“ spielt in der schwedischen Kleinstadt K. Der beliebte, aber ausgesprochen exzentrische Schwedischlehrer Eugen Kallmann starb unter nie ganz geklärten Umständen in einem leer stehenden Haus, wo er sich nachts mit jemand treffen wollte und von dem Schüler Charlie gefunden wurde. Sein Nachfolger an der Bergtunaschule wird Leon Berger, der nach einem schweren Schicksalsschlag hier einen neuen Anfang machen will. In seinem Pult findet er unter zahlreichen Papieren auch vier Tagebücher seines Vorgängers mit erstaunlichem Inhalt, eine Mischung aus Wahrheit und Fiktion. Kallmann behauptet, einen Mörder an seinen Augen erkennen zu können, bezichtigt sich selbst des Mordes an seiner Mutter im Alter von 11 Jahren und war offensichtlich einem nie entdeckten Verbrechen auf der Spur. Da die Polizei die Akte geschlossen hat, beginnt Berger mit privaten Ermittlungen, zunächst allein, später im Team mit der Beratungslehrerin Ludmilla und dem älteren Kollegen Igor. In ihren Gesprächen stellen die Kollegen fest, dass niemand Eugen Kallmann wirklich gekannt hat und niemand etwas Genaues über ihn weiß. Er ist erst spät nach K. zurückgekommen, hatte keine Freunde und hat sich niemandem geöffnet. Auch unter den Schülern gibt es eine Dreiergruppe bestehend aus der 15jährigen Andrea Wester, ihrer Freundin Emma und dem hochbegabten Sonderling Charlie, die sich wie so viele an der Schule immer wieder die Frage stellt, wer Kallmann wirklich war und welche Umstände zu seinem Tod geführt haben.
Erzählt wird in der ich-Form aus ständig wechselnder Perspektive. Die Beteiligten tragen Mosaiksteinchen zusammen, die allmählich ein Bild ergeben. Jedoch kennt nur der Leser am Ende die ganze Wahrheit, nicht aber alle Beteiligten. Sie können die Zusammenhänge teilweise nur ahnen. Nessers Buch ist kein Krimi, sondern ein Roman mit Krimielementen. Er hat eine epische Breite, die dem Aufbau von Spannung zumindest in den ersten beiden Dritteln nicht förderlich ist. Die Auflösung eines unbekannten Mordfalls ist keineswegs das einzige Thema. Genauso wichtig ist die Beschreibung des sich ständig verschlechternden Klimas an der Schule, denn Neonazis treiben ihr Unwesen, und es kommt zu rassistischen und antisemitischen Übergriffen, sogar zu einem Mord an einem jungen Neonazi. Der Leser braucht Geduld und Durchhaltevermögen, wird aber durch sorgfältige Charakterisierung der Hauptfiguren und ein genaues Porträt des schwedischen Schulsystems und des Kleinstadtmilieus entschädigt. Ein atmosphärisch dichter Roman, der sich nicht einfach konsumieren lässt.

Veröffentlicht am 26.08.2017

Das Verbrechen des Grafen Neville

Töte mich
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In Amélie Nothombs “Töte mich“ (“Le crime du comte Neville“) geht es um den Grafen Henri Neville und seine Familie, bestehend aus seiner Frau Alexandra und den Kindern Oreste, Electre und Sérieuse. Eines ...

In Amélie Nothombs “Töte mich“ (“Le crime du comte Neville“) geht es um den Grafen Henri Neville und seine Familie, bestehend aus seiner Frau Alexandra und den Kindern Oreste, Electre und Sérieuse. Eines Tages verbringt die 17jährige Sérieuse die Nacht im Wald, wo sie von der Wahrsagerin Rosalba Portenduère gefunden wird. Als Graf Henri seine Tochter abholt, muss er sich nicht nur die Vorhaltungen von Madame Portenduèrre anhören, sondern erfährt auch, dass er bei dem in Kürze stattfindenden großen Fest einen Gast ermorden wird. Die Garden Party wird das letzte gesellschaftliche Ereignis sein, bevor der hoch verschuldete Graf sein Schloss Le Pluvier in den belgischen Ardennen verkaufen und in eine einfache Behausung auf dem Grundstück ziehen wird. Serieuse drängt ihren Vater, sie zu töten, weil sie nichts mehr fühlt und des Lebens überdrüssig ist. Graf Henri ringt mit sich, ob er seine Tochter oder einen missliebigen Gast töten soll. Letzteres scheidet aus, weil ein vorsätzlicher Mord an einem Gast ihn ins Gefängnis bringen und das Ansehen seiner Familie für immer zerstören würde. Am Ende kommt alles natürlich anders gedacht.
Amélie Nothomb siedelt ihren Roman in einem dekadenten Milieu an, wo nichts wichtiger ist, als den Schein zu wahren. Das ganze Jahr über wird eisern gespart, um einmal im Jahr alles, was Rang und Namen hat, zu einem glanzvollen Fest einzuladen. So hat es schon Henris Vater Aucassin gehalten, der seine Familie hungern und frieren ließ, so dass Henris geliebte ältere Schwester an Unterernährung starb. Manches ist dem Leser aus früheren Romanen vertraut, zum Beispiel die ausgefallenen Namen, bizarre Charaktere und groteske Elemente im Handlungsverlauf. Es gibt nichts wirklich Neues. Dieser Roman ist sicher nicht ihr bester. Mir haben ihre frühen Romane wesentlich besser gefallen, z.B. “Stupeur et tremblements“.
Einmal mehr ist mir im Übrigen klar geworden, wie viel bei der Übersetzung verloren geht. Als der Vater den Vorschlag der Tochter, sie als Opfer zu wählen, nicht ernst nimmt, sagt sie vermutlich “Je suis sérieuse“ - “Ich meine es ernst.“ (S. 64). Der Doppelsinn “Ich bin Sérieuse“ geht verloren. Die Antwort des Vaters “Und machst auch noch billige Witze“ muss dem deutschen Leser ziemlich rätselhaft vorkommen.
Ich empfehle “Töte mich“ nur bedingt. Wirklich überzeugt hat mich der Roman nicht.

Veröffentlicht am 15.08.2017

Die Lieferantin liefert nicht mehr

Die Lieferantin
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In Zoë Becks neuem Roman "Die Lieferantin" geht es um Drogengeschäfte in England. Die Handlung ist leicht in die Zukunft nach dem Brexit verlegt, Drohnen sind allerdings auch jetzt schon in vielfältiger ...

In Zoë Becks neuem Roman "Die Lieferantin" geht es um Drogengeschäfte in England. Die Handlung ist leicht in die Zukunft nach dem Brexit verlegt, Drohnen sind allerdings auch jetzt schon in vielfältiger Weise im Einsatz.
Ellie Johnson war eine sehr erfolgreiche Drogendealerin, bei der man über ihre App Drogen in hervorragender Qualität bestellen konnte, die dann mit Hilfe von Drohnen ausgeliefert wurden, ohne dass irgendjemand die Spur zu ihr zurückverfolgen konnte. Doch dann wird ihr Kontaktmann von drei Drogenbossen umgebracht, weil man ihn für das Verschwinden eines Schutzgelderpressers namens Gonzo alias Gerald Miller verantwortlich macht. Der Leser weiß fast von Anfang an, wer hinter dem Verschwinden von Gonzo steckt. Dieser hat über Jahre in die eigene Tasche gewirtschaftet und Restaurantbesitzer Leigh Sorsby an den Rand des Ruins gebracht.
Es folgt eine Geschichte mit Wendungen und Komplikationen, in der es weitere Tote gibt, und Ellie versucht, ihr Leben zu retten.
Besonders spannend ist dieser Thriller nicht, aber mir gefällt die Einbettung in einen denkbaren zeitgenössischen Kontext: eine gefährliche Zunahme von Rassismus durch das Erstarken der extrem nationalistischen Rotweissblauen und das geplante Referendum Druxit, durch das eine Legalisierung von Drogen unmöglich gemacht und alle Leistungen des National Health Service für Drogenkonsumenten entfallen würden.
Becks für eine deutsche Autorin thematisch und vom Setting her ungewöhnlicher Roman liest sich nicht schlecht, aber meiner Meinung nach ist es nicht ihr bester.

Veröffentlicht am 25.05.2017

Was geschah wirklich?

Into the Water - Traue keinem. Auch nicht dir selbst.
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Paula Hawkins zweiter Roman – Into the Water – beginnt mit einer grausamen Szene. Eine gefesselte Frau namens Libby wird von mehreren Männern ertränkt. Wie der Leser später erfährt, geschah dies schon ...

Paula Hawkins zweiter Roman – Into the Water – beginnt mit einer grausamen Szene. Eine gefesselte Frau namens Libby wird von mehreren Männern ertränkt. Wie der Leser später erfährt, geschah dies schon 1679. Die erst 14jährige Libby Seaton wurde umgebracht, weil sie angeblich eine Hexe war. Die eigentliche Romanhandlung setzt im August 2015 ein. Julia Abbott genannt Jules fährt in das verhasste Beckford und wohnt eine Zeit lang in ihrem Elternhaus, um sich nach dem Tod ihrer Schwester Danielle genannt Nel um ihre 15jährige Nichte Lena zu kümmern, die sie noch nie gesehen hat. Die Schwestern waren einander entfremdet wegen bestimmter Vorkommnisse in der Vergangenheit, als Jules 13 und Nel 17 Jahre alt waren. Nel ist von einer hohen Klippe in den berüchtigten Drowning Pool gesprungen, gestürzt oder gestoßen worden. Die Polizei ermittelt noch. Nel war in Beckford nicht beliebt, weil sie an einem Projekt arbeitete, das vielen am Ort nicht gefiel. Sie hatte die alten Geschichten um im Drowning Pool ertrunkene Frauen wieder aufrollt. Da gibt es jede Menge Geheimnisse, die verborgen bleiben sollen, Täter, die nicht zur Rechenschaft gezogen werden wollen.

Die Autorin macht es dem Leser nicht leicht. In zahlreichen, sehr kurzen Kapiteln nehmen 11 Erzähler zu den gegenwärtigen und vergangenen Ereignissen Stellung. Teils treten sie als Ich-Erzähler auf, teils wird ihre Sicht in der dritten Person vermittelt. Insgesamt passiert nicht besonders viel. Informationen werden häppchenweise verabreicht. Zum Teil dient auch der Hinweis, dass es da Geheimnisse und verborgene Zusammenhänge gibt, dem Aufbau von Spannung. Es werden viele falsche Fährten gelegt, und fast jeder macht sich verdächtig, bis auf der allerletzten Seite fast alle offenen Fragen beantwortet sind.

Dabei ist die Aufklärung von Nel Abbotts Tod nicht das einzige Thema des Romans. Es geht auch immer wieder um die Unzuverlässigkeit von Erinnerungen, veranschaulicht am Beispiel von Jules und dem Polizisten Sean Townsend. Traumata können ein Leben lang verdrängt werden, bis sie durch einen Auslöser wieder erinnert werden, alles kann sich ganz anders abgespielt haben, als wir meinen. Dieses Thema ist allerdings kürzlich in E.O. Chirovicis Roman “Das Buch der Spiegel“ ungleich eindrucksvoller behandelt worden.

Auf mich wirkte die Geschichte wirr und oft wenig plausibel. Man liest weiter, weil man die Auflösung kennen will, aber für mich hat der Roman erhebliche Mängel. Ich finde auch nicht, dass die vielen Erzählerstandpunkte einen positiven Effekt haben, sozusagen ein komplexes Gesamtbild ergeben. Dafür wäre es erforderlich, dass die Erzähler stärker differenziert sind, dass jeder mit einer je eigenen Stimme spricht. Das ist jedoch nur sehr eingeschränkt der Fall. Ein Verkaufserfolg wird das Buch auf jeden Fall. Wer 20 Millionen Exemplare seines Debütromans verkauft, genießt einen Vertrauensbonus beim Leser. Vielleicht sind ja auch nicht alle enttäuscht