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Veröffentlicht am 29.10.2024

Nicht nur eine amerikanische Katastrophe

Armut
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Es war einmal…Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, wo man angeblich vom Tellerwäscher zum Millionär aufsteigen kann. Diese Zeiten sind längst vorbei. Mittlerweile ist die Zahl derjenigen, ...

Es war einmal…Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, wo man angeblich vom Tellerwäscher zum Millionär aufsteigen kann. Diese Zeiten sind längst vorbei. Mittlerweile ist die Zahl derjenigen, die von Armut betroffen sind, rasant angestiegen. „Mehr als 38 Millionen Menschen können ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen…mehr als eine Million Kinder im schulpflichtigen Alter sind obdachlos und leben in Motels, Autos etc.“ (Vorwort, S. 14). Ein Grund für Matthew Desmond, sich die Ursachen genauer anzuschauen.

Matthew Desmond, Soziologe an der Princeton University und 2017 Pulitzer-Preisträger für sein Buch „Evicted: Poverty and Profit in the American City“ (dt. „Zwangsgeräumt: Armut und Profit in der Stadt“, 2018 bei Ullstein), ist selbst in prekären Verhältnissen aufgewachsen und beschäftigt sich schon lange mit diesem Thema. Die Ergebnisse seiner Recherche und die Schlussfolgerungen, die er daraus zieht, sind nicht überraschend.

Seine Kritikpunkte bezüglich des Steuersystems kann ich nachvollziehen, treffen diese doch 1:1 auch für Deutschland zu. Hier wie dort werden sowohl Wohlhabenden als auch den großen Unternehmen von den Regierungen eine Unmenge an Vorteilen gewährt, seien das nun Steuererleichterungen, Subventionen oder Rettungsschirme, die unterm Strich von der arbeitenden Bevölkerung finanziert werden müssen. Eine gerechte Besteuerung, die auch die multinationalen Konzerne einschließt, könnte hier problemlos Abhilfe schaffen und Geld in die Kassen spülen.

Natürlich leugnet Desmond nicht, dass Armut systemisch und in den Vereinigten Staaten im Zusammenhang mit Ethnie und Herkunft betrachtet werden muss, aber er macht noch einen weiteren Schuldigen dafür aus, nämlich die Mittelschicht ist, die daraus Profit zieht und deshalb kein Interesse an einer Abschaffung der Armut hat. Es sind die finanziell Abgesicherten, denen er vorwirft, die Vermehrung des eigenen Wohlstands an erste Stelle setzen. Die Arbeitgeber, die deshalb niedrige Löhne zahlen, oder die Vermieter, die den knappen Wohnungsmarkt zum Vorwand nehmen, um hohe Mieten einzufordern. Eine provokante Aussage, die allerdings meiner Meinung nach etwas übers Ziel hinausschießt.

Keine Frage, „Armut. Eine amerikanische Katastrophe“ liefert jede Menge Denkanstöße für Leser und Leserinnen, die sich mit dieser Thematik auseinandersetzen, insbesondere, weil auch hierzulande laut Statistischem Bundesamt ca. 17,7 Millionen Menschen wg. Auswirkungen der Pandemie, Inflation, Verlust der Arbeitsstelle etc. von Armut bedroht sind (Zahlen von 2023). Lesen!

Veröffentlicht am 23.09.2024

Reihenauftakt "Tatort Malmö"

Tode, die wir sterben
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2012 ist der erste Band der Reihe mit den Kommissarinnen Ingrid Nyström und Stina Forss erschienen. Neun weitere folgten, bis 2022 das erfolgreiche deutsch-schwedische Autorenteam Voosen/Danielsson mit ...

2012 ist der erste Band der Reihe mit den Kommissarinnen Ingrid Nyström und Stina Forss erschienen. Neun weitere folgten, bis 2022 das erfolgreiche deutsch-schwedische Autorenteam Voosen/Danielsson mit „Die Spur der Luchse“ diese beendete und mit ihrem neuen Kriminalroman „Tode, die wir sterben“ den Startpunkt für die neue Reihe „Tatort Malmö“ setzen, deren inhaltliche Ausrichtung sich offensichtlich wesentlich stärker als die Vorgänger an den aktuellen gesellschaftlich-relevanten Problemen Schwedens orientiert.

Drogen, Problemviertel, Bandenkriminalität, Migranten, Vorurteile, Rassismus und, nicht zu vergessen, Russland als politisch-aktuelles Thema. Jede Menge Stoff, der hier abgedeckt wird. Dazu das Ermittlerteam aus „Ghettofrau und Superbulle“ (O-Ton Svea): Jon Nordh, Südschwede, alleinerziehender Vater, dessen Frau bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist und die strafversetzte Svea Karhuu, Nordschwedin mit arabischen Wurzeln und lockerer Faust, immer wieder verbalen Anfeindungen ausgesetzt. Zwei, die sich erst noch zusammenraufen und ihre persönlichen Probleme bewältigen müssen. Neu ist diese Konstellation nicht, eher mittlerweile fast schon Standard in skandinavischen Krimis und Voosen/Danielsson verwenden viel Zeit dafür auf, ihre neuen Hauptfiguren vorzustellen und mit einer Hintergrundgeschichte auszustatten. Zwar hat das bei einer neuen Reihe seine Berechtigung, sollte aber nicht auf Kosten der eigentlichen Krimihandlung gehen.

Mein abschließendes Urteil fällt, mit kleinen Abstrichen, positiv aus. Man merkt, dass hier Profis am Werk sind, die in der Lage sind, eine funktionierende Story routiniert zu plotten und auszuführen. Die Protagonisten sind sympathisch und haben Potenzial, die Handlung ist zwar stellenweise leicht überfrachtet, aber dennoch spannend und topaktuell. Und zu guter Letzt fand ich auch die Einblicke in die kulturellen Eigenheiten, meint die Unterschiede zwischen den Nord- und den Südschweden, sehr interessant.

Band 2 der Reihe wird im August 2025 unter dem Titel „Schwüre, die wir brechen“ erscheinen, und ich freue mich darauf, Svea und Jon auch bei ihrem nächsten Fall über die Schulter zu schauen.

Veröffentlicht am 17.09.2024

Der Verlust der Unschuld

Aufs Land
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„Die ganze Welt war düster und beängstigend“. Was liegt da näher, als sich nach einem Idyll zu sehnen? Aber ob diese idealisierte Vorstellung vom Landleben die Härten und Hürden des Alltags übersteht? ...

„Die ganze Welt war düster und beängstigend“. Was liegt da näher, als sich nach einem Idyll zu sehnen? Aber ob diese idealisierte Vorstellung vom Landleben die Härten und Hürden des Alltags übersteht? Bleibt abzuwarten.

Der Roman setzt im Jahr 2005 ein und endet 2010. Er nimmt uns mit nach Herefordshire in den englischen West Midlands. In dieser ländlichen Gegend haben drei Familien einen heruntergekommenen Bauernhof gekauft, um ihren Traum vom Leben auf dem Land in die Tat umzusetzen.

In Sadie Jones‘ „Aufs Land“ begleiten wir die beiden siebenjährigen Kinder Amy und Lan über diesen fünfjährigen Zeitraum, beobachten das Leben auf dem Hof, stromern mit ihnen durch die Natur, feiern mit ihnen Feste und belauschen die Gespräche, die sie führen. Die alternierenden Kapitel, in denen sie zu Wort kommen, schaffen Nähe.

Ich bin immer skeptisch, wenn Erwachsene aus Kindersicht schreiben, und auch hier stolpert man zu Beginn über einige Bemerkungen, die Kinder dieses Alters wohl so nicht machen würden. Aber das schleift sich glücklicherweise im Verlauf der Geschichte zunehmend ab und weicht in den Gesprächen, in denen die Kinder das Verhalten der Erwachsenen beobachten und kommentieren, einer sehr klaren, ja fast schon entlarvenden Beobachtungsgabe.

Auch wenn wir nicht erleben, wie die beiden Kinder zu Teenagern werden, nehmen wir doch Anteil an ihren ersten Schritten dahin. Je älter sie werden, desto feiner werden ihre Antennen und sie entwickeln ein untrügliches Gefühl für die Spannungen, die in der Luft liegen und das fragile Landidyll zum Einsturz bringen könnten. Natürlich geht es um Geld, dem die Träume geopfert werden sollen, aber auch um Beziehungen, die sich verändern, plötzlich auf dem Prüfstand stehen. Und nicht zuletzt gilt es, Verluste hinzunehmen. Auch Amy und Lans großes Abenteuer, ihre unbeschwerte Kindheit, wird von einer Realität, der sie nicht entkommen können, eingeholt.

Veröffentlicht am 09.09.2024

Thematisch am Puls der Zeit

In der Erde
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Pernilla Ericsons neuer Kriminalroman „In der Erde“ thematisiert, wie schon bereits die beiden Vorgänger („Im Feuer“ und „Im Sturm“) die Auswirkungen, die der Klimawandel auch in den nordischen Ländern ...

Pernilla Ericsons neuer Kriminalroman „In der Erde“ thematisiert, wie schon bereits die beiden Vorgänger („Im Feuer“ und „Im Sturm“) die Auswirkungen, die der Klimawandel auch in den nordischen Ländern zeigt. Die Autorin kommt aus dem Journalismus und hat sich in der Vergangenheit schwerpunktmäßig sowohl mit Umweltfragen als auch mit gesellschaftspolitischen Themenfeldern auseinandergesetzt. Das merkt man ihren kenntnisreichen Romanen auch an, in denen sie das, was sie an- und umtreibt, in eine spannende Rahmenhandlung packt und glücklicherweise den erhobenen Zeigefinger vermeidet.

Eine Hitzeglocke liegt über Nynäshamn, wochenlang ist kein Tropfen Regen gefallen. Die Vegetation hat ihre Farbe von grün zu braun geändert, alles ist knochentrocken. Ein Haus brennt nieder, die Bewohner kommen ums Leben. Brandursache ist eine verheerende Explosion, befeuert durch eine größere Menge Gasflaschen, die im Haus gelagert waren. Die Bewohner kommen ums Leben, einzige Ausnahme ist deren sechsjährige Tochter. Sie wurde entführt, und die Anweisungen des Kidnappers sind eindeutig. Sollte seine Forderungen nicht erfüllt werden, lässt er das Kind verdursten. Und dann brennt wieder ein Haus, und ein weiteres Kind verschwindet. Warum wurden gerade diese beiden Kinder entführt?

Soweit die Haupthandlung. In einem Nebenstrang liegt der Fokus, wie erwartet, auf der mittlerweile hochschwangeren Kommissarin Lilly Hed. Da sie noch immer an anhaltender Übelkeit leidet, wird sie vom Dienst befreit, was sie allerdings nicht daran hindert, im Entführungsfall der beiden Mädchen auf eigene Faust zu ermitteln, ganz gleich, wie schlecht es ihr geht. Und als wäre das nicht schonanstrengend und belastend genug, wird sie einmal mehr mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. Der Prozess wegen häuslicher Gewalt gegen ihren ehemaligen Lebensgefährten steht an. Sie muss als Anklägerin ihre Aussage machen, damit es zu dessen Verurteilung kommt und er seine gerechte Strafe erhält. Ein Szenario, das nicht nur an Lillys Nerven zehrt, sondern auch eine konkrete Bedrohung nach sich zieht.

Ein gelungener Krimi mit sympathischen Personen und kritisch-realistischer Darstellung der Polizeiarbeit, der mit Klimawandel, Bauernprotesten, Misogynie, häuslicher Gewalt und Versagen des staatlichen Fürsorgesystems auch thematisch am Puls der Zeit ist. Aber dennoch schneidet er im Vergleich mit den Vorgängern etwas schlechter ab. Zum einen generiert die ständige Wiederholung der Schwangerschaftsbeschwerden zwischendurch immer wieder Längen, zum anderen sorgt dies auch dafür, dass die Unter-dem-Radar-Einsätze der Protagonistin sehr unglaubwürdig daherkommen. Bleibt die Hoffnung, dass der abschließende Band der Reihe sich mit der Qualität der beiden Vorgänger messen kann.

Veröffentlicht am 06.09.2024

Wer nach vorne schauen will, muss zuerst zurückblicken

Unter Wasser ist es still
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Geschichten, in denen die Hauptfigur nach längerer Abwesenheit an den Ort der Kindheit zurückkehrt, gibt es wie Sand am Meer. Meist aktiviert die Rückkehr Erinnerungen, führt zur Konfrontation mit der ...

Geschichten, in denen die Hauptfigur nach längerer Abwesenheit an den Ort der Kindheit zurückkehrt, gibt es wie Sand am Meer. Meist aktiviert die Rückkehr Erinnerungen, führt zur Konfrontation mit der Vergangenheit, was durchaus schmerzlich werden kann, wenn traumatische Erlebnisse nicht verarbeitet wurden und noch immer im Unterbewusstsein schwelen.

Ein solches Szenario hat sich auch Julia Dibbern für ihren neuen Roman „Unter Wasser ist es still“ ausgesucht, in dem sie die Protagonistin Maira in ihre ehemalige Heimat reisen lässt. Aus freien Stücke geschieht das nicht, es ist ein konkreter Anlass, der sie dazu bewogen hat. Sie muss ihre Angelegenheiten regeln, das Haus ihrer Kindheit zum Verkauf vorbereiten, die Vergangenheit endlich abhaken, damit die Zukunft gesichert ist.

Jeder, der schon einmal in der Situation war, kann wohl nachvollziehen, was mit einem passiert, wenn man ein Haus leer räumen muss, in dem man Kindheit und Jugend verbracht hat. Jedes Stück, das man in die Hand nimmt, birgt Erinnerungen an vergangene Tage. Und wie könnte es auch anders sein, es sind nicht nur die schönen Erlebnisse, die Erinnerung an die unbeschwerten Tage der Kindheit mit ihren Freunden, die aufploppen. Freundschaften, die in die Brüche gegangen sind. Entscheidungen, die sich im Rückblick als falsch erweisen. Die Erkrankung der Mutter, deren Tod und die damit verbundenen Schuldgefühle. Das alles prasselt auf Maira nieder, als sie wieder in ihrem ehemaligen Zuhause auf dem Darß angekommen ist.

„Unter Wasser ist es still“ ist ein ruhiger, ein nachdenklicher Roman, was nicht nur dem Thema, sondern auch Julia Dibberns Art des Schreibens geschuldet ist, erzählt sie doch Mairas Geschichte sehr behutsam und mit viel Fingerspitzengefühl für das Seelenleben ihrer Protagonistin. Obwohl in vielen Passagen eine fast greifbare Melancholie mitschwingt, gibt es auch solche, die durch Leichtigkeit bestimmt sind. Alles passt und wirkt nicht aufgesetzt – bis auf das Ende. Tut mir leid, aber das war eindeutig zu konstruiert und hat leider einen Teil des guten Eindrucks, den ich von diesem Roman hatte, zunichte gemacht.