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Veröffentlicht am 10.04.2023

Schöne Geschichte begraben unter wirren Zeitsprüngen

Tochter einer leuchtenden Stadt
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1905 – Smyrna, das heutige Izmir, ist ein kultureller Schmelztiegel verschiedener Nationen. Griechen, Türken, Armenier, Europäer und Juden leben in einem orientalischen, bunten, lauten Babel seit Jahrhunderten ...

1905 – Smyrna, das heutige Izmir, ist ein kultureller Schmelztiegel verschiedener Nationen. Griechen, Türken, Armenier, Europäer und Juden leben in einem orientalischen, bunten, lauten Babel seit Jahrhunderten zusammen. 17 Jahre später werden alle Nicht-Muslime vertrieben und viele Stadtteile nur noch Schutt und Asche sein.

Suman macht die Stadt mit all ihren Farben, Gerüchen, Bräuchen und Sprachen lebendig. Das Leid und die Zerstörung waren für mich spürbar. Ihr atmosphärischer Schreibstil ist sicher der größte Pluspunkt an dem Buch. Aber die Autorin hat es mir echt schwer gemacht. Ich habe mich gefreut, mehr über ein Land zu erfahren, dessen Historie ich kaum kenne.
Die Geschichte um die drei Familien (levantinische, griechische und türkische) ist das reinste Chaos. Als wäre ein Tsunami über die ägäische Hafenstadt hinweggefegt und hätte überall nur Fragmente und Andeutungen hinterlassen, die ich mir mühsam zusammenklauben musste. Alle historischen Zusammenhänge musste ich mir im Netz suchen, um ansatzweise die Beweggründe der Figuren zu verstehen, Hintergründe fehlen hier völlig. Warum zerbrach das Osmanische Reich nach dem 1. WK? Weshalb waren die Menschen froh, dass die Griechen das Land übernahmen?

Die Erzählerin Scheherazade taucht nur sporadisch auf, ergeht sich in Rückblicken und Voraussagungen, die zeitlich nicht einzuordnen sind, die mich immer wieder den Faden verlieren ließen. Schon nach 100 Seiten hatte ich mehr Fragen im Kopf als Antworten. Die einzelnen Geschichten der Familien laufen zeitlich ebenso wenig synchron, ohne erkennbare Zuordnung. Ist die eine Frau im vorigen Kapitel bereits tot, steht sie im nächsten wieder in der Küche.
Doch damit nicht genug.

Um die sprachlichen Eigenheiten der Familien zu unterstreichen, nutzt die Autorin zahlreichen Vokabeln, die sie permanent in den Dialogen einflechtet. Wer wie ich weder gr, fr, ar noch tr beherrscht, findet die Übersetzung in einem anhängenden Glossar. Das empfand ich als äußerst mühsam und nervig.

Fazit: Unter dem ganzen Chaos ist eine wunderschöne Geschichte begraben, die ich wirklich gern gemocht hätte. Wer historische Vorkenntnisse hat und mit den Sprachen vertraut ist, wird hier vielleicht mehr Freude haben. Ich empfand sie lediglich als anstrengend und unbefriedigend. Am Ende hatte ich mich im kosmopolitischen Smyrna hoffnungslos verirrt.

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Veröffentlicht am 26.03.2023

Eine simpel gestrickte American-Dream-Geschichte, die lediglich Unterhaltungspotenzial besitzt.

Der Junge, der Träume schenkte
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Ceta stammt aus dem Süden Italiens, wo sie in ärmlichen Verhältnissen aufwächst. Als 13-Jährige wird sie brutal vergewaltigt und verlässt nur kurz darauf mit ihrem Sohn Natale ihre Heimat. Nachdem sie ...

Ceta stammt aus dem Süden Italiens, wo sie in ärmlichen Verhältnissen aufwächst. Als 13-Jährige wird sie brutal vergewaltigt und verlässt nur kurz darauf mit ihrem Sohn Natale ihre Heimat. Nachdem sie auf dem Schiff mehrmals vom Kapitän missbraucht wird, landet sie in New York und umgehend in einem Bordell. Doch sie versucht, ihrem Sohn so viel wie möglich an Liebe zu schenken und hofft auf eine bessere Zukunft für ihn. Der Alltag in der Lower East Side Anfang des 20. Jhd. war bestimmt von Gewalt, Armut und Prostitution. Doch Ceta schlägt sich tapfer.
Natale, der bei der Ankunft von den Hafenbehörden den Namen Christmas, bekommen hat, wächst in ärmlichen Verhältnissen auf, die Straße wird sein Zuhause. Er gründet als Kind die Gang Diamond Dogs, mit der er später zur Berühmtheit werden soll. Mit seinen erfundenen Geschichten und seinem heiteren Wesen erobert er die Herzen der Bewohner.
Ruth, die Tochter eines reichen, jüdischen Industriellen, wird von Bill, einem Hausangestellten brutal zusammengeschlagen und vergewaltigt. Christmas wird sie schwer verletzt finden, ihr damit das Leben retten und sich in sie verlieben.
Nach der brutalen Tat Bills, der natürlich gleich noch eine folgen wird, verzweigt sich die Handlung in drei Perspektiven.
Hauptsächlich folgen wir der Entwicklung Christmas’. Er ist ein nettes, schlaues Kerlchen mit viel Charme und Einfallsreichtum. Schnell erobert er die Herzen seiner Mitmenschen. Seinem Weg zu folgen, der nicht immer frei von Kleinkriminalität war, hat mir Spaß gemacht. Ihn habe ich sofort ins Herz geschlossen.

Im zweiten Handlungsstrang folgen wir Ruth, die an den Folgen der Vergewaltigung und Verstümmlung viele Jahre leidet. Ihr dadurch entstandenes Trauma wird sie aus der Bahn werfen. Dass es sich allerdings bei der erstbesten Gelegenheit in Luft auflöst, hatte für mich einen faden Beigeschmack.

Und dann hätten wir noch den Oberfiesling Bill, der sich recht bald nach Los Angeles absetzt, aus Angst vor der Strafverfolgung. Ich habe selten erlebt, dass ein Mensch aus dem Nichts heraus so eine dermaßen brutale Tat begeht. Nichts wird in der Geschichte vorbereitet, Di Fulvio setzt einzig auf den Schockmoment. Seine weitere Karriere ist ebenso verstörend wie brutal, dass ich an manchen Stellen von ihm angewidert war. Aber genau diese Szenen wieder und wieder zu zeigen, jede Handlung auszuschlachten, hat mir letztlich das Lesevergnügen komplett verleidet. Bliebe da noch die Strafe, die der Autor für ihn vorgesehen hat. Der Konflikt zwischen Ruth und Bill, die sich natürlich wieder begegnen, wurde als Zufall von außen gelöst. Mehr möchte ich nicht dazu sagen, da ich sonst spoilern müsste. Doch so eine Lösung ist einfallslos und unbefriedigend.

Das sind die Zutaten für diesen 800 Seiten starken historischen Roman, der sich zwar leicht lesen lässt, aber nicht immer leicht zu verkraften ist. Nach nicht mal 100 Seiten hätte ich das Buch liebend gern abgebrochen, wenn ich nicht jemandem versprochen hätte, es zu lesen. Was mich durchhalten ließ, war die Neugier, wie der Autor wohl am Ende dem Bösewicht seine gerechte Strafe zukommen lässt.

Dass das Leben damals kein Zuckerschlecken war, ist klar, doch dass Di Fulvio sich dermaßen darauf konzentriert, jeden Gewaltakt so explizit grausam darzustellen, war mir einfach to much. Quasi jede Frau wird Opfer von Übergriffen und Vergewaltigungen, die detailliert beschrieben wurden. Bis auf Bill sind alle Bösewichte eigentlich nette Typen, dass sie hin und wieder jemanden auf offener Straße erschießen, Schutzgeld erpressen oder jemanden brutal zusammenschlagen, ist ja nicht so schlimm.

Damit geraten die Figuren zu Stereotypen, die wenig Neues zu bieten haben. Man bekommt den Eindruck, jede weibliche Auswanderin wird zu einer Prostituierten, die sich in einen Kleinganoven verliebt. Armer Junge verliebt sich in reiches Mädchen, sie werden getrennt, finden sich aber wieder, Happyend. Die Handlung war also von Anfang an vorhersehbar, was mich aber weniger gestört hat. Sein Erzählstil ist genretypisch leicht zu lesen, wird mit vielen blumigen Details ausgeschmückt und kontrastiert mit den Gewaltszenen, die es in der Form nicht gebraucht hätte.
Auch Cover und Klappentext spiegeln für mich nicht das wieder, was der Leser am Ende bekommt. Es geht nicht um einen etwas fünfjährigen Jungen, wie abgebildet. Der Klappetext bezieht sich mehr auf Cetas Traum von einer besseren Welt in den USA.

Mir fällt es schwer zu sagen, wem ich den Roman empfehlen würde. Den typischen Lesern historischer Romane wird er zu brutal sein. Andererseits ist er zu seicht und klischeehaft. Etwas mehr Niveau wie »Die Wanderhure« hatte er aber durchaus. Ich konnte den Zeitgeist der frühen 20er Jahre spüren. Den Siegeszug der neuen Technik wie Kino und Radio waren für mich glaubhaft und interessant dargestellt. Doch von einer authentischen Schilderung der Zeit war die Geschichte weit entfernt, allein wegen der Figuren. Insgesamt wird mir auch nichts Neues erzählt, was nicht schon tausend Mal irgendwo benutzt wurde.

Fazit: 800 Seiten mit einer fesselnden Handlung zu füllen, ist nicht leicht. Zu viele Nebenschauplätze werden eröffnet, die lediglich schmückendes Beiwerk sind. Aufgrund der Brutalitäten wird es viele Leser des Genres abschrecken. In Zukunft werde ich mich guten Filmen wie »Es war einmal in Amerika« oder »Gangs of New York« widmen, die mehr Authentizität haben und nicht ganz so verkitscht sind.
Wie immer, dies ist meine persönliche Meinung.

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Veröffentlicht am 12.03.2023

Mühlheide vs. Kasachstan

Sibir
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Leilas Vater erkrankt langsam an Demenz und kann sich nur noch an wenig erinnern. Jetzt ist es an ihr, seine und ihre Geschichte aufzuschreiben.
Josef Ambacher ist 10 Jahre alt, als er mit seiner Familie ...

Leilas Vater erkrankt langsam an Demenz und kann sich nur noch an wenig erinnern. Jetzt ist es an ihr, seine und ihre Geschichte aufzuschreiben.
Josef Ambacher ist 10 Jahre alt, als er mit seiner Familie aus dem Wartheland nach Kasachstan zwangsumgesiedelt wird. Unterwegs stirbt nicht nur sein kleiner Bruder, auch seine Mutter verschwindet spurlos während eines Schneesturms. Das Dorf Nowa Karlowka, in dem sie sich nicht mit anderen Deutschen treffen dürfen, ihre Sprache nicht mehr sprechen dürfen, ist ein zusammengewürfelter Haufen verschiedener Nationen, die in der Steppe ums Überleben kämpfen. Immer wieder flieht Josef zu seinem Freund Tachawi, der in einem kasachischen Dorf lebt. Um seine Sprache nicht zu vergessen, sammelt er Wörter auf kleinen Tontafeln, deutsche, russische und kasachische.
Auf der 2. Handlungsebene folgen wir Leila 1990/91, wo ihre Familie mit anderen Aussiedlern am Stadtrand lebt. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion strömen weitere deutsche Aussiedler in ihren Ort, die sich bevorzugt bei den Ambachers einfinden. Josef fühlt sich von seiner Vergangenheit eingeholt und Leila steht zwischen den Welten und versucht zu vermitteln.

Die Autorin hat mich emotional erreicht mit den vielen kleinen Szenen in Kasachstan, die mir zeigten, was Josef für ein Kind war, wie groß die Entbehrungen und der Hunger waren. Als zum Beispiel Josef auf der Zugfahrt Strohsterne bastelt, sie hinauswirft, um später den Heimweg wieder zu finden. Welches Unrecht die Sowjets auch den Kasachen angetan haben, dass man schon für Kleinigkeiten in einem gefürchteten Gulag landen konnte. Hier hatte ich tatsächlich das Gefühl, Erlebtes lebendig erzählt zu bekommen. Was wäre das für eine großartige Geschichte geworden.

Vertreibung, Gefangenschaft, Rückkehr in ein Deutschland, das aber keine Heimat ist. Die gesellschaftliche Problematik, wenn Aussiedler lieber unter sich bleiben, die Ausgrenzung von den »Normalos«, wie Leila es nennt. Da wir aber die 2. Zeitebene aus Leilas kindlicher Ich-Perspektive mit zu vielen Alltäglichkeiten erleben, hat mich die Autorin nicht ganz erreichen können. Für mich war Josef die interessantere Figur, die aber unter Leilas Schilderungen unterging. Da wir von beiden auch jeweils nur ein Jahr erleben, hinterließ bei mir den Eindruck einer unvollendeten Skizze. Josefs Kindheitsschilderung wird zudem mitten im Kapitel abgebrochen mit einem kurzen Abschnitt, dass aufgrund der Verhandlungen von Adenauer und Chruschtschow die deutschen Gefangenen das Land nun verlasse dürfen.

Sprachlich war es gut lesbar, so dass ich mich gut unterhalten fühlte. Sicher hat die Autorin auch gut recherchiert und einige biografische Details in die Geschichte einfließen lassen, was zu vermuten ist, wenn man sich ihre Vita ansieht. Alles in allem ein Buch, das bestimmt viele Leser:innen begeistern wird. Für mein Gefühl hätten beide Geschichten als eigenständiges Buch eine tiefere Wirkung gehabt. Hier ist viel Potenzial auf der Strecke geblieben, viel nur an der Oberfläche.

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Veröffentlicht am 29.10.2024

Brisante Themen leider mangelhaft umgesetzt

Um jeden Preis
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Die junge, unbedarfte Journalistin Michelle will ihrem Kollegen Hamza nicht glauben, als dieser ihr sagt, er sei einer rechtsradikalen Zelle in der Hamburger Polizei auf der Spur. Wenig später wird er ...

Die junge, unbedarfte Journalistin Michelle will ihrem Kollegen Hamza nicht glauben, als dieser ihr sagt, er sei einer rechtsradikalen Zelle in der Hamburger Polizei auf der Spur. Wenig später wird er angeschossen und Michelle, die eigentlich an ihrem Traumprojekt – ein Buch über einflussreiche Frauen in Deutschland – arbeitet, beginnt auf eigene Faust zu ermitteln und stößt auf ein weit verzweigtes Netz aus Korruption, Rechtsextremismus und Kriminalität.

Das hätte thematisch MEIN Thriller werden können. Hätte. Leider – und hier kommt gleich mein Fazit – leider hat mich das Buch sehr enttäuscht. Warum?

Zum einen klingt hier alles nach einem Drehbuch für einen schlechten Tatort. Was in einem Film funktioniert, weil die Szenen in kurzen Sequenzen folgen, wirkt hier steif und konstruiert und leider wenig glaubhaft. Es wird viel behauptet, wenig gezeigt, sodass die Figuren, allen voran Michelle, nur vorgeführt werden. Sie kam mir reichlich naiv vor. Weiß eine Journalistin wirklich nicht, dass Polizisten, die aus dem Dienst ausgeschieden sind, oft als Personenschützer arbeiten? Oder soll ich mich als Leserin darüber wundern? Und echt, ich kann in einem heimlich gedrehten Video die Seriennummer auf einem Gewehr erkennen? Oder sie wundert sich, dass sie keine Auskunft über eine Person bei einer Zeitarbeitsfirma bekommt, nur weil sie sagt, sie sei von der Presse. Ja, wir haben Datenschutz und das wissen auch die Leser*innen. (Nur ein paar von vielen Beispielen, wo ich nur mit dem Kopf geschüttelt habe.) Und warum wird von ihr behauptet, sie sei eine linke Journalistin? Ich konnte keinerlei Anhaltspunkte dafür finden. Überhaupt spielen die Autoren hier mit Klischees. Volkslieder singende Rechte auf einem Sommerfest, die ewig blaue Krawatte, die Mütter ihren Anwaltssöhnen schenken. Leider schon so verbraucht, dass ich nicht mal ein müdes Lächeln dafür übrig hatte.

Immer wieder lege ich das Buch weg, weil noch ne Baustelle aufgemacht wird, noch ein neues Thema, das sicherlich brisant ist, aber es fehlt durchweg an der nötigen Tiefe. Es beginnt beim Völkermord an den Herero und reicht bis zu Scheinfirmen auf den Bahamas. Shitstorms auf Social Media, Verschwörungstheorien, illegaler Waffenhandel, und und und.
Hinweise werden so subtil platziert wie ein Elefant in einem Vorgarten, dass eigentlich jede Wendung, wenn sie mal nicht konstruiert war, vorhersehbar wurde. (Ohne Beispiel, weil ich nicht spoilern will.) Sämtliche Figuren bleiben blass und unterentwickelt, ihre Handlungen sind teil so hanebüchen, dass ich echt keinen Spaß hatte und kurz vor Ende abgebrochen habe.
Mein Eindruck: Man wollte hier »um jeden Preis« einen gesellschaftlich hochaktuellen Thriller schreiben, was gründlich in die Hose ging. Ich vergebe einen Stern für ein wirklich tolles Cover und einen für die gute Idee, mehr ist leider nicht drin.
Ach ja, noch ein Hinweis. Falls ihr mal einen Hang in Hamburg runterpurzelt und spürt, wie Moskitos in die offene Wunde stechen, euch alle Knochen wehtun, dann lasst euch bitte nicht von eurem Freund zwei 800er Ibuprofen plus eine Novalgin geben, ihr könntet einen Leberschaden davontragen.

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Veröffentlicht am 10.05.2024

Zu konstruiert, zu gewollt

Der Wind kennt meinen Namen
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Zentrales Thema in Allendes neustem Roman ist die Kinderflucht.
Es beginnt mit Samuel Adler, der mit 6 Jahren kurz nach der Pogromnacht mit Tausenden anderen jüdischen Kinder nach England geschickt wird. ...

Zentrales Thema in Allendes neustem Roman ist die Kinderflucht.
Es beginnt mit Samuel Adler, der mit 6 Jahren kurz nach der Pogromnacht mit Tausenden anderen jüdischen Kinder nach England geschickt wird. Er wird seine Eltern nie wieder sehen. 80 Jahre später flüchtet die 7-jährige Anita mit ihrer Mutter aus Angst vor der Gewalt in El Salvador in die USA. Unter der Regierung Trumps werden dort Kinder von ihren Eltern getrennt. Wie viele andere landet Anita in einem Lager, immer in der Hoffnung, ihre Mutter wiederzusehen.

Der Klappentext des Buches ist noch wesentlich blumiger und spektakulärer und es hätte eine emotionale Geschichte werden können. Hätte. Leider hat Allende es nicht geschafft, Emotionen bei mir zu wecken. Fast berichtartig jagt sie durch die Jahrzehnte, reiht auf eine bemühte Art Ereignis an Ereignis, streut alltägliche Nebensächlichkeiten ein und wenig glaubwürdige Dialoge. Alles wirkt reichlich konstruiert, um bei dem von ihr angestrebten Ende anzukommen. Umständliche Konjunktiv- und Passivkonstruktionen tun ihr Bestes, die Distanz zum Leser noch zu vergrößern. Es wird zusammengerafft, was nur geht. Für mich fühlte sich alles an, als würde ich Ähnliches bereits aus den Nachrichten oder aus Dokus kennen.

Zu viele Informationen werden vermittelt und ersticken die eh schon karge Handlung. Sie verliert sich in Einrichtungsbeschreibungen und reiht zahlreiche Menüfolgen aneinander, was leider keine Atmosphäre schafft, ja noch nicht mal authentisch wirkt, da oft um spanische Worte handelt, die übersetzt auch Bahnhof bedeuten können.

Zu viele schablonenhafte Figuren, die am Ende unwichtig sind, eine verschüttete Geschichte, die wahrscheinlich rührender gewesen wäre, hätte sie sich darauf konzentriert. Sie berichtet, kommentiert, streut Infos ein, um Zusammenhänge zu erklären, anstatt uns diese wirklich dramatischen Erlebnisse fühlen zu lassen. Und am Ende ist es einfach vorbei. Bisschen zu fix.

Ich denke, sie hat hier ein großes Anliegen gehabt, was vom Grundgedanken eine großartige Geschichte hätte werden können. Aber es fehlte an Tiefe, an Allendes magischem Realismus, kurzum, ich bin enttäuscht. Im Übrigen auch von der Übersetzung, die Anitas kindliche Gedanken in ein nacktes Schriftdeutsch übertragen hat, was völlig unglaubwürdig klingt.

Ich habe im letzten Jahr so viele großartige Bücher zum Thema Flucht gelesen, die mich berührt haben, deren Schicksale glaubhaft waren und die mir die vielen Zusammenhänge deutlich gemacht haben. Mag sein, dass es daran lag, dass mich Allende nicht erreichen konnte. Ich denke aber, sie wird ihre Leserinnen finden, die die nicht ganz so im Thema sind wie ich.

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