REZENSION – Es ist nur ein schmächtiges Büchlein und gerade einmal 240 Seiten stark. Doch „Mein Name ist Marcello“ der im Juni im Braumüller Verlag veröffentlichte Roman der in Bulgarien geborenen und seit 30 Jahren in der Schweiz lebenden Schriftstellerin Evelina Jecker Lambreva (61) ist ein Beweis, dass auch in der Literatur das Motto „In der Kürze liegt die Würze“ durchaus seine Berechtigung hat. Diese Erzählung braucht nicht die epische Breite, sondern dringt auf wenigen Seiten so tief in die Psyche ihrer beiden Protagonisten ein – eine Schweizer Bestseller-Autorin und ein italienischer Kunsthändler – , dass es einem kaum möglich ist, das Buch aus der Hand zu legen.
Worum geht es? Die Schriftstellerin Fabiana Bianchi stellt in Mailand in öffentlicher Lesung ihren neuen Kriminalroman vor. Plötzlich meldet sich ein Zuhörer zu Wort und behauptet, die Autorin habe seine Biografie gestohlen, in ihrem Roman also ohne seine Einwilligung seine eigene Lebensgeschichte erzählt. Fabiana ist schockiert, denn sie kennt diesen Mann nicht, der sich ihr als Paolo Pivoli vorstellt. Doch es kommt noch schlimmer: Paolo droht ihr mit Klage vor Gericht, besucht jede ihrer weiteren Lesungen und sitzt immer in der ersten Reihe, was Fabiana als direkte Bedrohung empfindet und sie total verängstigt, weshalb sie die Reihe ihrer Lesungen schließlich abbricht, um keine weitere Begegnung zu ermöglich. Doch bei einer ganz anderen Veranstaltung stoßen beide zufällig auf einander. Fabiana, die sich trotz ihrer Angst vor Paolo von seiner männlichen Ausstrahlung angezogen fühlt, geht mit ihm sogar eine Liaison ein …. und ein „Happy End“ scheint für beide vorgezeichnet.
Doch dies ist nur die Rahmenhandlung. Wir Leser ahnen frühzeitig – sogar der Klappentext des Buches offenbart es –, dass weit mehr hinter dieser Geschichte stecken muss. Die Autorin schildert rückblickend die jeweilige Lebensgeschichte ihrer beiden Figuren, beginnend mit beider frühen Kindheit: Die kleine Fabiana, von Abträumen geplagt, wächst wohl behütet in der Schweiz bei ihrer gutsituierten, alleinerziehenden Mutter auf, wird wegen ihrer Angstzustände von anderen Menschen ferngehalten und von einem Privatlehrer unterrichtet. Dagegen lernt Paolo in Italien frühzeitig, sich in seiner menschlich zerrütteten Familie zu behaupten, Macht über andere zu bekommen und zu seinem Vorteil auszunutzen.
Evelina Jecker Lambreva versteht es dank ihrer Erfahrung als niedergelassene Psychiaterin und Psychotherapeutin, im Laufe ihrer Erzählung so tief in die Psyche ihrer beiden charakterlich gegensätzlichen Figuren einzudringen und uns die Empfindungen, Ängste und Nöte sowie die inneren Kämpfe der jeweiligen Person in so komplexer Form, aber atmosphärischer Dichte leicht nachvollziehbar und so verständlich zu beschreiben, dass man als Leser mit ihnen empfinden, sich mit beiden ängstigen muss. Die Autorin schafft es, mit ihrer Geschichte uns Leser zu berühren, uns in Spannung zu versetzen, dass es schwerfällt, die Lektüre zu unterbrechen.
Es wird wohl auch den einen oder anderen kritischen Leser geben, dem die Handlung vielleicht in manchem Punkt zu konstruiert ist. Das mag für die Rahmenhandlung gelten. Doch selbst diese Kritik schmälert nicht die grundsätzliche Qualität des Romans, in dessen Kern es um Selbstfindung und Identität der Protagonisten, um familiäre Beziehungen und die Entwicklung ihrer jeweils eigenen Persönlichkeit geht, und die trotz aller Gegensätzlichkeit beide gleichermaßen von ihrer Familie betrogen wurden.
Während wir die Entwicklung beider Protagonisten vom Kind zum Erwachsenen begleiten, wird der kurze Roman unmerklich zu einem Psychothriller, dessen Spannung sich wie ein Ballon immer weiter „aufbläst“ …. bis die Autorin diesen Ballon durch eine völlig überraschende Wendung ihrer Geschichte unerwartet zum Platzen bringt. So ist „Mein Name ist Marcello“ ein in seinem dramatischen Aufbau ungewöhnlicher, in seiner psychologischen Tiefe beeindruckender Roman. Man kann diese 240 Seiten an nur einem langen Abend durchlesen. Doch die Erzählung wird bei vielen Lesern sicher noch ein paar Tage nachwirken und sie über das Schicksal von Fabiana Bianchi und Paolo Pivoli nachdenken lassen.