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Veröffentlicht am 08.11.2024

Erwachsenwerden und Träumen in den 90ern am Bodensee

Die große Sehnsucht
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Rabe, Fete und Michi - drei junge Männer im letzten Jahr vor dem Abitur in der Mitte der 90er Jahre, aufgewachsen in einer Stadt am Bodensee. Hier siedelt René Sydow seinen Roman - Die große Sehnsucht ...

Rabe, Fete und Michi - drei junge Männer im letzten Jahr vor dem Abitur in der Mitte der 90er Jahre, aufgewachsen in einer Stadt am Bodensee. Hier siedelt René Sydow seinen Roman - Die große Sehnsucht - an. Die drei Protagonisten sind durchweg sympathisch, jeder mit seinen eigenen Charaktereigenschaften, individuellen Herausforderungen und Träumen: Rabe, der von einer großen Karriere als Filmregisseur träumt, Fete, der viel unsicherer ist, als viele ihn sehen, Michi, der bei einer alleinerziehenden Mutter aufwächst und plant ans andere Ende von Deutschland zu ziehen. So unterschiedlich die Drei sind, so sehr sind sie freundschaftlich verbunden und stehen sich gegenseitig bei. In der Freundschaft von Rabe, Michi und Fete fängt Sydow ein typisches Aufwachsen in den 90er Jahren ein und legt dabei den Fokus auf eine ganz besondere Lebensphase, kurz vor dem Schulabschluss, wenn alles möglich scheint und die Welt jungen Menschen offen steht, sie doch gleichzeitig noch stark geprägt von ihrer Herkunft und dem Elternhaus sind. Eine Mischung aus Bewahren des Vertrauten und Erwartung des Ungewissen, was das Leben bringen mag, angereichert mit allen Träumen, die in diese Zukunft gelegt werden. Die zeitliche Verortung in den 90er Jahren sorgt hier für einiges an Nostalgie. Dinge die heute einen Großteil unseres Alltags bestimmen, wie Handys, Smartphones oder PCs spielten noch keine, oder in der Masse eine völlig untergeordnete Rolle. Andere Aspekte des Alltags, wie Videos und Videotheken hingegen, die heute in Vergessenheit geraten sind, nahmen auch für Jugendliche viel Raum ein, als Freizeitbeschäftigung und Treffpunkt.

Neben der Perspektive der jungen Männer, beleuchtet Sydow stellenweise auch die der Eltern. Gerade davon hätte ich mir noch etwas mehr gewünscht und denke ein intergenerationaler Vergleich hätte den Roman bereichern können.

Stilistisch bin ich bis zum Schluss leider nicht ganz warm geworden mit der Erzählweise. Die Gedanken und Handlungen werden von einer Art alles wissendem Erzähler präsentiert, was mich ein bisschen an Kinderbücher erinnert hat, auch wenn der Inhalt natürlich ein ganz anderer ist. Für mich ging durch dieses Erzählen leider etwas Authentizität verloren und ein echtes Einfühlen in und Nähe zu den Protagonisten blieb für mich trotz einiger Parallelen zu meiner eigenen Biografie aus. Insgesamt war der Roman für mich eine nette Lektüre, die an die Besonderheiten einer Jugend in den 90ern erinnert, jedoch leider kein Werk, das sehr nachhallt.

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Veröffentlicht am 20.09.2024

Ein Nest der Trostlosigkeit

Verlassene Nester
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Die jugendliche Pilly lebt wenige Jahre nach der Wende mit ihrem Vater im ehemaligen Grenzgebiet der DDR an der Elbe. In Pilly, ihrer Familie und Umfeld und dem kleinen Ort zeichnet Patricia Hempel wie ...

Die jugendliche Pilly lebt wenige Jahre nach der Wende mit ihrem Vater im ehemaligen Grenzgebiet der DDR an der Elbe. In Pilly, ihrer Familie und Umfeld und dem kleinen Ort zeichnet Patricia Hempel wie unter einem Brennglas die schwierige Situation in der Nachwendezeit für viele Menschen nach. Das Betonwerk, als großer Arbeitgeber ist abgewickelt und hinterlässt Arbeitslosigkeit, die auch Martin, Pillys Vater, schwer zu schaffen macht, die lokalen Geschäfte erhalten Konkurrenz von neuen, günstigen Super- und Baumärkten, ehemalige Vertragsarbeiterinnen leben in ungeklärtem Status und ohne feste Bleibe provisorisch in den Gartenkolonien. Die Stimmung ist trostlos, mit der DDR verschwinden für die Menschen auch immer mehr Ankerpunkte in ihrem Leben, alte Regeln werde durch neue ersetzt ebenso wie das Fernseh- und Radioprogramm. Kein Stein bleibt auf dem anderen und um so mehr möchte man sich am Verbliebenen festhalten.

Die Protagonist
innen von Verlassene Nester gehen sehr unterschiedlich damit um, während Martin den Verlust von Frau, Arbeit und der DDR im Alkohol zu ertränken versucht, kann Eli alles Neue nicht schnell genug erwarten, Katharina bleibt in sich gekehrt und zweifelt, ob die Veränderungen alle so sein müssen und gut sind, wie es suggeriert wird. Pilly erlebt mit Bine und Katja ihre eigene Pubertät in dieser historischen Sondersituation, man hat den Eindruck weitgehend unterhalb des Radars der Erwachsenen, die mit sich selbst und ihrem Platz in der neuen, sich verändernden Gesellschaft hadern. Ein zentraler Spannungsbogen der Erzählung ist der Verbleib von Pillys Mutter, der gelungen durch die Handlung trägt und lange viel Raum für Spekulation lässt.

Inhaltlich konnte mich der Roman leider nicht vollständig überzeugen, es werden viele wichtige Themen zum Teil nur angerissen, die mehr Tiefe verdient und benötigt hätten, um sie nur ansatzweise zu durchdringen, zumal ohne vertiefte Vorkenntnisse des historischen Kontexts. Die eigentlich gelungene Coming of Age Geschichte Pillys mit der Entdeckung ihrer Sexualität und sexuellen Orientierung konkurriert hier fast mit den Themen Fremdenfeindlichkeit gegenüber ehemaligen Vertragsarbeiter:innen, Mutterschaft, Republikflucht, der Rolle der Stasi und den schwierigen Umständen und Veränderungen nach der Wende für die Menschen der ehemaligen DDR.

Die Stimmung und Schilderungen der Lebenswelt habe ich fast durchweg als sehr angespannt und trostlos wahrgenommen, so sehr, dass es mir an einem bestimmten Punkt schwer fiel weiterzulesen.

Sprachlich finden sich einige gelungene Bilder und viele Metaphern die u.a. im Umgang mit Tieren den Zustand der Gesellschaft spiegeln sollen. Auch das Bild des Nestes durchzieht die Erzählung. Vollständig konnte mich die sprachliche Umsetzung jedoch nicht überzeugen. Nicht alle Bilder waren für mich wirklich eingängig und haben für mich so den Lesefluss eher gestört, als dass sie zur Verbildlichung beigetragen hätten. Auch bleibt der Stil seltsam distanziert, was gewollt sein mag, mir jedoch keinen der Protagonistinnen wirklich nahe gebracht hat, bis zum Ende sind mir die Menschen und der Ort seltsam fremd geblieben, obwohl ich teilweise sehr ähnliche biografische Erfahrungen mit ihnen teile. Ich befürchte auch, dass eben diese eigenen Erfahrungen mir geholfen haben, dem Roman überhaupt besser folgen zu können, da bestimmte Vokabeln, Eigenheiten und Gebräuche unerklärt und sich auch nicht ohne weiteres aus dem Kontext erschließend, darin eingebettet sind. Das sorgt zwar für Authentizität, behindert jedoch unter Umständen für Außenstehende den Lesefluss und/oder das Verständnis.

Zusammenfassend ist Verlassene Nester aus meiner Sicht ein wichtiges Buch, da es den Blick auf eine zentrale Epoche und das schwierige Schicksal der Menschen darin lenkt. Die inhaltliche und sprachliche Umsetzung konnte mich jedoch nicht vollständig überzeugen, sodass ich abwägend gute 3,5 Sterne vergebe.

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Veröffentlicht am 25.08.2024

Eine italienische Familiengeschichte von 1947 bis 2015

Das erste Licht des Sommers
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Das erste Licht des Sommers ist die Erzählung einer Familiengeschichte über mehrere Generationen und eine Liebesgeschichte zugleich, im Mittelpunkt Norma und ihre Familie und ihre Beziehung zu Elia.

Die ...

Das erste Licht des Sommers ist die Erzählung einer Familiengeschichte über mehrere Generationen und eine Liebesgeschichte zugleich, im Mittelpunkt Norma und ihre Familie und ihre Beziehung zu Elia.

Die Geschichte ist in drei Teilen gegliedert, die immer wieder von kurzen Einschüben aus der Gegenwart durchbrochen werden, in der Norma ihre Mutter Elsa zum Sterben in ihre Heimat begleitet. Im ersten Teil steht die Vergangenheit und Kindheit sowie das Aufwachsen von Norma und ihren Vorfahren im Mittelpunkt. Das Leben und die Stimmung sind zum Teil bedrückend, beschreiben sie doch ein hartes Leben in der ländlichen Provinz Italiens mit viel Armut. Der Erzählstil ist hier sehr distanziert, sodass es für mich zum Teil schwer war in die Geschichte zu finden. Im zweiten Teil liegt der Fokus auf Normas und Elias Zeit in London als Erwachsene. Hier ändert sich auch der Erzählstil, wird unmittelbarer und lässt so Normas und Elias Geschichte lebendig miterleben. Im dritten Teil nähern wir uns immer mehr der Gegenwart und damit auch einer Rückkehr an den Ursprung der ganzen Familie und Geschichte im italienischen Stellata.

Im Mittelpunkt der Erzählung stehen immer wieder Frauen, Mütter und ihre Töchter, die mit den jeweiligen Erwartungen, Normen und Gepflogenheiten ihrer Generation und Zeit hadern und versuchen ihren ganz eigenen Weg zu finden, sei dies Norma selbst, aber auch ihre Mutter Elsa, Großmutter Neve oder die Cousine Maria Luz und ihre Tante Adele. Diese inneren und äußeren Kämpfe der Frauen stellt Raimondi in diesem Generationen umspannenden Familienporträt wunderbar in den Vordergrund.

Ich mochte den Roman und die Geschichte um Norma und Elia grundsätzlich gern, jedoch hatte er für mich einige Längen, insgesamt war es mir zu viel. Zu viel Protagonist:innen in der Handlung, seien es Tanten, Cousinen, Freund:innen und Nachbar:innen, die phasenweise sehr viel Raum einnehmen und teilweise wieder verschwinden. Die jeweilige zeitgeschichtliche und politische Einordnung über den langen Zeitraum fand ich im Ansatz gut, jedoch oft zu ausführlich, und dies zum Teil ohne einen echten Erklärungsgehalt für die Geschichte Normas und Elias zu haben, wie etwa die ausführlichen Darstellungen der Situation im Iran. Insgesamt hätte die Erzählung aus meiner Sicht mit mehr Fokus und weniger Umfang an Qualität gewonnen.

Da ich begeisterte Leserin von Gabriel García Marquez bin, war ich auf die Einflüsse des magischen Realismus gespannt. Die Umsetzung war für mich jedoch nicht vollständig gelungen, und konnte mich nicht wie bei García Marquez in einen echten Bann ziehen.

Insgesamt bleibt Das erste Licht des Sommers für mich ein durchwachsenes Leseerlebnis. Interessante Einblicke in eine italienische Familiengeschichte und die Zwänge und Normen denen die Frauen verschiedener Generationen darin unterworfen sind, werden durch eine überfrachtete Handlung und zu wenig Fokus getrübt. Gerne vergebe ich gute 3,5 Sterne!

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Veröffentlicht am 23.04.2024

Die Chronologie eines Skandals in der Verlagswelt im Twitterzeitalter

Yellowface
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Athena hat alles was June sich immer erträumt hat. Mit Mitte 20 ist sie ein Star der Literaturszene, weiblich, divers, talentiert, gut aussehend. June hingegen ist eine vollkommen durchschnittliche weiße ...

Athena hat alles was June sich immer erträumt hat. Mit Mitte 20 ist sie ein Star der Literaturszene, weiblich, divers, talentiert, gut aussehend. June hingegen ist eine vollkommen durchschnittliche weiße Amerikanerin und erfolglose Autorin. Durch das gemeinsame Studium verbindet die beiden eine lose Freundschaft, und als Athena unglücklich beim Essen erstickt, ist June dabei. Ohne viel nachzudenken, schnappt sie sich Athenas neuestes Manuskript…

Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich Yellowface mit Schuld, kultureller Aneignung, Rassismus, Cancel Culture, der Rolle sozialer Medien in diesem Kontext und der hart umgekämpften Verlagswelt.

So interessant wie die Darstellung der Verlagswelt und auch die des Twitter und Social Media - Mobs waren, hatte der Roman für mich doch einige Längen. Viele Motive wiederholen sich und auch June entwickelt sich als Charakter nicht weiter, wird immer wieder in ihre Haltung zwischen Neid, Reue, Erfolgssucht hineingeschrieben und verharrt und verzweifelt dort. Zum Teil war der Charakter für mich inkonsistent, wenn einerseits das Schreiben als größte Passion herausgestellt wird und andererseits jedoch der Erfolg und die Anerkennung vollkommen im Vordergrund stehen - um jeden Preis.

Insgesamt lässt mich Yellowface etwas ratlos zurück. Es ist stilistisch gut geschrieben, gibt interessante Einblicke in die Verlagswelt und regt zum Nachdenken über Cancel Culture und die Rolle von Social Media an. Doch gleichzeitig bleibt es seltsam blass dabei, ohne echte Botschaft oder Charakterentwicklung und zeigt einige Längen. Für mich hallt Yellowface dadurch nur wenig nach und reiht sich in solide Unterhaltungsliteratur ein. Nach dem Hype um den Roman, habe ich etwas mehr erwartet.

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Veröffentlicht am 09.03.2024

Eine Männerrunde ermittelt

Der Baron
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Berthold Warstein steigt vor dem Lokal in dem der Geburtstag seiner Tochter gefeiert wird aus dem Auto, bricht zusammen und verblutet aufgrund einer Schusswunde. Was ist passiert? Warstein, von allen aufgrund ...

Berthold Warstein steigt vor dem Lokal in dem der Geburtstag seiner Tochter gefeiert wird aus dem Auto, bricht zusammen und verblutet aufgrund einer Schusswunde. Was ist passiert? Warstein, von allen aufgrund des adeligen Ursprungs seiner Familie nur der Baron genannt, war Inhaber einer erfolgreichen Naturkosmetikmarke in Meran und Rennstallbesitzer.

Und so tauschen wir mit den Ermittlern nicht nur in seine Firmenwelt, sondern auch in die umstrittene Pferderennsportwelt zwischen Tierwohl und Profit ein.

Die Geschichte wird relativ klassisch im Stil eines (Vor-)Abendkrimis erzählt. Insgesamt gibt es relativ viele Verdächtige, die auftauchen und dann wieder ausgeschlossen werden, manchmal sind die Wendungen nach meinem Geschmack zu abrupt, ohne das wirkliche Spannung aufkommt. Die Personenübersicht zu Beginn des Buchs ist hier hilfreich, ich hätte mir angesichts der Fülle jedoch sogar noch mehr Erläuterungen dort zu den Figuren erwünscht, damit ich sie in der Handlung besser zuordnen kann. Interessant fand ich das Verhältnis zwischen Carabinieri und der Staatspolizei, welches mir bisher immer Rätsel in Italien aufgegeben hat. Mir fehlte in der ganzen Ermittlung etwas Tempo, das leider auch nicht zumindest mit schönen Landschaftsbeschreibungen „ausgeglichen“ wurde, wie bei anderen Krimis aus der Region.

Die Dynamik zwischen Terranostra (Carabinieri) und Farner (Staatspolizei) war durchaus unterhaltsam und auch innerhalb der jeweiligen Teams gab es zum Teil humorvolle Dialoge. Für mich persönlich hatte die gesamte Handlung jedoch zu viel Testosteron. Alle Ermittler, Verdächtige und Opfer im Roman sind ausschließlich Männer. Auf mich wirkte dieses Setting im Jahr 2024 seltsam aus der Zeit gefallen. Aber wir dürfen hoffen, denn es kündigt sich eine Frau im Team an.

Ein solider Krimi mit einigen überraschenden Wendungen. In der Fortsetzung hoffe ich auf mehr Meran und etwas Frauenpower.

Ich gebe solide 3,5 Sterne.

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