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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 10.11.2024

Atmosphärisch und unterhaltsam

Gefährliche Betrachtungen
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Wahnsinn, ein Krimi mit Thomas Mann! Natürlich nicht als Verbrecher oder Spitzbub, sondern Opfer und gleichzeitig Ermittler bzw. zumindest dessen Assistest - oder sogar Auftraggeber? Aber der ...

Wahnsinn, ein Krimi mit Thomas Mann! Natürlich nicht als Verbrecher oder Spitzbub, sondern Opfer und gleichzeitig Ermittler bzw. zumindest dessen Assistest - oder sogar Auftraggeber? Aber der Fall ist nur ein Aspekt dieses vielschichtigen, im Jahr 1930 auf der Kurischen Nehrung, also in Litauen an der direkten Grenze des Deutschen Reiches spielenden historischen Romans.

Dicht und eindringlich schildert Autor Tilo Eckardt die Situation aus der Sicht des jungen litauischen Übersetzers Žydrūnas Miuleris, der hofft, vom großen Meister mit der Übersetzung der "Buddenbrooks" beauftragt zu werden. Gleichzeitig macht er seiner Auserkorenen, einer Kommilitonin, die den Sommer über in Nidden jobbt, diskret und dennoch hartnäckig den Hof. Durch sie bzw. durch ihren Job in der örtlichen Wirtschaft gerät er mitten in einen politischen Streit, während dem einige kostbare Blätter einer sehr persönlichen Stellungnahme Thomas Manns, die der berühmte Autor ihm kurzfristig anvertraut hatte, verloren gehen.

Zusammen mit dem Nobelpreisträger begibt sich Miuleris auf die Suche danach, doch bald stellt sich heraus, dass sie einer deutlich größeren Sache auf der Spur sind.

Wer Spaß hat an einer unterhaltsamen Handlung mit spannendem historischen Hintergrund, der ist hier richtig. Der Autor versteht es, eine Atmosphäre zu erzeugen, die im Jahr 1930 tatsächlich hätte herrschen können . Ich jedenfalls habe mich in dem von ihm erschaffenen Nidden wie zu Hause gefühlt und empfand das Miteinander der Völker - der Litauer, Deutschen, Russen und anderweitiger Nationen - als sehr treffend wiedergegeben. So hätte es damals sein können in Nidden - ein heiterer Sommer mit durchaus realen drohenden Vorzeichen aus der rechten politischen Ecke!


Veröffentlicht am 30.10.2024

Autistin mit Herz

All die kleinen Vogelherzen
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Das ist Sunday, die in einem kleinen englischen Dorf lebt und ihre Tochter Dolly allein großzieht - ihr ehemaliger Mann hat sich ob ihrer Eigenarten längst von ihr getrennt und auch die ehemaligen Schwiegereltern, ...

Das ist Sunday, die in einem kleinen englischen Dorf lebt und ihre Tochter Dolly allein großzieht - ihr ehemaliger Mann hat sich ob ihrer Eigenarten längst von ihr getrennt und auch die ehemaligen Schwiegereltern, Inhaber einer großen Gärtnerei, sehen sie eher als Arbeitskraft. Damit, dass ihre Tochter sie oft nicht versteht, hat sie sich längst arrangiert, obwohl ihr dies immer noch überaus schwerfällt.

Deswegen ist es für Sunday überraschend, dass ihre neue Nachbarin Vita den Kontakt förmlich sucht - nach kurzer Zeit schon werden Sunday und Dolly jeden Freitag bei ihr und ihrem Ehemann zum Dinner eingeladen. Mehr und mehr jedoch ist es Dolly, um die sich Vita kümmert, nach einiger Zeit verbringt sie dort ihre gesamten Wochenende. Mindestens. Es heißt, sie arbeitet für die beiden.

Sunday fühlt sich ausgegrenzt und versucht erfolglos, die Situation zu ändern. Dass es noch dicker kommen wird, kann sie nicht ahnen.

Ein wundervoller Roman, in dem es um das Anderssein geht - und zwar von innen heraus. Denn die britische Autorin Viktoria Lloyd-Barlow ist selbst Autistin und hat es mit diesem Roman 2023 auf die Longlist des Booker Prize geschafft. Was heißt geschafft: ich könnte mir vorstellen, dass die Juroren von der eigenwillig-bezaubernden Sprache der Autorin, ihrer Selbstverständlichkeit, bestimmte Angelegenheiten direkt anzusprechen, genauso verzaubert waren wie ich!

Veröffentlicht am 27.10.2024

Vier völlig unterschiedliche Schwestern

Blue Sisters
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Die sehr aneinander hängen. Deswegen ist jede einzelne der drei verbliebenen vollkommen verloren, als eine von ihnen plötzlich stirbt. Aufgrund ihrer Verschiedenheit drückt sich das recht unterschiedlich ...

Die sehr aneinander hängen. Deswegen ist jede einzelne der drei verbliebenen vollkommen verloren, als eine von ihnen plötzlich stirbt. Aufgrund ihrer Verschiedenheit drückt sich das recht unterschiedlich aus und führt zu Missverständnissen - untereinander, aber auch außerhalb dieses Schwestern-Teams.

Doch es passiert noch etwas anderes: jede einzelne der Schwestern hinterfragt sich und ihre engste Umgebung und lernt sich dadurch neu kennen, was zu einer Neudefinition ihrer selbst führt: Neue Wege sind zu beschreiten, weshalb alte nicht unbedingt abgeschnitten werden müssen.

Ich fühlte mich in diesem Buch direkt zu Hause und von der Autorin gut verstanden, für mich ist diese Geschichte mit all ihren Konsequenzen absolut rund.

Ein wundervolles Buch, das ich jedem ans Herz lege, der gerne intelligente und zugleich herzliche Familiengeschichten liest.

Veröffentlicht am 23.09.2024

Eine Perle - nein, ein Diamant der Literatur

Bevor es geschah
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"Bevor es geschah" von Céline Spierer ist ein ruhiges, doch außerordentlich gehaltvolles Buch mit so einigen Botschaften in Bezug auf Familie und deren Bedeutung für jedes einzelne Mitglied. Es geht um ...

"Bevor es geschah" von Céline Spierer ist ein ruhiges, doch außerordentlich gehaltvolles Buch mit so einigen Botschaften in Bezug auf Familie und deren Bedeutung für jedes einzelne Mitglied. Es geht um ein sonntägliches Familienessen im Hause der Mutter, das die ältere Tochter - eine von insgesamt vier längst erwachsenen Kindern von Elisabeth und ihrem verstorbenen Mann - immer mal wieder für alle vorbereitet. Wir erfahren die Wahrnehmung jedes erwachsenen Familienmitglieds, auch der eingeheirateten - jede/r der beiden Töchter und der beiden Söhne ist in Begleitung seiner/s Partner/in, teils auch mit Kindern erschienen - sowohl auf diese Geselligkeit als auch auf die Familie insgesamt, lesen von Tabus, von Verbindungen, Einsamkeiten und anderen verbindenden oder auch trennenden Faktoren.

Doch dann passiert ein Unglück und alle sind gefordert - jede/r Einzelne auf seine ganz eigene Art - und auf einmal setzt sich das Familienpuzzle neu zusammen.

Ich habe daraus gelernt, dass jeder seinen Platz hat, dieser sich im Laufe der Zeit aber auch ändern kann - man muss nur den Mut haben, das zuzulassen! Sowohl im Hinblick auf sich selbst als auch in seiner Sichtweise anderer Personen innerhalb der eigenen Familie.

Ich bin wirklich dankbar, dass ich dieses ganz besondere Buch kennenlernen durfte, es ist auf jeden Fall eine große literarische Bereicherung für mich!

Veröffentlicht am 05.08.2024

Die Vielseitigkeit des Autors T.C. Boyle

I walk between the Raindrops. Stories
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Wie Perlen aneinandergereiht die Kurzgeschichten von T.C. Boyle. Mein Eindruck ist, dass der Autor sich hier einen Eindruck - oder eher ganz viele - auf die globale Gesellschaft der Gegenwart und der ...



Wie Perlen aneinandergereiht die Kurzgeschichten von T.C. Boyle. Mein Eindruck ist, dass der Autor sich hier einen Eindruck - oder eher ganz viele - auf die globale Gesellschaft der Gegenwart und der nahen Zukunft gönnt - wie sie ist und auch, wie sie sein könnte. Neben sozialen Fragestellungen, dem menschlichen Egoismus, Beziehungen der unterschiedlichsten Art und dem Leben an sich geht es auch um Themen wie KI und Formen der staatlichen Kontrolle.

Wie immer bringt mich der Autor auf Gedanken, die ich ohne ihn gar nicht gehabt hätte. Natürich, die eine Geschichte gefiel mir mehr, die andere wieder deutlich weniger - aber jede einzelne war es wert, gelesen zu werden. Auch wenn die Gedanken, die mir während der Lektüre, vor allem aber danach durch den Kopf gingen, eher unangenehm waren. Denn Boyle schafft es einmal mehr, seinen Lesern einen Spiegel vorzuhalten, diese dazu zu bringen, sich grundlegenden Fragen der menschlichen Natur zu stellen.

Wer auf die Schnelle einen Eindruck von der Vielseitigkeit, dem weiten Blick und dem scharfen Auge von T.C. Boyle erhalten will, der sollte definitiv zu diesem Buch greifen. Nicht, dass er sich nicht auch in seinen Romanen beweisen würde, aber hier geschieht es - da auf so konzentrierte Art und Weise - auf die denkbar eindrücklichste Art.