Vielschichtiger Roman über ein wichtiges Thema
AntichristieDie Aufarbeitung der kolonialistischen Vergangenheit ist in Großbritannien bis heute eher Mangelware – auch in der Literatur ist dieses Thema, vor allem wenn es um Romane von etablierten Autorinnen und ...
Die Aufarbeitung der kolonialistischen Vergangenheit ist in Großbritannien bis heute eher Mangelware – auch in der Literatur ist dieses Thema, vor allem wenn es um Romane von etablierten Autorinnen und Autoren geht, beschämend unterrepräsentiert. Diesen Mangel füllen mitunter ausländische Schriftsteller aus Indien oder Südafrika. Mithu Sanyal ist es zu verdanken, dass es 2024 mit ihrem zweiten Roman „Antichristie“ zumindest einen erwähnenswerten deutschsprachigen Titel zum Kolonialismus und seinen Folgen gibt.
Als Zeitreisende bewegt sich die Protagonistin Durga durch zwei Welten: In der Gegenwart wird sie mit Themen wie Cancel Culture und Rassismus konfrontiert, wobei der Tod der Queen die Ausgangsbasis des Geschehens bildet. In den Tagen der offiziellen Trauer ist Durga damit beauftragt, für eine Fernsehserie eine alternative Version von Hercule Poirot – dem legendären Ermittler von Agatha Christie – zu entwickeln, was unmittelbar zu tiefgreifenden Debatten über kulturelle Aneignung, Identität und Diversität führt. Und auch der Tod von Queen Elizabeth II. wird zum Anlass genommen, deren Rolle im Kolonialismus zu hinterfragen.
In der Vergangenheit taucht Durga ins Londoner India House des frühen 20. Jahrhunderts ein, wo sich historische Figuren wie Vinayak Damodar Savarkar versammeln, um mit Bombenbau und Waffenschmuggel für Indiens Unabhängigkeit zu kämpfen.
Stets von einem unterschwelligen Humor begleitet, präsentiert sich Sanyals Text als eine dynamische Abfolge steiler Thesen und provokanter Aussagen, die nicht nur historische Tatsachen hinterfragen, sondern ihnen oft auch ironisch eine neue Bedeutung verleihen; ebenso werden auch historische Figuren mitunter ziemlich entfremdet. In teilweise ellenlangen Dialogen kommt es zu scharfen Auseinandersetzungen, in denen politische und ideologische Gegensätze aufeinandertreffen. Dabei gelingt es der Autorin, das Wesen des modernen Menschen als zutiefst zwiegespalten zu zeigen: selbstbewusst in seinen Ansichten, jedoch zunehmend verunsichert durch gesellschaftliche Normen und die Frage, wie weit Meinungsfreiheit reichen darf. Dieses psychologische Porträt spiegelt die zeitgenössischen Spannungen wider, die das Denken und Handeln in einer von Cancel Culture und wachsender Diversität geprägten Welt beeinflussen.
Dass die Autorin bei dieser Vielzahl an unterschiedlichen Themen und Auslegungsarten nicht immer zu finalen Schlussfolgerungen kommen kann, ist kaum verwunderlich. So mal in den meisten Fällen unterschiedliche Sichtweisen durchaus nachvollziehbar sind. So entzieht sich auch ihre fiktive Version von Savarkar einer endgültigen Beurteilung, was im Anbetracht dessen, dass seine Reputation auch in der Realität nicht zweifelsfrei geklärt ist, nur vernünftig ist.
Die Vielschichtigkeit des Romans ist beachtlich. Sanyal geht mit großer Ambition an ihr Projekt heran und verwebt zahlreiche Ebenen – von gesellschaftspolitischen Debatten über historische Ereignisse bis hin zu Fragen der Identität und kulturellen Verantwortung. Aufgrund dieser Komplexität ist eine einmalige Lektüre kaum ausreichend, um alle Facetten angemessen würdigen zu können. Als ein Spiegel aktueller Diskurse und einer gleichzeitig tiefgründigen Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit darf „Antichristie“ aber in jedem Fall als ein mutiges literarisches Experiment angesehen werden, das Historienroman und Gesellschaftskritik auf einzigartige Weise verbindet.