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Veröffentlicht am 28.11.2024

Kunstvoll, skurril und isländisch, aber auch atmosphärisch und tragisch

Moosflüstern
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Bücher von Joachim B. Schmidt sind immer besonders, aber dieses hier ist besonders besonders. Er hat ein ungewöhnliches Thema ausgegraben und es geschafft, das Geschehen auf zwei Zeitebenen elegant und ...

Bücher von Joachim B. Schmidt sind immer besonders, aber dieses hier ist besonders besonders. Er hat ein ungewöhnliches Thema ausgegraben und es geschafft, das Geschehen auf zwei Zeitebenen elegant und kunstvoll zu verknüpfen. Tiefen Respekt!


1949 wurden tatsächlich deutsche Frauen angeworben, nach Island zu ziehen und da zu arbeiten. Das eh schon schwach besiedelte Land hatte nach dem Krieg einen starken Frauenmangel zu beklagen, da viele Frauen mit amerikanischen Soldaten nach Amerika gezogen waren. In Deutschland dagegen gab es viele Frauen, die ohne Mann, Job oder Perspektive nach einem Ausweg suchten und bereit waren, ein Abenteuer zu wagen.


Eine dieser Frauen war die Mutter von Heinrich Lieber. Heinrich ist mutterlos in Deutschland aufgewachsen und erfährt erst kurz nach ihrem Tod von ihrer Existenz. 40 Jahre lang dachte er, seine Mutter wäre tot und jetzt hatte sie ein Leben in Island? Ohne Ihn? Wie konnte das passieren?


Sie erzählen uns abwechselnd ihre Geschichte, Heinrich und seine Mutter Anna. Beide sind verzweifelt und reisen nach Island, nur liegen dazwischen 40 Jahre. Und beide sind Antihelden, die man liebgewinnt. Heinrich ist eigentlich bekannt für seine Akkuratesse, trotzdem hat er einen Fehler begangen und macht alles nur noch schlimmer beim Versuch, ihn zu vertuschen. Anna ist frisch aus der Anstalt geflohen, als sie das Schiff nach Island besteigt.


Joachim B. Schmidt erzählt einfühlsam, originell und auch humorvoll. Mit viel Liebe zu seinen Figuren und zu Island, entwirft er eine Geschichte, die kein Mensch zuvor gelesen hat. Es ist eine schräge Geschichte, skurril und isländisch, aber auch atmosphärisch und tragisch. Das Lesen fesselt und macht Spaß. Ich bin wieder einmal beeindruckt und traurig, dass dieses Buch vorbei ist.

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Veröffentlicht am 22.11.2024

Berührend und aufschlussreich

Die Zeit im Sommerlicht
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Es ist schon erstaunlich, wo sich überall Volksgruppen finden, die diskriminiert wurden und werden. In Lappland leben Sami seit Jahrhunderten von der Rentierzucht und haben eine ganz eigene Kultur, auf ...

Es ist schon erstaunlich, wo sich überall Volksgruppen finden, die diskriminiert wurden und werden. In Lappland leben Sami seit Jahrhunderten von der Rentierzucht und haben eine ganz eigene Kultur, auf die das zivilisierte Schweden müde herabblickt. In den 50er Jahren wurden sogar Sami-Kinder zum Besuch sogenannter Nomadenschulen gezwungen, wo ihnen Schwedisch und „zivilisiertes Benehmen“ beigebracht wurde.

Hier begleiten wir einige Kinder in so eine Schule, ein Internat, das wie ein Umerziehungslager geführt wird, in dem es nichts zu Lachen gibt. Die gleichen Kinder trifft man dann noch 1986 und sieht, was aus ihnen geworden ist. Die Schule hat bei jedem von ihnen tiefe Spuren hinterlassen, sichtbare und unsichtbare.

Dieses Buch erzähl einfühlsam von Menschen und Schicksalen, beleuchtet aber gleichzeitig ein trauriges Kapitel der Geschichte. Es macht anrührend auf die Kultur der Samen aufmerksam, von der wir hier kaum je gehört haben. Ich habe es gerne gelesen und bin deutlich klüger als vorher.

Das Hörbuch liest Jana Marie Backhaus-Tors sehr schön und bringt uns sogar ein bisschen Samisch bei. Es dauert 11 Stunden und 20 Minuten.

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Veröffentlicht am 12.11.2024

Ein Fanal für Diversität

When Women were Dragons – Unterdrückt. Entfesselt. Wiedergeboren: Eine feurige, feministische Fabel für Fans von Die Unbändigen
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Beinahe hätte ich dieses Buch nicht beachtet. Das harmlose Blümchencover ist eigentlich nicht mein Beuteschema und tarnt dieses wunderbare Buch als nette Sonntagslektüre, dabei ist es noch ganz viel mehr.

Wir ...

Beinahe hätte ich dieses Buch nicht beachtet. Das harmlose Blümchencover ist eigentlich nicht mein Beuteschema und tarnt dieses wunderbare Buch als nette Sonntagslektüre, dabei ist es noch ganz viel mehr.

Wir sind in einer absonderlichen Welt. Eigentlich ist es das brave Amerika der 60er Jahre, wo alles wohlgeordnet ist, der Mann die Familie versorgt und die Gemahlin um Punkt 18.00 mit frischer Dauerwelle das Essen serviert. Es gab Vorfälle, ja, aber die passen nicht ins Bild und werden unter den Teppich gekehrt. Selbst das große Drachenwandeln, bei dem die halbe Stadt in Brand geriet und Frauen zu Hunderten verschwanden, bleibt offiziell ein Gerücht.

Alex wächst damit auf, dass man nicht über Drachinnen spricht, am besten nicht darüber nachdenkt, dabei gab es selbst in ihrer Familie merkwürdige Vorkommnisse und Alex hat Fragen, die sie nicht stellen darf. Sie ist zu klug und zu neugierig für eine Welt, in der Frauen nichts zu sagen haben und Intelligenz unnötig ist.

Die Atmosphäre ist cosy amerikanisch mit geheimnisvollem Zauber, aber auch Kritik und bissiger Ironie. Später kommt noch ein bisschen Dickens-Flair dazu. Es wirkt beinahe märchenhaft, die Bösen sind wirklich böse und die Guten herzallerliebst, hat aber auch interessante Grautöne. Alex Mutter zum Beispiel fordert von ihr gnadenlose Disziplin in allen Lebenslagen und knüpft gleichzeitig kunstvolle Amulette und webt geheimnisvolle Knotenmuster in alle ihre Kleidungsstücke. Es scheint kein rein dekorativer Spleen zu sein, warum macht sie das?

Der Erzählstil ist wundervoll, eine schöne, originelle Sprache, sanft, aber mit Biss und Humor, wie eine kuschelige Decke mit Weckfunktion, die einen ein bisschen zwickt, wenn es zu nett ist.

„Der Himmel war geradezu herzzerreißend blau und die Welt roch, als hätte etwas Neues begonnen.“

Solche Sätze sind einfach nur schön und gehen mitten ins Herz. Dieses Buch packt einen und nimmt mit. Es ist ganz viel auf einmal, wunderschön, tieftraurig, märchenhaft, humorvoll, originell, herzergreifend und ein Fanal für Diversität. Am Ende denkt man voller Überzeugung: Jaaaaaa, ich will auch eine Drachin sein.

Dieses Buch hat kein Blümchencover verdient, es bräuchte es ein Regenbogenfeuerwerk.

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Veröffentlicht am 28.09.2024

Perfide, eindrucksvoll, brillant erzählt und ein wenig gruselig

Das große Spiel
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Dieses Buch habe ich erst im Nachgang verstanden. Ich habe es eineinhalb Mal gelesen, habe es gleichermaßen verflucht und bewundert, habe mich amüsiert und mir den Kopf zerbrochen und jetzt bin ich erschüttert ...

Dieses Buch habe ich erst im Nachgang verstanden. Ich habe es eineinhalb Mal gelesen, habe es gleichermaßen verflucht und bewundert, habe mich amüsiert und mir den Kopf zerbrochen und jetzt bin ich erschüttert und tief beeindruckt.

Es geht um alles ein bisschen, nichts davon ist offensichtlich, allerdings grandios verpackt. Richard Powers hat hier ein 500 Seiten Puzzle entworfen, ein Verwirrspiel auf mehreren Ebenen, das man, wenn überhaupt, erst ganz am Schluss versteht.

Da ist ein schwer kranker Mann, der weiß, dass all sein Geld und all sein Einfluss nichts gegen Lewy-Körper-Demenz ausrichten können. Ziemlich bald wird ihm sein Leben entgleiten und bis dahin muss er seine Hinterlassenschaft regeln. Es sind noch Rechnungen offen und er erzählt, solange er noch kann.

Todd und Rafi sind beste Freunde seit der Schulzeit. Beide sind Nerds, klug und spielverrückt, Todd findet darin sogar seine Berufung und programmiert später Spiele.

Evelyn hat als Kind mit dem Tauchen angefangen und erforscht seitdem mit Leidenschaft die Unterwasserwelt der Ozeane.

Ina hat Todd und Rafi zu Studienzeiten kennengelernt. Sie ist Künstlerin und kommt von der verschlafenen Insel Makatea, wo schließlich alle zusammentreffen und Entscheidungen zu fällen sind.

Für dieses Buch braucht man Geduld und Durchhaltevermögen. Es ist brillant geschrieben, in wunderbarer Sprache mit feinem Humor und unglaublichem Fachwissen in gleich mehreren Disziplinen. Die Recherche zu diesem Buch muss unglaublich gewesen sein. Wir bekommen hier die komplette Entwicklung der IT von ihren Anfängen bis heute, Programmierung, Spieleentwicklung, mit geschichtlichem, technischem und sogar philosophischem Hintergrund, dazu noch einen Kurs in Ozeanographie und alles Wissenswerte zur Insel Makatea im Wandel der Zeiten. Das alles ist die Kulisse für die Geschichte einer Freundschaft, die auch Rätsel aufgibt. Es wechseln die Perspektiven, die Zeiten, die Orte und es dauert sehr lange, bis man den roten Faden sieht, nur um dann wieder im Regen zu stehen, wenn sich ganz am Ende die Informationen zu widersprechen beginnen.

Über das Ende musste ich länger nachdenken. Es ist berührend und dramatisch, aber da sind auch Ungereimtheiten, planvoll angelegte Ungereimtheiten, die ich erst nicht verstanden habe.

Ich glaube, mich hat die Buchbeschreibung zu sehr beeinflusst, die Dystopisches suggeriert und sagt, es ginge um die Zukunft des Inselparadieses Makatea. Dabei ist das alles nur die Kulisse, das Spielbrett des viel größeren Spiels, das der Autor mit uns hier getrieben hat, um eine finstere Botschaft zu illustrieren.

„Die tödliche Bedrohung, die von künstlicher Intelligenz ausgeht, ist vergleichbar mit der einer Pandemie oder eines Atomkriegs, und sie einzudämmen, sollte unsere oberste Priorität sein.“

Ist das so? Auf jeden Fall lernen wir hier, wie leicht sich Realitäten verschieben lassen, perfide, eindrucksvoll und ein wenig gruselig.

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Veröffentlicht am 03.09.2024

Innovativer Geschichtsunterricht mit Herzblut

Das Geheimnis der Glasmacherin
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Es hat tatsächlich ein bisschen gedauert, bis wir Freunde wurden, dieses Buch und ich, aber jetzt habe ich es beendet und bin begeistert, gerührt und voller Bewunderung für eine Autorin, die mich immer ...

Es hat tatsächlich ein bisschen gedauert, bis wir Freunde wurden, dieses Buch und ich, aber jetzt habe ich es beendet und bin begeistert, gerührt und voller Bewunderung für eine Autorin, die mich immer wieder überrascht.

Tracy Chevalier ist hier ein Geniestreich gelungen, an den man sich gewöhnen muss. Sie erzählt die Geschichte einer Glasmacherfamilie aus Murano über 500 Jahre hinweg, nur leben die Mitglieder der Familie in einer Art Zeitblase. So ist das bei Künstlern, die in ihrer Arbeit versinken, im Flow sind, sie haben ihre eigene Zeit, merken nicht, wie sich die Welt um sie herum weiterbewegt. Die Familie Rosso lebt für das Glasmachen, schon immer.

1486 ist Orsola Rosso 9 Jahre alt und fällt bei ihrem ersten Venedigbesuch ins Wasser, 1574 ist sie 18 Jahre und lernt Glasperlen herzustellen. 1631 ist sie kaum älter und kann diese Perlen während der Pestepidemie als Zahlungsmittel benutzen.

Wir bekommen eine Familiengeschichte erzählt, die sich über 500 Jahre erstreckt, ohne dabei massenhaft Kinder, Enkel und Urenkel verdauen zu müssen. Die Familie Rosso wird langsam älter, während sich die Welt viel schneller bewegt und das passiert viel organischer als es jetzt klingen mag. Man erlebt fast nebenbei die Geschichte der Glasmacher in Murano mit, sogar die Geschichte Venedigs im Wandel der Zeit, 500 Jahre Kulturgeschichte, trifft dabei Giacomo Casanova und Kaiserin Josephine höchst persönlich. Tracy Chevallier schmückt diese Geschichte mit unglaublich vielen historischen Details. Sogar die Dienstkleidung der Gondoliere im Wandel der Zeit wird beobachtet und dokumentiert.

Man hat bislang vielleicht schon mal gehört, dass in Murano Glas hergestellt wird, nach dem Lesen dieses Buches weiß man, was das heißt und ist beeindruckt. Es schafft eine fast selbstverständliche Symbiose von schicksalhafter Familiengeschichte und Historie, ist ein toller Schmöker zum Mitfiebern und vermittelt nebenher ganz viel Wissenswertes, nicht zuletzt eine Passion für künstlerische Glasperlen, aus Murano natürlich, nicht das billige Zeug aus China!

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