Zutiefst berührendes Schicksal einer ukrainischen Familie
Denk ich an KiewDer deutsche Titel erinnerte mich beim ersten Hinschauen an Heinrich Heine, Denk ich an Deutschland in der Nacht…, ich las den Klappentext und wusste, dieses Buch muss ich lesen. Ich habe es nicht bereut, ...
Der deutsche Titel erinnerte mich beim ersten Hinschauen an Heinrich Heine, Denk ich an Deutschland in der Nacht…, ich las den Klappentext und wusste, dieses Buch muss ich lesen. Ich habe es nicht bereut, aber es hat mich tief betroffen gemacht.
Die amerikanische Originalausgabe hat den Titel The Memory Keeper of Kyiv, der Roman bewahrt tatsächlich die Erinnerung an die schändliche russische Aushungerungspolitik von Anfang der 1930er Jahre. Vor den Augen des Lesers entsteht eine für menschliche Dimensionen eigentlich nicht vorstellbare, katastrophale Situation. Stalin beschließt die Vernichtung des ukrainischen Volkes auf die perfideste Weise, der Holodomor wird in der Ukraine als Genozid betrachtet. Wer dieses Buch gelesen hat, wird eher verstehen, warum noch heute, 90 Jahre nach dieser menschengemachten Hungersnot und den Millionen Toten abgrundtiefer Hass zwischen Ukrainern und Russen besteht. Wer dieses Buch gelesen hat, weiß dann auch, dass der Ausspruch „Die Zeit heilt alle Wunden“ nur eine leere Phrase ist.
Der Roman beginnt 2004, wir lernen Cassie kennen, eine junge Frau am seelischen Abgrund, die versucht, sich und ihr Töchterchen Birdie über die Runden zu bringen. Ein Jahr zuvor verlor Cassie ihren Ehemann und Birdie den Vater durch einen Autounfall. Birdie überlebt nur knapp, spricht seitdem kein einziges Wort. Cassie ist nicht in der Lage, zu arbeiten, sie ist Journalistin und findet keinen Zugang mehr zum Schreiben. In diese Situation platzt ihre Mutter mit der Nachricht, dass die Oma, genannt Bobby, Hilfe braucht. Cassie und Birdie ziehen also kurzerhand zur Großmutter. Für Cassie beginnt eine neue Zeitrechnung. Es wird noch eine Weile dauern, bis sie sich öffnet, sie lernt den Feuerwehrmann Nick kennen, es beginnt eine Freundschaft, die sich auf sehr subtile Weise entwickelt. Beide haben etwas gemeinsam: ihre Vorfahren kamen aus der Ukraine nach Amerika. Nick jedoch ist derjenige, der die Sprache spricht und auch über die Vergangenheit und die Geschichte der Ukraine einiges weiß. Cassie hat zwar ab und an versucht, der Großmutter einige Erinnerungen zu entlocken, aber diese verschloss sich wie eine Auster.
Nun ist die Großmutter nicht nur alt, sie ist auch krank, es macht sich eine Art Verwirrtheit und beginnender Demenz bemerkbar. Cassie findet merkwürdige Zettel, entdeckt ein Tagebuch, alles Ukrainisch, und sie entdeckt Lebensmittel an den merkwürdigsten Stellen. Nick hilft ihr, zuerst die Zettel und später die Tagebuchaufzeichnungen zu entschlüsseln. Es wird langsam deutlich, was die Großmutter – als Katja – in ihrer Jugend erleiden musste.
Die zweite Ebene des Romans geht zurück in die Ukraine der frühen 1930er Jahre. Der Leser lernt ein fröhliche, funktionierende Bauernfamilie kennen: Katja, ihre Eltern, ihre Schwester Alina, die Nachbarn und deren Söhne Pawlo und Kolja. Die Schwestern werden die beiden Brüder heiraten, aber das Leben steht schon unter einem schlechten Stern. Stalin hat seine „Aktivisten“ in die Ukraine geschickt, um insbesondere Getreide zu requirieren, er will eine Kollektivierung durchsetzen, die auf Widerstand stößt. Aber Widerstand erweist sich als tödlich, viele Menschen werden deportiert, die verbleibenden Bauern müssen für die Kolchosen schuften und erhalten von Monat zu Monat weniger zu essen. Sie werden einfach ausgehungert. Das von Cassie und Nick entzifferte Tagebuch bringt diese Perfidie zu Tage. Cassie ist kaum in der Lage, diese Enthüllungen zu ertragen. Hinzu kommt ihre selbstauferlegte Schuld ihrem verstorbenen Ehemann gegenüber, sie wagt nicht, sich neu zu verlieben und einem neuen Leben zu öffnen. Es ist ein schwieriger Prozess, den sie durchläuft, Nick versucht ihr diesen Weg zu erleichtern, aber er braucht viel Geduld. Fast nebenbei gelingt es ihm, Birdie zum Sprechen zu bringen. Die Kleine blüht auf in seiner Gegenwart, aber sie entwickelt auch zur Uroma Bobby ein liebevolles Verhältnis.
Der Roman wechselt von Kapitel zu Kapitel Ort und Zeit, in jedes Kapitel findet man sofort hinein, die Autorin bringt den Leser dazu, mitzudenken, mitzufiebern, mitzuleiden. Je mehr Katja erleiden muss, umso schwerer fiel mir das Lesen, die schrecklichen Schilderungen der Hungersnot und ihre Auswirkungen auf jeden Menschen sind schwer zu ertragen. Die Verluste, die Katja erträgt und die trotz allem nicht aufgibt, mit der selbst auferlegten Pflicht, Halya, die Tochter ihrer ermordeten Schwester, zu retten, durchzieht das Buch.
Das Buch hat einen klaren, gut lesbaren Stil, aus meiner Sicht eine sehr gute adäquate Übersetzung. Ich habe das Buch auch in der Originalausgabe, der Stil, das Gefühl und die immer spürbare Trauer sind wunderbar wiedergegeben im Deutschen. Die beiden Übersetzer Dietmar Schmidt und Rainer Schumacher haben einen tollen Job gemacht.
Über die vielen geschilderten Ereignisse und den Fortgang der Geschichte muss sich jeder Leser selbst ein Bild machen, für mich waren die letzten Seiten sehr emotional, das möchte ich niemandem vorher erzählen.
Ich würde mir wünschen, dass dieses Buch auch als Warnung gelesen wird, welche Grausamkeiten in der Ukraine durch den russischen Krieg heute verübt werden oder noch geplant sind. Wer dieses Buch gelesen und verstanden hat, kann die Parallelen deutlich sehen: die Ukraine soll wieder unterworfen werden.
Ein wichtiges Buch zur richtigen Zeit! Danke an Erin Litteken.