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Lust_auf_literatur

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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 13.11.2024

Als Urlaubslektüre im Familienurlaub mit Vorsicht zu genießen 😉

Verdammt wütend
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Ich glaube, der neue Roman der norwegischen Schriftstellerin Linn Strømsborg wird bei vielen Menschen einen Nerv treffen. Vor allem bei Frauen.
Denn ich glaube, viele Frauen sind „Verdammt wütend“.
Und ...

Ich glaube, der neue Roman der norwegischen Schriftstellerin Linn Strømsborg wird bei vielen Menschen einen Nerv treffen. Vor allem bei Frauen.
Denn ich glaube, viele Frauen sind „Verdammt wütend“.
Und natürlich kenne auch ich dieses starke Gefühl von Wut.

„Verdammt wütend“ ist auch Britt. Dabei könnte alles so schön sein. Die Anfang 40 Jährige ist mit ihrem Mann Espen, ihrer kleine Tochter und der Clique im Urlaub.
Aber an einem Tag passiert etwas, was mir schon unzählige Male passiert ist, bei Britt aber das erste Mal vorkommt.
Sie rastet komplett aus und schreit ihre Familie und ihre Freunde an und haut dann ab.
Ihre Freundin Nico, die sie eigentlich nicht leiden kann, geht ihr nach und die beiden Frauen machen einen kleinen Road Trip, während Britt zum ersten Mal darüber nachdenkt, warum sie eigentlich so Verdammt wütend ist.

Denn der Ausbruch kommt nicht von ungefähr. Sie ist schon die ganze Zeit wütend, eigentlich permanent. Und wie könnte sie auch nicht. Die Mutterschaft fordert ihre ganze Zeit, mit ihrem Mann Espen ist sie in eine klassische Rollenaufteilung geschlittert, in der er alle Freiheiten und sie alle Verantwortung hat. Sie fühlt sich nicht mehr geliebt und auf ihre Funktionalität als Mutter reduziert. Ihre eigene Mutter hat sie verlassen, als sie noch ein Kind war und vor kurzem hat sie einen Knoten in ihrer Brust entdeckt.
Soll das schon alles gewesen sein?

Gedanken, die wahrscheinlich viele von uns kennen. Und wütend machen.

Linn Strømsborg neuer Roman liest sich schnell und laut. Zwischen den vielen Fragen schlägt er nachdenkliche Töne an. Was will ich noch vom Leben und was schulde ich mir selbst und anderen?
Was will ich als Frau und Mutter? Was will ich zurücklassen, wenn ich gehe?

Das sind gute Fragen, wenn auch für mich keine neuen. Ich bin froh und gesegnet, auf einige schon ein paar vorläufige Antworten gefunden zu haben, die mich glücklich machen. Meine Wut auf Grund von struktureller Ungerechtigkeit ist trotzdem omnipräsent und macht sich regelmäßig Luft, sehr zum Leidwesen meiner Familie und Arbeitskollegen.

Ich denke „Verdammt wütend“ ist ein Roman, der einen Teil der Gefühlswelt meiner Generation ziemlich gut und kompakt widerspiegelt und deshalb auf jeden Fall eine Leseempfehlung!
Als Urlaubslektüre im Familienurlaub mit Vorsicht zu genießen…oder vielleicht gerade dann 😉.

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Veröffentlicht am 27.10.2024

Rasante toxische Eskalation

Der Teufelsgriff
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Okay, der Roman ist ein Ritt.
Ein Teufelsritt.

Auf dem Klappentext steht: „Niemand schreibt so aufregend, eigensinnig und intensiv über Lust und Gewalt wie Lina Wolff.“

Wolffs Roman ist das Psychogramm ...

Okay, der Roman ist ein Ritt.
Ein Teufelsritt.

Auf dem Klappentext steht: „Niemand schreibt so aufregend, eigensinnig und intensiv über Lust und Gewalt wie Lina Wolff.“

Wolffs Roman ist das Psychogramm einer Frau, die sich im Teufelsgriff einer toxischen Beziehung befindet und sie geht dabei wenig subtil vor sondern wahrhaftig brachial.

Ihre namenlose Protaginistin ist von Skandinavien nach Florenz gezogen, in die Stadt der Liebe und der Kunst und lernt dort gleich nach der Ankunft einen Mann kennen. Da sie ohne Arbeit ist und von ein paar Ersparnissen lebt, zieht sie direkt bei ihm in die Wohnung.
Wolff fackelt nicht lange, die ersten Red Flags lassen nicht lange auf sich warten.

“Still wie eine Maus, und er habe sich schon immer eine mäuschenstille Frau gewünscht, eine Minnie Maus, die nicht stört.”

Der Fokus des Romans liegt nicht auf gesellschaftskritischen Beschreibungen der Mechanismen von struktureller weiblicher Unterdrückung oder patriarchalen Beziehungsmodellen. Was ich in Wolffs Roman lese, ist Obssession und Wahnsinn, der immer weiter eskaliert.


“Er ist ihr Meister, und sie hasst sich dafür, dass sie in der Unterlegenheit Lust empfindet.”

Das Faszinierende ist, dass sich Wolffs Figur durchaus ihrer Situation bewusst ist und den Handlungsbedarf erkennt. Als sich ihr die Möglichkeit zur Flucht ergibt, ergreift sie sie. Doch Wolffs Geschichte wird von der Übersteigerung voran getrieben. Things are getting worse and worse oder vom Regen in die Traufe.

Ich fürchte, mir macht das alles einen morbiden und düsteren Spaß. Ich möchte aber ganz deutlich machen, dass das auch mein rein voyeuristisches Vergnügen an torture porn ist. Wolff quält ihre Figur zum Teil absurd sinnlos und macht den Roman damit polarisierend und streitbar.

“Sie ist eine Abweichung, eine Abart. In ihr steckt keine echte Liebe, nur eine animalische, kuhartige Dummheit.
Sie ist sich selbst zuwider.”

Mir hat der Roman unangenehm gut gefallen. In der Art, die mich selbst fast schmutzig fühlen lässt. Aber nur fast.

Falls du Freude an toxischer Esklation haben kannst, ohne dich dabei schlecht zu fühlen, ist „Der Teufelsgriff“ eine Empfehlung für dich!

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Veröffentlicht am 27.10.2024

Wunderbar virtuose und spannende Literatur aus Frankreich!

Der Freund
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Ich habe Lust auf Literatur und möchte auch gerne beim Lesen unterhalten werden und bin deshalb immer auf der Suche nach außergewöhnlichen Bücher, die diese beiden Interessen miteinander verbinden.
Mit ...

Ich habe Lust auf Literatur und möchte auch gerne beim Lesen unterhalten werden und bin deshalb immer auf der Suche nach außergewöhnlichen Bücher, die diese beiden Interessen miteinander verbinden.
Mit den Büchern des unabhängigen Schweizer Lenos Verlag fühle ich mich dabei meistens wunderbar aufgehoben.

So auch mit dem gerade dort erschienenen „Der Freund“, dem neuesten Roman der renommierten und erfahrenen französischen Schrifststellerin Tiffany Tavernier. Es ist ihr erster ins Deutsche übersetzte Roman, soweit ich das recherchieren konnte.

Seine Ausgangslage ist so ungewöhnlich wie spannend: Als die Polizei das Nachbarhaus stürmt, muss das ältere Ehepaar Lisa und Thierry schmerzhaft erfahren, dass ihr Nachbar und Freund eine lang gesuchter Mörder von Kindern und Jugendlichen ist. Guy, den sie als netten und liebenswerteren Mann kennen und schätzen gelernt hatten, ist eigentlich ein Vergewaltiger und Kinderquäler. Ein sadistisches Monster?
Thierry ist natürlich geschockt und unterstütz die Ermittlungen. Nach und nach kommen immer mehr grausame Details ans Licht und wie weit das doppelte Spiel des vermeintlichen Freunds getäuscht hatte.

Tavernier schreibt aus der Ich-Perspektive von Thierry, einem Mann, der schon länger innerlich erstarrt ist und seine Gefühle abgespalten hat. Er lebt, als wäre er gar nicht wirklich da.
Jetzt kann ich die faszinierende Eruption seiner emotionalen Schutzmauern beobachten. Irgendwann lassen sich die Trauer um seinen falsch eingeschätzten Freund, die Schuldgefühle angesichts seiner Ahnungslosigkeit und die schon länger schwellenden Konflikte in seiner Ehe nicht mehr unterdrücken.

Und da lauert noch mehr in den Tiefen seiner Psyche und seiner Vergangenheit…

Tavernier schreibt kompakt und ausdrucksstark. Manche Szenen vermitteln ein Gefühl von atemloser Rasanz. Ich spüre die Dringlichkeit von Thierrys Gedankenkarussel und erlebe live sein inneres Aufbrechen. Diese Art von Taverniers Ausarbeitung hat mir sehr gut gefallen.
Vielleicht drückt Tavernier gegen Ende fast zu heftig aufs Gaspedal und ist haarscharf dabei mit dem Plot aus der Kurve zu fliegen, um dann allerdings in einer überraschenden und ungewöhnlichen Katharsis zu münden.

Wunderbar virtuose und spannende Literatur aus Frankreich!

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Veröffentlicht am 10.09.2024

Wunderbar: der Sänger in der Badewanne

Do Re Mi Fa So
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Sebastian Saum zieht es knallhart durch.
Nach seinem letzten Vollbad in der Badewanne kommt er einfach nicht mehr heraus. Stattdessen reibt er die Wanne trocken, legt sich weiche Decken hinein, legt sich ...

Sebastian Saum zieht es knallhart durch.
Nach seinem letzten Vollbad in der Badewanne kommt er einfach nicht mehr heraus. Stattdessen reibt er die Wanne trocken, legt sich weiche Decken hinein, legt sich nackt in sein Nest und verlässt es nicht mehr.

Eigentlich könnte für den klassischen Opernsänger Ende dreißig alles tutti bene sein. Er hat beruflich Erfolg in einem kreativen und künstlerischen Beruf und ein gutes Auskommen, er ist bei seinen Kolleginnen und Freundinnen beliebt und er lebt mit seinem besten Freund Franz im Haus seiner verstorbenen Mutter.

Und doch steckt der Sänger in einer massiven Sinnkrise. Er hadert mit seinem Beruf. Er hadert mit seiner Beziehungslosigkeit. Er denkt über vergangene Entscheidungen nach und über die Glaubenssätze seiner Kindheit.
Der Ich-Erzähler wirkt orientierungslos und niedergeschlagen.

„Wäre ich ein Fisch, so hätte ich wenigstens eine Richtung. Und Fische singen nicht.“

Die Verweigerung in der Badewanne gibt ihm endlich den Raum, den er braucht um seine Gedanken und seine Vergangenheit zu sortieren.

In der Badewanne ist er nackt, ohne Kleider. Er denkt viel an diese Schutzhülle, an die Verkleidungen, die er auf der Bühne und im Leben trägt. Machen Kleider Leute? Er denkt auch an die verschiedenen Kleider seiner Vergangenheit, die er mit Ereignissen und Gefühlen assoziiert.

Vieles schreibt Melzer zwischen die Zeilen, wird nur leise angedeutet. Gab es schlimme Erlebnisse in der Kindheit des Sängers? Ich bin nicht sicher. Wäre er gerne Vater geworden? Im Subkontext schwingen subtile, wehmütige Untertöne von verpassten Chancen.

Es ist rührend, wie sich sein Freund Franz um ihn kümmert und die Auszeit so überhaupt erst möglich macht. Der Erzähler testet die Grenzen ihrer Freundschaft aus, indem er sich ganz in die Rolle des Unterlegenen begibt, nichts mehr in die Beziehung einbringen kann, nicht mehr nützlich ist. Aber ist es nicht das was Liebe aus macht? Für jemand da sein unabhängig von der Kosten Nutzen Rechnung?
Auch die vielen besorgten Anrufe, Genesungskarten und Blumen zeigen dem Sänger, dass er wahrgenommen und geliebt wird. Sein Fehlen wird bemerkt.

Aber reicht das aus, um wieder am Leben teilzunehmen? Wir alle spielen im Alltag verschiedene Rollen, die uns unterschiedlich fordern, passen unser Verhalten an den Kontext an, verkleiden uns und setzten manchmal sogar Masken auf?
Tine Melzer spielt in ihrem Roman mit dem Gedanken des kompletten Ausstiegs mit dem Einstieg in die Badewanne.
Auch ich empfinde den Roman als eine Art Ausstieg, als eine Möglichkeit zur bewussten Lese Entschleunigung, den die Handlung findet eigentlich nur in Sebastians Kopf und seinem Badezimmer statt. Diese Einladung mich ganz auf Gedanken des Sängers und den Roman einzulassen habe ich sehr gerne wahrgenommen. Der humorvolle Ton schafft trotz des eigentlich existenziellen Themas eine wunderbare leichte Stimmung, die aber gerade am Schluss auch etwas rätselhaftes, deutungsoffenes und tieferes enthält.

Fand ich ganz wunderbar!

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Veröffentlicht am 01.09.2024

Intensiv und philosophisch tiefgründig: vom Trauma einer Kindheit ohne Liebe

Vor der Nacht
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Dass Salih Jamal einen bodenlosen Abgrund aufreißen kann, weiß ich seit der Lektüre seines Romans “Blinder Spiegel”. Auch in “Vor der Nacht” ist der Fall tief, aber er geht diesmal wenigstens nicht ins ...

Dass Salih Jamal einen bodenlosen Abgrund aufreißen kann, weiß ich seit der Lektüre seines Romans “Blinder Spiegel”. Auch in “Vor der Nacht” ist der Fall tief, aber er geht diesmal wenigstens nicht ins bodenlose Nichts. Es ist die Liebe, die uns auffangen kann.

“Alles, einfach alles dreht sich um Liebe. Nie ist sie abwesend. Nie. Nie. Nie. Sie ist immer da. Sogar wenn sie nicht da ist.”

In einem Kinderheim in einem Wald direkt neben der Autobahn treffen sechs verlorene Kinder aufeinander und werden Freunde. Der Ich-Erzähler Jonas, später Jimmy genannt, Pappel, Frei, Lilly und die Geschwister Sinan und Beria. Alle bringt eine schwierige, wenn nicht gar traumatische Vergangenheit mit ins Heim und die Freundinnen geben sich mit kleinen Ritualen Geborgenheit und Halt.
Die Gruppe wird älter und irgendwann sind Sinan und Frei einfach verschwunden. Es dauert nicht lange und auch der Rest der Gruppe zerbricht, wird zerstreut und verliert sich aus den Augen.

Jimmy, der Erzähler wird erwachsen und zieht mit seinem Freund Pappel in eine kleine Wohnung. Der Mangel an Liebe hat schwere Spuren in ihren Seelen hinterlassen und ihre eigene Fähigkeit zu lieben und einem anderen Menschen völlig zu vertrauen schwer beschädigt. Jimmy fühlt sich teilweise leer und dissoziiert .

“Manchmal schien es mir, als würde ich aus dem Leben verschwinden. Innen ständig außer Reichweite.”

Um zu heilen und wieder ganz zu werden ist er auf der Suche nach seinen alten Freund
innen.
Irgendwann trifft er zufällig auf Lilly und muss das komplette Ausmaß ihrer seelischen Zerstörung erkennen. In ihrer Geschichte finden sich Parallelen zu “Der blinde Spiegel”.

Von derart selbstzerstörerischen Menschen wie Lilly zu lesen ist für mich als lebensbejahender und größtenteils stabiler Mensch bisweilen eine Qual und gleichzeitig auch morbide faszinierend.

Auch in “Vor der Nacht” stößt mich die Dunkelheit in Jamal’s Roman wieder genauso ab, wie sie mich anzieht und nicht alle Figuren werden ihren Abgründen entkommen können.

Und wie schon in “Blinder Spiegel” finde ich das skizzierte Frauen- und Menschenbild teilweise verstörend, aber in “Vor der Nacht” bilden die helleren Charaktere des Erzählers Jimmy und von Beria und Mia ein gutes Gegenwicht zu den zerstörten, dunklen Seelen der anderen.

Bei Jamal geht es um existenzielle und philosophische Fragen des Menschseins, es geht um die zerstörerische und heilende Kraft der Liebe, um Vergebung und Schuld und letztendlich darum, ob wir den Wolf in uns besiegen können.
Den Schreibstil des Schriftstellers finde ich besonders und einzigartig poetisch kraftvoll. Ich habe das Gefühl, Jamal bringt viel seiner eigenen Gefühle und Erfahrungen mit in seine Arbeit ein. Das tun wahrscheinlich alle Schreibende auf gewisse Art, aber gerade bei Jamals Romanen habe ich den Eindruck einer gewissen Entblößung und einer sehr intimen Verletzlichkeit. Diese Direktheit macht auch „Vor der Nacht“ wieder so unglaublich intensiv.

Ob sich die Gruppe der Freund*innen jemals wieder vereint, lässt Jamal bis kurz vor Schluss offen und gerade auf den letzten Seiten steigert sich die Spannung noch derart, dass ich das Buch bis zur letzten Seite nicht mehr weglegen kann.

„Vor der Nacht“ ist sicher keine sommerleichte Lektüre, die den Mainstream bedient und die existenzielle Schwere und Bedeutsamkeit, die in Jamals Roman liegt, passt vielleicht nicht in jede Lese- und Lebenssituation.

Ich bin aber schon immer auch auf der Suche nach den intensiveren und extremeren Gefühlen und literarischen Leseerlebnissen und wenn du das auch bist, dann ist „Vor der Nacht“ definitiv eine Empfehlung für dich!

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