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Veröffentlicht am 14.11.2024

Sündhaftes Hamburg anno 1887

Der Herzschlag der Toten
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"Der Tod war schöner, wenn Baudelaire über ihn schrieb." (S.70)
Ausgerechnet Baudelaire! Eine junge Dame der guten Gesellschaft, Tochter eines angesehenen Richters, versteckt unter ihren Röcken die düsteren ...

"Der Tod war schöner, wenn Baudelaire über ihn schrieb." (S.70)


Ausgerechnet Baudelaire! Eine junge Dame der guten Gesellschaft, Tochter eines angesehenen Richters, versteckt unter ihren Röcken die düsteren Gedichte des französischen enfant terrible. Sie selbst versilbert nicht nur das edle Geschmeide, dass ihr Patenonkel ihr einst geschenkt hat, sondern unterrichtet auch noch inkognito Frauen der unteren Schichten, und stolpert darüber mitten hinein in einen Kriminalfall.

Was für eine Herausforderung - und wahrscheinlich sogar ein Glücksfall für den frisch ernannten Criminalcommissar Hermann Rieker, der im eigenen Polizeiapparat offenbar wenig Freunde, dafür aber Neider und Gegner hat. Zudem trägt er Erfahrungen aus einer Vergangenheit mit sich, welche die Lektüre um spannende Aspekte bereichern. Nun soll er binnen kürzester Zeit den Mord an der Gelegenheitsprostituierten Ansje lösen, die zufälligerweise bei Johanna Ahrens, der Richtertochter, in die Schule ging.

Und schon ist man mittendrin in diesem spannenden Kriminalfall (den man damals wohl noch mit C schrieb). Gerade diese Kleinigkeiten, das C in aus dem Lateinischen stammenden Wörtern, die französische Schreibweise Bureau, aber auch die Verwendung plattdeutscher Ausdrücke machen das Lesen zu einem atmosphärischen Genuss. Die Beschreibungen der dunklen Seite der Hansestadt sind so lebendig, dass man beim Lesen hautnah das Gefühl hat, dabei zu sein. Schmutz und Körperflüssigkeiten, Gerüche und authentische Beschreibungen der Armut und Not, all dies heben die Besonderheit dieses Romans hervor. Ich hatte nicht das Gefühl, dass dies nur dem Zweck dient, eine düstere Atmosphäre heraufzubeschwören, sondern dass es dem Autor darum ging, ein realistisches Bild der damaligen Zustände zu zeichnen. Und gerade deshalb ist dieser Kriminalfall so unglaublich spannend.

Die Polizeiarbeit im 19. Jahrhundert musste sich noch erfinden. Wissenschaftliche Methode hielten Einzug in die Ermittlungen, die „Criminalpolizei“ war eine neue Erfindung. Im Roman begegnet uns zudem ein heute ausgestorbenes Berufsbild: der Totenfotograf. Dies zeugt von einem anderen Umgang mit dem Tod, der damals viel stärker zum Leben gehörte. Es wird ebenso deutlich, dass Klassenunterschiede über den Tod hinaus eine Rolle spielten.

Es gelingt Ralf H. Dorweiler, den Spannungsbogen von der ersten bis zur letzten Seite aufrecht zu erhalten. Schon lange nicht mehr hat mich ein Krimi so gefesselt. Ich habe mit Johanna Ahrend und Hermann Rieker mitgefiebert, bin Spuren gefolgt, habe mich in die Irre führen lassen habe jede einzelne Zeile genossen. Hier war einfach alles stimmig, die detailliert beschriebenen Personen, der Geist der Zeit, der wohl dossierte Schauer und auch der immer wieder durchscheinende Wortwitz und Humor des Autors. Chapeau!

Mir bleibt nur ein großer Applaus und eine eindeutige Leseempfehlung.

P.S. Don`t judge a book by its cover – Das Cover finde ich ebenfalls sehr gelungen. Die düstere Atmosphäre des nächtlichen Hamburgs, im Hintergrund St. Jacobi, die engen Gassen des Gängeviertels, erleuchtet von einer einsamen Laterne. Ein Mann und eine Frau, beide gut gekleidet (sie von einem Korsett eingeschnürt), erklimmen eine Treppe.

Um noch einmal Beaudelaire zu erwähnen:

Pour ne pas oublier la chose capitale,
Nous avons vu partout, et sans l'avoir cherché,
Du haut jusques en bas de l'échelle fatale,
Le spectacle ennuyeux de l'immortel péché
(Zitat aus le voyage, 1857)

Nur, dass hier absolut gar nichts langweilig war!

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Veröffentlicht am 10.11.2024

Sommerfrische mit Thomas Mann

Gefährliche Betrachtungen
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„Gefährliche Betrachtungen“ ist bereits auf den ersten Blick ein liebevoll und ansprechend gestaltetes Buch, gebunden und mit einem Lesebändchen versehen, und den Umschlag ziert ein Bild, das in seiner ...

„Gefährliche Betrachtungen“ ist bereits auf den ersten Blick ein liebevoll und ansprechend gestaltetes Buch, gebunden und mit einem Lesebändchen versehen, und den Umschlag ziert ein Bild, das in seiner Komposition wage an ein Gemälde von Caspar David Friedrich erinnern könnte. Unverkennbar gewährt es einen Blick auf die Ostsee, genauer gesagt auf das Kurische Haff. Und bereits der Untertitel verrät, dass es sich in diesem Roman um den deutschen Literaturnobelpreisträger Thomas Mann drehen wird. Ob es sich allerdings tatsächlich um einen Kriminalroman handelt, wird noch zu berichten sein.

Ort der Handlung ist der kleine Bade- und Fischerort Nidden (litauisch Nida), der auf eine wechselvolle Geschichte zurückblicken kann. Zur Zeit der Handlung gehörte er zum unabhängigen Litauen, jedoch erinnerte noch vieles an die vorherige Zugehörigkeit zum Deutschen Reich. Insbesondere die Künstlerkolonie um das Gasthaus von Hermann Blode animierte auch weiterhin Künstler und Intellektuelle hier ihre „Sommerfrische“ zu verbringen. Einer von ihnen war Thomas Mann, der sich im Ort ein Ferienhaus bauen lies und drei Sommer in Folge auf der Kurischen Nehrung verbrachte.

Dies greift Tilo Eckardt in seinem Roman auf und spielt mit einem Wechsel zwischen historischer Wahrheit und dichterischer Freiheit. Entstanden ist dabei eine Hommage an diesen besonderen Ort Nidden, aber auch an den großen Thomas Mann. Sein fiktiver Held ist ein junger ambitionierter Student und Übersetzer, Žydrūnas Miuleris, ein glühender Verehrer des dotierten Schriftstellers, und entflammt für seine Kommilitonin Dalia, die in den Semesterferien bei Hermann Blode kellnert. Miuleris träumt davon, die Buddenbrooks ins Litauische zu übersetzen, und sucht deshalb die Begegnung mit Mann. Dabei beeinträchtigt ihn ein gewisser Hang, zielgerichtet in irgendeine Tölpelei zu geraten. Man muss ihn einfach gernhaben, denn sein Herz sitzt am rechten Fleck.

Eckardt zeichnet ein wunderbares Sittengemälde der damaligen Zeit. Leicht ironisch beschreibt er die Menschen und ihr Denken, ob es sich dabei um eine Pensionswirtin aus Nida handelt, um bekannte Künstler, um sich erholende Großbürger mit Hang zum Faschismus oder eben um Thomas Mann. Dabei nimmt er sich Zeit, beschreibt detailreich die wunderschöne Landschaft der Kurischen Nehrung, die Eigentümlichkeiten der auftretenden Personen und die Gedankengänge des Helden, der all dies im stolzen Alter von über 100 Jahren rezipiert. Sprachlich orientiert Eckardt sich dabei an der damaligen Zeit. Und so spürt man geradezu den Müßiggang, den die Sommerfrischler sich hingaben.

Ein Buch, dass in den 1930er Jahren spielt, ist naturgemäß immer auch ein politisches Buch. An mancher Stelle ist es erschreckend aktuell, jedoch bleibt dies im Hintergrund. So, wie auch der „Kriminalfall“, um den es schlussendlich geht. Ich muss gestehen, ich habe dieses Buch nicht als Krimi empfunden, was meiner Leselust keinen Abbruch getan hat. Wunderbar parodiert Eckardt Sir Arthur Conan Doyle, wenn Miuleris und Mann sich der Kunst der Deduktion hingegen. Herrlich ist auch die Beschreibung eines expressionistischen Gemäldes aus der Sicht des jungen Studenten. So habe ich während der Lektüre oft laut gelacht. Voller Überzeugung vergebe ich eine 5 Sterne Leseempfehlung.

Erstaunt hat mich, dass offenbar einen kriminalistischer Folgeband um das „Ermittlerduo“ in Planung ist, denn für mich war dieser Roman eigentlich abgeschlossen. Tilo Eckardt schrieb ihn unterstützt von der Nordic Culture Foundation und weiterer Kulturfonds in einer Autorenresidenz in unmittelbarer Nachbarschaft zu Thomas Manns ehemaligen Sommerhaus.

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Veröffentlicht am 20.10.2024

Kriminalroman wider das Vergessen

Hotel Silber – neue Zeit, alte Schuld
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Das Hotel Silber in Stuttgart war während der nationalsozialistischen Terrorherrschaft das örtliche Hauptquartier der Gestapo. Heute befindet sich dort eine Gedenkstätte. Diesen historischen Ort wählt ...

Das Hotel Silber in Stuttgart war während der nationalsozialistischen Terrorherrschaft das örtliche Hauptquartier der Gestapo. Heute befindet sich dort eine Gedenkstätte. Diesen historischen Ort wählt Kai Bliesener zum Schauplatz des bei emons: erschienenen Kriminalromans "Hotel Silber - Neue Zeit, alte Schuld". Der Roman beginnt in der Endphase der Diktatur, in der die Verbrecher der Nazi-Zeit noch ihr Unwesen treiben, während sie gleichzeitig beginnen ihre Spuren zu verwischen und ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen. Noch im März/April 1945 werden hier Menschen gequält und gefoltert, unter ihnen Paul Kramer, ein ehemaliger Polizeianwärter und Kriegsdeserteur, und die Familie Wallner. Buchstäblich bis zur letzten Minuten, als die Franzosen bereits vor Stuttgart stehen, bleibt das Hotel Silber ein Tatort.

Wenige Wochen später beginnt genau hier der Aufbau einer neuen Polizei, in welcher auch der eine oder andere mit einem "Persilschein" reingewaschene Gestapo-Angehörige wieder sein Auskommen findet. Doch auch Paul Krämer erhält eine neue Chance, sich am Aufbau der neuen Polizei zu beteiligen.

Bliesener beschreibt diese Umbruchzeit von den letzten Tagen des Faschismus bis hinein in die frühe Nachkriegszeit - noch weit vor der Gründung der Bundesrepublik Deutschland - mit akribischer Genauigkeit. Wir begegnen Tätern und Opfern, überzeugten Faschisten, Mitläufern und einstigen Widerstandskämpfern, Displaced Persons, Besatzungsmächten und auch Menschen im Aufbruch in eine neue Zeit. Man merkt dem Roman an, dass Bliesener sehr intensiv in den historischen Quellen recherchiert hat. Auch wenn es sich um einen fiktionalen Roman handelt, ist jede der beschriebenen Taten genau so oder ähnlich passiert, und das nicht nur einmal, sondern dutzende, unzählige Male. Diese Grausamkeiten sind schon beim Lesen kaum auszuhalten. Sie dürfen nicht in Vergessenheit geraten!

Obwohl so viele Verbrechen geschehen, ist das Setting zunächst nicht immer das eines Kriminalromans. Tatsächlich fühlte ich mich teilweise eher an eine journalistische Reportage erinnert. Doch das ändert sich zusehends.

Gelungen fand ich die unterschiedlichen Charaktere der Täter. Da war alles dabei, vom Sadisten bis zum "Ich tue nur meine Pflicht!"-Befehlsempfänger. Ich frage mich ja immer, wie solche Menschen nach der "Arbeit" seelenruhig nach Hause gehen können, zu Frau und Kind. Doch das nationalsozialistische Gedankengut hatte natürlich auch die Frauen geprägt. Irgendwo im Buch steht der Satz: "Aber es gibt zu wenig Unschuldige in diesem Land." (S. 171) Bliesener zeigt auch sehr nachvollziehbar auf, wie tief der Riss in der Bevölkerung auch innerhalb von Familien verlief.

"Hotel Silber" wir mir Sicherheit in Erinnerung bleiben. Ich habe - noch dazu in einem Kriminalroman - selten so eindrucksvoll diese Zeit beschrieben gefunden. Sehr eindrücklich war für mich die Barbarei, die unvorstellbare Grausamkeit , zu der Menschen fähig sind, wie sie entfesselt gesellschaftlicher und moralischer Normen handeln können, wenn eine Weltanschauung kulturelle und ethische Werte für nichtig erklärt und Gewalt gegen alle anderen legitimiert; Wenn Menschenrechte keine Rolle mehr spielen. Leider kein Thema, was sich auf Deutschland zwischen 1933-1945 begrenzt.

Wir dürfen niemals vergessen, was für Gräueltaten damals in unserem Land passiert sind. Für mich erwächst daraus die Verantwortung, nicht zu schweigen, wenn braune Parolen wieder salonfähig werden, in Talkshows und Parlamenten geäußert werden und wenn der Ruf laut wird, das Geschehene zu vergessen, weil es mit uns nichts mehr zu tun habe. Ich finde es erschreckend, dass gerade junge Menschen davon nichts mehr wissen wollen. Hier versagt für mich unser Erziehungs- und Bildungssystem. Dieses Buch sollte tatsächlich Schullektüre sein, um dem entgegen zu wirken.

Ich vergebe voller Überzeugung eine eindeutige Leseempfehlung (5 Sterne).

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Veröffentlicht am 20.10.2024

Im Jura wird gemordet - Spannender Pageturner vor der Kulisse des Schweizer Jura

Spiegelberg
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Bereits das wunderschöne Cover stimmt die Leserschaft auf den Ort der Handlung ein: den schweizerischen Jura. Dessen Landschaft eignet sich hervorragend, um mit tiefen Schluchten und Felsformationen den ...

Bereits das wunderschöne Cover stimmt die Leserschaft auf den Ort der Handlung ein: den schweizerischen Jura. Dessen Landschaft eignet sich hervorragend, um mit tiefen Schluchten und Felsformationen den Hintergrund für einen spannenden Kriminalroman darzubieten. Zudem greift Gasser auf einen historischen Konflikt zurück, die sogenannte "Jurafrage". Dabei geht es um die separatistische Bewegung in der überwiegend französischsprachigen Region des Jurabogens und den in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts zum Teil auch gewalttätigen Kampf um einen eigenen Kanton. Doch keine Angst, es handelt sich um einen Krimi und nicht um eine Geschichtsstunde.

Christof Gasser ist ein Autor, der es großartig versteht, in seine Kriminalromane politische Hintergründe einzuflechten. Auch in "Spiegelberg" stellt er dies wieder unter Beweis. Der Roman ereignet sich auf drei Zeitebenen, ausgehend von einem Doppelmord. Bei wem es sich dabei handelt, ist Teil der spannenden Handlung, die viel Gelegenheit zum Miträtseln bietet. Auf jeden Fall ein sehr guter Einstieg, um das Interesse gleich am Anfang zu fesseln. Der aktuelle Handlungsstrang um die Journalistin Cora Johannis wird in der Ich-Form geschrieben, was zur Spannung beiträgt. Dadurch bin ich als Leserin mitten im Geschehen. Ich kannte die Reihe um Cora Johannis bislang nicht, aber bereits nach wenigen Seiten wollte ich unbedingt mehr erfahren. Auch ohne Kenntnis der beiden Vorbände konnte ich alles gut nach vollziehen, ohne dass zu viel verraten wurde. Vielmehr bin ich neugierig geworden auf diese Reihe.

Christof Gasser pflegt einen lebhaften Erzählstil und erschafft interessante Charaktere. Wie bereits in der Solothurn-Reihe begeistern mich auch hier wieder die starken Frauen. Überzeugend ist natürlich auch der komplexe Plott mit nicht wenigen dramatischen Wendungen. Dabei werden die einzelnen Teile nicht zu früh zusammengesetzt, so dass das Buch bis zur letzten der 350 Seiten spannend bleibt. Zu erwähnen ist zudem der informative Anhang mit einem Glossar schweizerischer Begriffe und Abkürzungen, sowie Anmerkungen des Autors.

Ich spreche begeistert eine 100%ige Leseempfehlung aus!

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Veröffentlicht am 01.10.2024

Eine Dystopie - nicht nur - der Schlagerwelt

Die Ungelebten
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Der Ausdruck „Patriarchat“ ist das Abstraktum zu Patriarch, abgeleitet von altgriechisch patriarches „Erster unter den Vätern, Stammesführer, Führer des Vaterlandes“; gebildet aus patér „Vater“ und archēs ...

Der Ausdruck „Patriarchat“ ist das Abstraktum zu Patriarch, abgeleitet von altgriechisch patriarches „Erster unter den Vätern, Stammesführer, Führer des Vaterlandes“; gebildet aus patér „Vater“ und archēs „Oberhaupt“, zu archein „der erste sein, Führer sein, herrschen“. (Quelle: Patriarchat (Soziologie) – Wikipedia)

„Die Ungelebten“ von Caroline Rosales ist ein Roman über eine junge Frau, Jennifer Boyard, die unter wirklich widrigen Bedingungen aufwächst. Ihr Vater, Bernd Boyard, ist ein sehr erfolgreicher Schlagerproduzent und dazu ein Psychopath. Erstaunlicherweise sind solche Menschen häufig sehr erfolgreich, denn sie setzen sich skrupellos durch und werden dafür in unserer Gesellschaft hofiert und beklatscht. Jennifer begleitet ihn seit Kindesbeinen durch die Glitzerwelt des Schlagers, und lernt dabei auch den dunklen Backstagebereich kennen. Dort geht es erbarmungslos zu. Nach der

metoo-Debatte dürfte es niemanden mehr überraschen, dass dabei auch sexualisierte Gewalt eine Rolle spielt.

Als junge Frau übernimmt Jennifer, obwohl Mutter von drei Kindern, eine führende Rolle im Familienunternehmen. Mich begeistert, wie hier patriarchale Strukturen erbarmungslos dekonstruiert werden:

Wenn sie sich anstrengte, wenn sie ihren Körper fühlte, konnte Jennifer oft nicht begreifen, was in den vergangenen Jahren passiert war. Dass ihr Körper eine wahnsinnige Metamorphose durchgemacht hatte, die jeder vernünftige Mensch, und sie zählte zu den vernünftigen Menschen, nicht allen Ernstes ohne Beschädigungen, ohne lange Erholung verkraften würde. Sie hatte drei Kinder aus sich herausgepresst und mit Muttermilch aufgezogen, und nun war es an ihr, zumindest den optischen Schaden zu beseitigen. S.19

Sie putzt den Dreck der Familie weg, Kotze, Sperma und eben auch den Dreck ihres Vaters. Die Leserin leidet mit. Und erkennt sich stellenweise vielleicht sogar ein bisschen wieder.

„Die Ungelebten“ ist ein Buch, mit dem ich emotional Achterbahn gefahren bin. Caroline Rosales schreibt schonungslos und manchmal auch provozierend über Frauenleben und Männermacht, über einen Patriarchen, wie er im Buche steht ebenso, wie über toxische Familienbeziehungen und machtlose Frauen über ganze Generationen hinweg. Das muss man aushalten können!

Es bleibt kein Platz für Empowerment, kein enthusiastisches und fröhliches Finale mit dem Schlachtruf "Women's Lib!". Vielmehr ein dystopisches Ende, in dem Misogynie und Männermacht weiterhin fortbestehen.

metoo nichts weiter als ein kleiner Kratzer im Lack des Patriarchats! Aber ist das der Autorin vorzuwerfen? Nein, denn es ist leider realistisch. Denn das liegt eben auch daran, dass wir nicht mehr zusammen auf die Straße gehen, wie die Frauen der Women's Lib, dass wir den Barbiepuppentraum davon Astronautin zu werden noch immer glauben und auch #metoo daran nichts geändert hat. Alles andere wäre zu schön, um wahr zu sein.


„Die Ungelebten“ ist ein Roman und doch hätte sich alles genau so ereignen können. Und wahrscheinlich hat sich vieles von dem, war Caroline Rosales auf 304 Seiten erzählt, genau so ereignet. In einem Interview zum Buch berichtet sie, wie sich eine Schlagersängerin bei ihr gemeldet hat. Ihre furchtbare Geschichte war der Ausschlag zu diesem besonderen Buch.

Obwohl all das so entsetzlich ist, konnte ich das Buch sehr gut lesen, was sicherlich am flotten Schreibstil von Caroline liegt, und oft musste ich aufgrund der Formulierungen lachen, trotz der Thematik. Das finde ich sehr gelungen.

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