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Veröffentlicht am 18.11.2024

Unaufgeregte Geschichte über väterliche Schuld und Verdrängung

Vaters Stimme
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Nina, Ende vierzig, hat sich von Ron getrennt. Außerdem ließ sie ihren gemeinsamen Sohn Lenny bei Ron. Diese Entscheidung bricht ihr spätestens jedes zweite Wochenende das Herz, wenn sie Lenny bei sich ...

Nina, Ende vierzig, hat sich von Ron getrennt. Außerdem ließ sie ihren gemeinsamen Sohn Lenny bei Ron. Diese Entscheidung bricht ihr spätestens jedes zweite Wochenende das Herz, wenn sie Lenny bei sich hat, manchmal auch jedes dritte, wenn Lenny krank ist oder eine Pyjamafeier auf ihn wartet. Es passiert zuweilen auch, dass sie ihn nur einmal im Monat sieht, wenn sie verreisen muss. Sie wollte Lenny nicht aus seiner gewohnten Umgebung reißen und Ron hat ja auch eine Tochter aus erster Ehe. Ihr beruflicher Alltag ist so unstet. Sie hat ihren eigenen Vater zuletzt vor 25 Jahren gesehen, vielleicht für eine Stunde, dabei ging es um Geld. Danach verschwand er wieder, wie zuvor. Und jetzt rollt Lenny, wie ein Überfallkommando über sie weil er seinen Opa kennenlernen will.

Sie schreiben Ninas Vater Hans gemeinsam einen Brief und Hans ruft prompt bei Lenny an. Daraufhin meldet Hans sich bei Nina und sie hört seine Stimme. Die Stimme ist tief, klingt fröhlich, voller Euphorie wieder zu Kontakt zu ihr haben und bringt etwas in ihr zum Schwingen, von dem sie nicht wusste, dass es da ist.

Nina fährt mit ihrem Sohn nach Süddeutschland um ihre Mutter und ihren Vater zu besuchen. Ihre Mutter lebt in einem gerontopsychiatrischem Heim, in dem man ihrer Depression mit Medikamenten beizukommen versucht. Ihr Vater lebt in dem Häuschen seiner zweiten Frau. Hans beantwortet Ninas Fragen geduldig und wenn es ihm zu viel wird, dreht er den Ton des Fernsehers so laut, dass ein Gespräch unmöglich wird. Er erzählt von seinem guten Händchen in punkto Geschäftssinn und von seinem Fleiß, zu dem ja heute kein Junger mehr fähig ist. Die Kopfnüsse seines Großvaters und die Maulschellen seines Vaters lacht er weg …“So war das eben damals“.

Fazit: Tanja Schwarz hat eine diffizile Familiengeschichte geschaffen. Mit unaufgeregter Stimme zeigt sie die Schuld, die Hans auf sich geladen hat und erfolgreich verdrängt. Zuerst sucht die Protagonistin nach Ähnlichkeiten mit ihm, identifiziert sich und glaubt ihm seine Geschichten, in denen ihm alles so mühelos gelang, dem Hans, dem echten Kerl. Dann hört sie sich den anderen Teil der Familie an, von dem sie gar nicht wusste, dass es ihn gibt und Hans Lügen fallen in sich zusammen. Am Ende ist er ein Produkt der Erziehung seines Vaters und Großvaters. Eine Erziehung, die er unhinterfragt auf seinen Sohn übertrug. Dieses Bild des Hans, der toxischen Männlichkeit, ständigen Selbstbeweihräucherung und Selbstbetrugs ist weit verbreitet. Ich finde es großartig, nach vielen ungesunden Mutter-Tochter-Beziehungen, nun eine Vater-Tochter Geschichte lesen zu können, die es in sich hat. Eine ganz und gar gelungene Ich-Erzählung, die sich mit Leichtigkeit lesen lässt.

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Veröffentlicht am 14.11.2024

So nah am Leben

Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne
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Katha war vierzehn, als ihre Eltern sich trennten. Eigentlich sollte Kathas Schwester Nadine die Liebe retten, jetzt ist sie acht. Katha entging nicht wie sich etwas zwischen die Eltern schlich. Deshalb ...

Katha war vierzehn, als ihre Eltern sich trennten. Eigentlich sollte Kathas Schwester Nadine die Liebe retten, jetzt ist sie acht. Katha entging nicht wie sich etwas zwischen die Eltern schlich. Deshalb schrieb sie alberne kleine Zettel mit Aufforderungscharakter: „Wer das liest, küsst Mama“ und so. Zuerst konnte Katha ihre unbeholfenen Eltern einander näherbringen. Aber dann, als ihr Vater sich unbeobachtet fühlte sah Katha, wie er ihren Zettel zerknüllte und wegwarf, da hatte auch sie es verstanden.

Vier Jahre später zogen Katha und Nadine mit Mama zurück nach Dortmund. Nadine trat gegen die Umzugskartons und brüllte, dass sie keine neue Schule will. Die Mutter stürzte in einen Krater und ignorierte die Hände, die Katha ihr reichte und die Seile, die sie ihr zuwarf. Am Abend saß die Mutter resigniert vor dem Fernseher und trank Wein.

Kathas erster Schultag lief so lala. Sie wurde neben Kati gesetzt, ein braunes Lockenwunder griechischer Eltern. In der Pause stand sie mit der vierer Mädchenclique in einer Ecke und fing wieder mit dem Rauchen an. Die kleine Schwester hatte es härter getroffen. Sie hatte die Arme verschränkt und die Lippen aufeinandergepresst, keiner sprach mit ihr, alle gingen ihr aus dem Weg.

Katha versucht Mutter und Schwester aufzuheitern, das Beste aus allem zu machen. Sie lässt Nadine toben und schreit mit ihr gemeinsam Nadins Wut raus, an der Mutter prallt sie ab. Der Vater holt sie beide alle Jubeljahre in seinem Polo ab und fährt mit ihnen in die Stadt. Beim letzten Mal war seine neue Freundin dabei, neunzehn Jahre jünger als Papa, quiekende Stimme, zittrig nervös, hatte sie jedem Mädchen eine Tüte Schokobons geschenkt. Vom Rücksitz aus bedankte sich Katha, Nadine kurbelte das Fenster runter und schmiss die Tüte auf die Straße.

Fazit: Sina Scherzant hat ein großartiges Debüt hingelegt. Es ist unmöglich sich nicht in die Protagonistin zu verlieben, deren einziger Wunsch es ist, den anderen Menschen, das Leben leicht zu machen. Sie übernimmt enorme Verantwortung, ist zurückhaltend und verbindend. Die Menschen an denen sie sich orientieren kann, hauptsächlich Frauen, agieren alle ähnlich, halten sich zurück, halten aus und äußern sich herablassend und ätzend, wenn andere Frauen aus der Reihe tanzen. Dann trifft Katha auf eine „aus der Norm gefallene“, die ihr zum Vorbild wird und findet in ihr eine Vertraute, eine die sie anschaut und wirklich zuhört. Die neue Sichtweise hilft ihr dabei, sich selbst wahrzunehmen und nicht nur die Bedürfnisse der anderen. Diese feinfühlige, humorvolle, traurige und lebensbejahende Erzählung hat mich tief berührt und mitgerissen. Sina Scherzant hat ganz nah am Leben entlanggeschrieben.

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Veröffentlicht am 13.11.2024

Tiefsinnig ohne zu beschweren

9 Grad
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Josie und Rena sind seit ihrer Kindheit unzertrennlich. Als Anton in ihre Stufe wechselte, nahmen sie ihn freundschaftlich auf. Beide verlieben sich für kurze Zeit in ihn, doch er sagte ihnen, dass er ...

Josie und Rena sind seit ihrer Kindheit unzertrennlich. Als Anton in ihre Stufe wechselte, nahmen sie ihn freundschaftlich auf. Beide verlieben sich für kurze Zeit in ihn, doch er sagte ihnen, dass er Frauen nichts abgewinnen kann. Rena hat sich mit den beiden in der Sauna verabredet, weil sie etwas Wichtiges mit ihnen besprechen will. Josie hat ein ungünstiges Verhältnis zu ihrem Körper. Sie hasst es, wenn ihr weicher weißer Körper sich in alle Richtungen ausbreitet und ist dann nur noch damit beschäftigt, wie die anderen sie sehen könnten. Obwohl sie sich dann vehement sagt: „Dein Körperbild ist nur eine Folge der Marketingstrategie“, fühlt sie sich dadurch selten wohler.

Rena berichtet, dass sie vor zwei Wochen umgekippt ist. Sie bekam keine Luft mehr und fiel einfach um. Im Krankenhaus erfuhr sie, dass einer ihrer Lungenflügel kollabiert ist. Während sie weg war, hatte sie sich von außen betrachtet, dann habe sie in ein Licht gehen wollen, das so ansprechend war, wie nie eine Lichtquelle zuvor, aber ihr Vater habe sich zwischen sie und den gleißenden Schein gestellt und dann sei sie wieder in ihren Körper gesogen worden. Sie sei jetzt halbwegs stabil müsse jedoch operiert werden. Und deshalb wolle sie ein paar Dinge in ihrem Leben verändern. Josie starrt sie an, begreift nicht das Ausmaß dessen, was Rena da erzählt und Anton sind die schlauen Sprüche ausgegangen mit denen er die beiden sonst nervt.

Rena ist sehr diszipliniert, denn wenn sie sich anstrengt ist ihre Mutter stolz auf sie. Josie ist mit dem Gedanken aufgewachsen, dass sie sich anstrengen muss, weil auch ihre Mutter und deren Mutter so dachten. Ihre Eltern haben ein Büdchen und arbeiten sechs Tage die Woche von früh morgens bis spät abends. Josies Mutter ist so pragmatisch, dass in Josie regelmäßig Zorn aufsteigt. Ihr Essverhalten hat sie mittlerweile im Griff, das Kalorienzählen aufgegeben, doch sie kann sich schlecht abgrenzen. Und dann hat Rena eine Idee mit deren Hilfe Josie eine Grenzerfahrung macht, die zu ihrer Obsession wird.

Fazit: Elli Kolb ist mit einem wundervollen Debüt gestartet. Sie hat drei Freunde fürs Leben verbunden, die versuchen ihren Alltag zu meistern. Die jungen Frauen stoßen an ihre körperlichen Grenzen. Josie findet in sich einen Raum, der ihr gehört, während Rena zuerst um ihr Leben und dann um ihre Integrität kämpft. Die Geschichte zeigt die Schwierigkeiten junger Menschen in einer Gesellschaft, die auf Leistung getrimmt ist. Die Stimmfarbe ist jung, frisch, voller guter Dialoge und Gedanken, die mir Josies Selbstbild nahebringen. Für alle Leser*innen, die „22 Bahnen“ oder „der Bademeister ohne Himmel“ mochten. Feine tiefgründige Unterhaltung ohne großartig zu beschweren.

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Veröffentlicht am 12.11.2024

Lebendig und sinnlich

Ein klarer Tag
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Im Jahr 1843 ist John Ferguson ein presbyterianischer Pfarrer in Schottland. Doch er kehrt seiner Kirche den Rücken, schließt sich der Freien Kirche an und verzichtet damit auf alle Bezüge und Sicherheiten. ...

Im Jahr 1843 ist John Ferguson ein presbyterianischer Pfarrer in Schottland. Doch er kehrt seiner Kirche den Rücken, schließt sich der Freien Kirche an und verzichtet damit auf alle Bezüge und Sicherheiten. Seine Frau Mary unterstützt ihn in seinem Wunsch einer unabhängigen Glaubensgemeinschaft. Aus Verzweiflung lässt John seinen Cousin wissen, dass er nun brotlos ist. Der informiert den Großgrundbesitzer Henry Lowrie, der John sofort anstellt. Er schickt John auf eine der Shetlandinsel um den letzten Bewohner zu überreden das Land zu verlassen, das künftig einzig für die Schafzucht genutzt werden soll.

Der letzte gälische Ureinwohner dieses Highlands, Ivar hat mittlerweile seine ganze Familie verloren. Seine Brüder sind beim Fischen ertrunken, Mutter und Frau sind mit den wenigen anderen Insulanern auf ein Schiff nach Aberdeen gestiegen. Er hatte Probleme die Pacht zu entrichten und im letzten Jahr ging gar nichts mehr, weil Ivar durch eine Krankheit jede Kraft verloren hatte und das beschwerliche Sammeln der Vogelfedern aus den Felswänden nicht mehr verrichten konnte.

Als John auf die Insel kommt ist er grün vor Übelkeit. Das alte Häuschen des ehemaligen Gutsverwalters, das Lowrie ihm überlassen hatte war völlig heruntergekommen. John zog die nassen Kleider aus und versuchte ein Feuer zu entfachen, doch der Torf war feucht. Er wollte die Sonne nutzen, legte seine Kleidung ins Licht und ging, nur in Schuhen mit seiner Tasche ein Stück an den Felsen entlang. Als er nach Tagen wieder erwachte, fand er sich bewegungsunfähig in Ivars Hütte wieder. John lag in einem Bett, Ivar saß in einem Sessel, nahe der Feuerstelle und beobachtete John.

Fazit: Carys Davies hat eine Geschichte erzählt, die auf historischen Gegebenheiten beruht. Sie schreibt über die Zeit der Kirchenspaltung, die etliche Pfarrer, die sich nicht mehr durch Adel und Großgrundbesitzer bestimmen lassen wollten, in die Armut trieb. Zugleich wurden die gälische Urbevölkerung enteignet und vertrieben, um die Weideflächen für die Schafzucht nutzbar zu machen. Die Autorin hat die beiden Protagonisten interessant und gekonnt miteinander verwebt. Während seiner Genesung lernt der Pfarrer Ivars Sprache, um ihm erklären zu können warum er da war. Sie nähern sich einander an. Ivar erkennt wie einsam er war, dass er glücklich ist, weil er wieder einen Menschen um sich hat und der Pfarrer bewundert die Güte in Ivars reinem Wesen, was ihm sein eigentliches Vorhaben wie eine Bürde aufs Herz legt. Die Geschichte zeigt so lebendig und sinnlich die schroffe Umgebung, das raue Klima und das harte Überleben, dass sie auch verfilmt werden könnte. So zumindest lief die Geschichte vor meinem inneren Auge ab, wie ein Film, der mich bestens unterhalten hat.

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Veröffentlicht am 11.11.2024

Laura Naumann hat mich im Sturm erobert

Haus aus Wind
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Johanna ist Synchronsprecherin seit ihrem elften Lebensjahr. Ihre Mutter hatte sie für ein Casting angemeldet und kurz darauf war sie zum Shootingstar avanciert. Johanna hat sich in der Branche einen Namen ...

Johanna ist Synchronsprecherin seit ihrem elften Lebensjahr. Ihre Mutter hatte sie für ein Casting angemeldet und kurz darauf war sie zum Shootingstar avanciert. Johanna hat sich in der Branche einen Namen gemacht, ist breit aufgestellt, angenehm und unkompiziert in ihrem Wesen. Zehn Jahre später hat sie eine Agentin, die sie regelmäßig vermittelt und so was wie Burnout. Zu allem Übel hat Rosa, Johannas Freundin sich nach sieben Jahren getrennt, weil sie Kinder will und Johanna Kinder nicht ausstehen kann.

Johanna nimmt sich eine zweiwöchige Auszeit, flieht aus ihrer Zweizimmerwohnung, die ohne Rosa still geworden ist und checkt in den Flieger an die Algarve ein. Im Atlantik surfen schwebt ihr vor, nur lernen muss sie es noch.

Am strandnahen Boardverleih trifft sie auf die Portugiesin Luz (Lusch). Sie ist nicht nur Surftrainerin, sondern die Koryphäe im männerdominierten Sport. Ganz weit oben war sie, bis sie unfreiwillig geoutet wurde, aus dem Team flog und alle Sponsoren ihr den Rücken kehrten. Johanna leiht sich ein Board, macht keine gute Figur und lässt sich von Luz bevormunden. Tags darauf ist Johanna um 9 Uhr 30 wieder da, angezogen durch Luz Attraktivität und Fähigkeiten. Während des Trainings gesellt sich die sommersprossige Robyn zu Luz. Sie kommt aus Australien, lebt aber schon länger in Portugal.

Fazit: Laura Naumann hat mich mit ihrer großartigen Geschichte im Sturm erobert. Sie zeigt das Leben ihrer sanftmütigen Protagonistin, die unter der großen Angst leidet, etwas falsch zu machen. Statt einen unbedachten Schritt zu gehen, macht sie lieber keinen. Und so treibt das Leben sie vor sich her. Ihre Familie aus dem Osten Deutschlands geht im Westen den Schritt in die Selbständigkeit und baut sich eine gut florierende Baufirma auf. Die Mutter realistisch, kühl und leistungsorientiert findet selten Zeit für ihre Tochter. Die wiederum verdient schon mit elf Jahren ihr eigenes Geld, hat aber nicht gelernt ihre Grenzen zu erkennen und Nein zu sagen. An der Algarve schlitterte sie in mehrere Fettnäpfchen, kommt sich aber auch näher. Ich habe die Geschichte so gerne gelesen, weil es um eine junge Frau geht, die Probleme mit sich selbst hat, obwohl ihre Eltern keine Monster sind. Und im Gegensatz zu verschiedenen anderen LGBTQ Geschichten geht es einmal nicht ständig um Begehren, Leidenschaft und den körperlichen Akt, auch das hat mir gut gefallen. Verschiedene Stilblüten, die ich sonst nirgendwo gelesen habe, fand ich besonders. Viele Dialoge sind realitätsnah in Englisch erzählt und obwohl ich keine Granate der englischen Sprache bin, habe ich das, worum es geht emotional erfassen können. Das war rundum gelungene Unterhaltung, die die Schwierigkeiten der Protagonistin ohne großes Pathologisieren aufgezeigt hat.

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