Wichtiges Buch über Cybermobbing
Mit "Was wir nicht kommen sahen" ist Katharina Seck ein wichtiges Buch zu einem sehr relevanten und aktuellen Thema gelungen: Cybermobbing, das solche Ausmaße annehmen kann, dass es Menschen in den Suizid ...
Mit "Was wir nicht kommen sahen" ist Katharina Seck ein wichtiges Buch zu einem sehr relevanten und aktuellen Thema gelungen: Cybermobbing, das solche Ausmaße annehmen kann, dass es Menschen in den Suizid treiben kann. Das Buch ist von wahren Beispielen dafür inspiriert, wie die Autorin im Nachwort auch selbst anführt.
Das Buch ist aus drei Perspektiven geschrieben:
1) Ada, eine 18-jährige Schülerin, die sich auf Twitch einen Namen im Internet gemacht hat. Anfangs, indem sie während ihrer Videospiele live streamt, später - in Reaktion auf das Mobbing - auch als Aktivistin. Leider wird sie zur Zielscheibe einer Gruppe von Hatern, überwiegend aus der Incel-Community, die sich einen Spaß daraus machen, sie immer mehr zu bedrohen und zu bedrängen, nicht nur im Internet, sondern auch tatsächlich mit anonymen Nachrichten in ihrem Postkasten. So lange bis Ada keinen Ausweg mehr sieht und sich das Leben nimmt. Mit ihrem Suizid beginnt das Buch, die weiteren Ada-Kapitel sind dann aber wieder aus der Zeit vor dem Suizid geschrieben und zeigen, wie es so weit kommen konnte.
2) Jenny und Dominik, die Eltern von Ada, die durch den Suizid ihr einziges Kind verloren haben, gar keine Ahnung von Adas Online-Aktivitäten und dem Mobbing hatten und sich im Nachhinein versuchen, ein Bild davon zu machen und zu verstehen, was hier geschehen ist und wie es dazu kommen konnte. Sehr sympathische, bemühte Eltern, die ihre einzige Tochter über alles geliebt haben.
3) Die Anonymität: hier wird aus wechselnden Perspektiven, manche männlich, manche weiblich, von denen erzählt, die auf die eine oder andere Weise zum Cybermobbing beigetragen haben. Entweder, indem sie dieses direkt ausgeübt, andere angefeuert oder eine Nachricht oder ein Video weitergeleitet haben.
Insgesamt ist es damit ein sehr spannendes und aufrüttelndes Buch zum Thema Cybermobbing. Man spürt in jeder Zeile, wie es der Autorin ein echtes Anliegen ist, zu diesem Thema zu sensibilisieren und zum Kampf gegen Cybermobbing zu mobilisieren und dafür eignet es sich auch hervorragend und kann auch als Schullektüre empfohlen werden.
Warum dann keine fünf Sterne, sondern doch nur vier?
Ich habe mich mit dem Thema Suizid sehr tiefgründig beschäftigt, habe selbst Erfahrung als Hinterbliebene nach Suizid und ich habe schon so einige andere Bücher darüber gelesen, denen es gelingt, die damit verbundenen Dynamiken extrem authentisch einzufangen (z.B. "Wohin das Licht entflieht" von Sara Barnard oder "Von dem, der bleibt" von Matteo B. Bianchi). In Bezug auf dieses Thema kommt dieses Buch hier an die anderen Bücher nicht ran. Ich muss aber zugeben, hier sehr hohe Ansprüche an das Buch zu stellen.
Auch wenn die Autorin immer wieder versucht, mit sprachgewaltigen Metaphern das damit verbundene Leid zu schildern... etwas fehlt in dieser Perspektive und fühlt sich für mich als Betroffene nicht authentisch an, und zwar sowohl in der Zuspitzung der Entwicklung hin zu Adas Suizid, die ich in der Figur der Ada nicht wirklich nachfühlen kann, als auch in der Bewältigung des Suizids durch die Eltern, die dann doch überraschend schnell wieder Hoffnung zu schöpfen scheinen und schon nach sechs Wochen wieder deutlich positiver auf die Welt blicken , was sich in keinster Weise mit meiner Erfahrung in der Arbeit mit Menschen, die ein Kind durch Suizid verloren haben, deckt.
Es ist für mich somit kein authentisches Buch, um etwas über Suizidalität oder die Bewältigung des Suizids eines Hinterbliebenen zu lernen, dafür ist es für mich nicht nah und authentisch genug an diesem Thema dran. Die Dynamiken des Cybermobbings finde ich hingegen sehr authentisch dargestellt und zu diesem Thema sensibilisiert und mobilisiert das Buch ausgezeichnet.
Ein bisschen schade habe ich auch gefunden, dass man im Buch sehr klar merkt, dass die Autorin sich selbst ganz eindeutig dem linken politischen Spektrum zuordnet und die Menschen mit konservativen bzw. Mitte-rechts-Einstellungen stark dämonisiert. Auch wenn es zweifellos solche Gestalten, wie sie im Buch vorkommen, genau so in der Realität und im Internet gibt, hätte dies nicht noch damit verstärkt werden müssen, dass auch die Nachbarn - die mit dem Cybermobbing an sich nichts zu tun haben - als Coronamaßnahmengegner und als solche als dumpf und blöd charakterisiert werden.
Ich unterstelle der Autorin ein ziemlich einseitiges Weltbild und keine tiefgehende Beschäftigung mit Menschen ganz anderer politischer Einstellungen, die aber fernab von Radikalisierung sind. Es wirkt so, als ob sie, wie es derzeit leider in einigen Bereichen der Gesellschaft Mode zu sein scheint, alles rechts der Mitte einfach als radikal und dumm abstempeln würde, und die Weltsicht der eigenen sozialen Blase als einzig legitime und gute ansehen würde. Damit nimmt sich das Buch ein bisschen von dem Potential, breitflächig Menschen abzuholen. Insgesamt bleibt es aber dennoch aus den oben genannten Gründen ein gutes und wichtiges Buch.