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Veröffentlicht am 27.07.2017

Evolution und Revolution

Und Marx stand still in Darwins Garten
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„Dann schwiegen sie wieder. Nach einer ganzen Weile sagte Darwin: »Mir scheint, Sie [Marx] sind ein Idealist, obwohl ich natürlich weiß, dass Sie größten Wert darauf legen, die Welt auf materialistische ...

„Dann schwiegen sie wieder. Nach einer ganzen Weile sagte Darwin: »Mir scheint, Sie [Marx] sind ein Idealist, obwohl ich natürlich weiß, dass Sie größten Wert darauf legen, die Welt auf materialistische Weise zu betrachten.“ (69%)

Darwin und Marx. Zwei große Vor-Denker, die im Jahr 1881 nur wenige Kilometer voneinander entfernt in England leben.
Ilona Jerger nimmt diese Tatsache als Anlass zu spekulieren, wie ein Kennenlernen der beiden Männer hätte ablaufen können. Was hätten die beiden sich zu sagen? Wie passen ihre Weltansichten zueinander? Wie unterschiedlich sind ihre Charaktere und Temperamente?

Im Roman haben Darwin und Marx, beide schon alt und krank, denselben Arzt. Dr. Beckett erzählt seinen Patienten vom jeweils anderen. Er findet, dass ihre Theorien und Ansichten gewisse Überschneidungen haben und dass die beiden sich kennenlernen sollten.

Die Story ist sehr dialoglastig. Darwin redet mit Dr. Beckett über Marx, die Religion und seine Krankheiten. Marx redet mit Dr. Beckett über Darwin, die Religion und seine Krankheiten. Zu einem Treffen der beiden Großen kommt es dann eher zufällig und ohne das Dazutun des Arztes. Und auch erst, nachdem gut die Hälfte des Romanes gelesen ist.

An dieses ruhige Erzähltempo und die wenigen Schauplätze muss man sich als Leser erst gewöhnen. Bis auf einige Ausnahmen findet das gesamte Geschehen in einem der beiden Krankenzimmer und in Dialogform statt.
Auch merkt man, dass Darwin und Marx sich in der Realität nie begegnet sind, denn die Autorin zögert das Treffen hinaus und nähert sich der Thematik nur sehr vorsichtig. Sie scheint den realen Personen nicht allzu viele Worte in den Mund legen zu wollen. Entsprechend unspektakulär gestaltet sich der vermeintliche Höhepunkt des Romans: Marx und Darwin beobachten sich gegenseitig bei ihrem Treffen, die Gespräche übernehmen zu großen Teilen andere Figuren.

So ist dann auch die interessanteste Figur die des Dr. Beckett. Ein sehr moderner und progressiver Arzt, der seiner Zeit weit voraus ist. Er stellt die Arzt-Patient-Beziehung in den Vordergrund, weiß um die Wirkung der seelischen Verfassung auch auf den Körper.
"Am Bett des gebeutelten Professors war ihm klargeworden, dass es zwischen Arzt und Patient einer Allianz bedurfte, nicht nur einer Diagnose." (22%)

„Und Marx stand still in Darwins Garten“ ist ein eigenartiges Buch, wie ich es bisher noch nicht kannte. Aber es ist auch sehr unterhaltsam und lehrreich. Und auf jeden Fall etwas Besonderes.

Veröffentlicht am 15.12.2024

Unterhaltend, aber nicht tiefgründig

Für immer
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„Wir waren auch einmal Natur, wir Menschen, dachte sie. Jetzt sind wir nicht länger ein Teil dieses Kreislaufs, und ich weiß nicht, was wir sind, wer wir sind. Wenn es uns überhaupt gibt. Denn ein Mensch, ...

„Wir waren auch einmal Natur, wir Menschen, dachte sie. Jetzt sind wir nicht länger ein Teil dieses Kreislaufs, und ich weiß nicht, was wir sind, wer wir sind. Wenn es uns überhaupt gibt. Denn ein Mensch, der so unveränderlich ist wie ein Bild, muss eine Fiktion sein.“

An einem 6. Juni bleibt plötzlich die Zeit stillstehen. Aber nur für den Menschen, nicht für die Tiere und die Natur. Der Mensch entwickelt sich nicht weiter, er hat keinen Hunger mehr, altert nicht mehr, Krankheiten kommen zum Stillstand. Er kann nicht sterben, es werden aber auch keine Kinder mehr geboren.

Was zunächst einmal wie eine Chance für viele Menschen klingt, zeigt nach und nach seine Unnatürlichkeit und seine häßlichen Seiten. So aus dem natürlichen Kreislauf gerissen zu sein, verändert Beziehungen, Lebensentwürfe und Gesellschaften.
Besonders deutlich zeigt sich diese Problematik an denjenigen, die nicht aus dem Leben scheiden können und an den Ungeborenen, die nicht ins Leben starten können.
Doch auch die Menschen, die mitten im Leben stehen und im ersten Moment beschenkt wirken, müssen feststellen, dass sie angesichts der Ewigkeiten verzweifeln.

Maja Lunde hat mit ihrem neuen Buch eine spannende und unterhaltende Utopie geschrieben. Sie dringt zu Teilen in die Psyche der einzelnen Figuren vor und schafft es aufzuzeigen, an welche Grenzen unsere Gesellschaft angesichts einer Unsterblichkeit geraten würde.

Leider reißt sie einige Ideen und Theorien nur an, bleibt immer an der Oberfläche und schreibt somit letzten Endes nur einen guten Unterhaltungsroman mit einem hastigen und unbefriedigenden Ende.

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Veröffentlicht am 18.11.2024

Die Veganerin

Die Vegetarierin
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„Ich weiß nicht, warum diese Frau weint. Auch nicht, warum sie ihren Blick nicht von meinem Gesicht abwendet und mit zitternden Fingern ununterbrochen mein bandagiertes Handgelenk streichelt. Mein Handgelenk ...


„Ich weiß nicht, warum diese Frau weint. Auch nicht, warum sie ihren Blick nicht von meinem Gesicht abwendet und mit zitternden Fingern ununterbrochen mein bandagiertes Handgelenk streichelt. Mein Handgelenk tut mir nicht mehr weh. Es ist mein Herz, das schmerzt, und in meiner Magengrube spüre ich einen undefinierbaren Druck. Er ist immer da.“

Eine scheinbar sehr durchschnittliche und angepasste Frau trifft eines Tages die Entscheidung, dass sie keine tierischen Produkte mehr essen möchte. Ihr mindestens ebenso durchschnittlicher, aber hochgradig egoistischer und unsympathischer Ehemann, der sie nur geheiratet hat, weil sie ihm ruhig und angepasst erschien, wird davon völlig aus der Bahn geworfen.

Nach und nach erfahren wir allerdings, dass die Frau nie einfach nur angepasst war. Dass sie ein schon ihrer Kindheit unterdrückter und traumatisierter Mensch ist. Ihre Träume und ihre so rigoros durchgesetzte Lebensweise scheinen Ausdruck einer Psychose, die auf ein Umfeld trifft, in dem die kleinste Unangepasstheit nicht geduldet wird.

Vom Klappentext ausgehend hätte ich etwas anderes erwartet: Eine Auseinandersetzung mit Vegetarismus (/Veganismus) in einer Welt, die das vielleicht als neu und seltsam erlebt. Ich dachte an eine Geschichte, in der eine Beziehung aufgrund gesellschaftlicher Normen und Erwartungen an ihre Grenzen stößt.

Aber dieses Buch geht weiter. Die Gesellschaft, in der die Geschichte spielt, ist sehr viel rigoroser und unbeugsamer, als ich es mir vorstellen konnte. Emanzipation und Ehe spielen sich auf ganz anderen Ebenen ab.

Dass dieses Buch so viel mehr in die Tiefe geht und eine mir fremde Welt aufzeigt (in der Menschen aber dieselben Bedürfnisse nach Freiheit und Individualismus haben), hat mich zunächst positiv überrascht. Etwas ähnliches hatte ich bisher noch nicht gelesen. Die Autorin ist in der Lage, ganz tief in die Psychologie des Menschen vorzudringen und eine bildgewaltige Geschichte zu erzählen.
Dennoch musste ich die Lektüre abbrechen, denn die schrecklichen Tierquälereien, Vergewaltigungen und Demütigungen waren für mich nicht aushaltbar.

Ich bin also zwiegespalten: Ein Buch, das ich nicht zu Ende lesen konnte und das ich einfach viel, viel, viel zu grausam finde; bei dem ich aber gleichzeitig denke, dass es ein großartiges Werk sein muss… wie soll ich es bewerten?

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Veröffentlicht am 13.08.2024

Toxisches Patriarchat

Toxische Weiblichkeit
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„Emanzipation ist nicht nur die Befreiung von der institutionellen Dominanz der Männer, sondern auch die Befreiung von Weiblichkeit als patriarchaler Wunschvorstellung.“

Von toxischer Männlichkeit hört ...

„Emanzipation ist nicht nur die Befreiung von der institutionellen Dominanz der Männer, sondern auch die Befreiung von Weiblichkeit als patriarchaler Wunschvorstellung.“

Von toxischer Männlichkeit hört man immer wieder: Die Rollenerwartungen an Männer im Patriarchat fordern Aggressivität, vermeintliche Stärke und das Demonstrieren der eigenen Überlegenheit. Doch es gibt auch (mehr oder weniger konträre) Rollenerwartungen an Frauen: Zurückhaltung, Fürsorglichkeit und ein anbiederndes Äußeres.

Sophia Fitz fasst diese und viele weiteren Verhaltensweisen von Frauen unter dem Begriff der Toxischen Weiblichkeit zusammen. Sie analysiert, wie sich Weiblichkeit oftmals darstellt und welche der für Frauen scheinbar typischen Eigenschaften eigentlich erlernte Anpassungen an ein männergemachtes System sind. Sie zeigt auch auf, wie diese Anpassungen den Frauen selbst zum Nachteil werden.

Fitz’ Buch ist eine anregende Lektüre, die viele kleine Alltäglichkeiten als Patriarchatssymptome enttarnt. Lieber habe ich allerdings das Buch „Süß“ von Ann-Kristin Tlusty gelesen, an das ich mich bei dieser Lektüre oft erinnert fühlte. Den Begriff der Toxischen Weiblichkeit finde ich eigentlich schlecht gewählt. Er ist erklärungsbedüftig und hört sich ohne weitere Erklärung erst einmal an, als könne man nun also mit dem Finger doch auch auf die Frauen und Feminist*innen zeigen.

Des Weiteren kann ich mich in vielen der geschilderten persönlichen Situationen der Autorin nicht wiederfinden. So agiere ich nicht. Und so erlebe ich es auch nicht in meinem Umfeld. Vielleicht bin ich weniger toxisch weiblich. Oder zu alt.

Ein gutes Buch, aber vielleicht eher für jüngere Frauen.

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Veröffentlicht am 28.08.2023

Von der Unabhängigkeit einer Frau

Die Fessel
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„Gewohnheitsmäßige Grübelei hat stets etwas von Wahnsinn an sich und mündet oft in eine beabsichtigte Ekstase, die manchmal schmerzlich ist und manchmal nicht … Und nun fange ich auch noch an zu verallgemeinern.“

Nizza, ...

„Gewohnheitsmäßige Grübelei hat stets etwas von Wahnsinn an sich und mündet oft in eine beabsichtigte Ekstase, die manchmal schmerzlich ist und manchmal nicht … Und nun fange ich auch noch an zu verallgemeinern.“

Nizza, in den Zwanziger Jahren. Renee, eine geschiedene (sic!) Frau und Schauspielerin, genießt hier ihre Ruhe. Das Erbe ihrer verstorbenen Schwägerin ermöglicht ihr diese Freiheit. Sie lernt im Hotel ein hitziges junges Paar kennen und lässt sich bald schon auf eine Affäre mit Jean ein.
Diese Beziehung steht nicht nur aufgrund der äußeren Umstände unter einem schlechten Stern. Jean ist aufbrausend, wird schon seiner Partnerin gegenüber handgreiflich, und auch in der Beziehung mit Renee nimmt er den dominanten und fast desinteressierten Part ein. Während Renee sich ihm - trotz ihrer sonstigen Skepsis und Vorsicht - anbietet und emotional abhängig macht.

„Die Fessel“ ist der Nachfolger zum Roman „La Vagabonde“. Man kann die Bücher unabhängig voneinander lesen, allerdings finde ich, dass die Geschichte in der Luft zu hängen scheint, wenn man dieses Buch liest ohne vom Vorgänger zu wissen. Die Sprache Colettes ist sehr pompös und gleichzeitig verdichtet. Das Erzähltempo in beiden Büchern ist ein unheimlich langsames und anstrengendes. „Die Fessel“ ist allerdings etwas aufregender und gleichzeitig entspannter zu lesen. Renee ist nicht mehr ganz so zurückhaltend und langweilig.

Man muss in der Stimmung sein, um dieses Buch genießen zu können. Es kann die perfekte Sommerlektüre sein, aber die Geschichte trägt die Leser*in nicht leichtfertig, sondern verlangt viel Konzentration und Geduld. Außerdem sollte man sich vor Augen halten, in welcher Zeit hier ganz selbstverständlich von der geschiedenen, freien und unabhängigen Frau erzählt wurde und wird.

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