Interessierten an einer Psychotherapieausbildung steht in Österreich ein breites Spektrum an möglichen Therapierichtungen zur Verfügung, dabei kann es aber auch eine Herausforderung sein, sich schnell ...
Interessierten an einer Psychotherapieausbildung steht in Österreich ein breites Spektrum an möglichen Therapierichtungen zur Verfügung, dabei kann es aber auch eine Herausforderung sein, sich schnell und doch fundiert einen Überblick über diese Angebotsvielfalt zu verschaffen. Das
Büchlein „Gestalttherapie“ ist Teil einer Reihe, die es sich zum Ziel gesetzt hat, einen schnellen und doch tiefergehenden Einblick in die Grundprinzipien einer bestimmten Psychotherapierichtung zu geben. Es richtet sich also vorrangig an Menschen, die sich noch nicht viel mit Gestalttherapie beschäftigt haben und sich rasch ein Bild davon verschaffen möchten, um zu entscheiden, ob sie sich tiefergehend damit befassen möchten.
Zuerst wird auf die Entstehung der Gestalttherapie eingegangen und die Gestalttherapie theoretisch eingeordnet, so werden beispielsweise ihre Wurzeln im Bereich der Psychoanalyse, der Phänomenologie, des Holismus oder des Existenzialismus beschrieben. Auch auf die persönliche Geschichte und Entwicklung der Gründerfiguren wird kurz eingegangen. Den Kern des Buches macht aber die Beantwortung der Frage: „Was ist Gestalttherapie?“ aus. Dazu gibt es eine kurze Erläuterung der Grundbegriffe und Kernkonzepte der Gestalttherapie wie Figur-/Hintergrund-Konzept, Gestalt oder Hier-und-Jetzt-Prinzip. Ein kompakter Einblick in die gestalttherapeutische Diagnostik und Therapie sowie ein Vergleich mit anderen Verfahren ist ebenfalls Teil des Buches.
Dann folgt eine Beschreibung der Kernelemente und Techniken der Gestalttherapie, jeweils mit lebendigen Praxisbeispielen erklärt - Methoden wie die Arbeit mit Polaritäten, paradoxe Interventionen, Wiederholung und Verstärkung oder Stuhl-Dialoge werden beschrieben.
Am Schluss finden sich noch Ausführungen zur wissenschaftlichen Evidenz und eine Erklärung, warum dieser Nachweis aufgrund der Natur der gestalttherapeutischen Methoden besonders schwierig zu erbringen ist.
Angenehm lesbar macht das Buch, dass es in kurze Abschnitte geteilt ist, die immer wieder durch Praxisbeispiele, Dialoge, Exkurse und Zitate aufgelockert werden - die LeserInnen können also viel lernen, werden dabei aber gleichzeitig auch gut unterhalten. Man bekommt einen ersten Einblick darin, worum es bei der Gestalttherapie geht und kann auf dieser Basis besser entscheiden, ob man sich noch tiefer damit auseinandersetzen möchte.
Damit sind wir bei den Grenzen des Buches angelangt: für praktizierende GestalttherapeutInnen enthält es möglicherweise nicht viel Neues und aufgrund des einführenden Formats und der Kürze werden viele Themen nur kurz angerissen, aber nicht vertieft. Als Erinnerungsstütze und Nachschlagewerk für Grundkonzepte kann das Buch aufgrund seiner guten Struktur aber durchaus auch PraktikerInnen empfohlen werden, um sich gelernte Methoden (z.B. zu Leere - Arbeiten mit dem Nichts, Phantasie- und Gewahrseinsübungen, Traumarbeit,…) wieder in Erinnerung zu rufen.
"Trauriger Tiger" von Neige Sinno hat mir ein bisschen Angst gemacht, seit ich von dem Buch gehört, es mir gekauft und es mit seinem markanten Cover einer fast Ertrinkenden auf dem Schreibtisch vor mir ...
"Trauriger Tiger" von Neige Sinno hat mir ein bisschen Angst gemacht, seit ich von dem Buch gehört, es mir gekauft und es mit seinem markanten Cover einer fast Ertrinkenden auf dem Schreibtisch vor mir liegen hatte. Es ist von der Thematik her ein sehr heftiges Buch: Neige Sinno wurde als Kind jahrelang von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht und vergewaltigt, und erzählt in diesem Buch auf eine ihr sehr eigene Art und Weise davon.
Gleich am Anfang werden wir mit einer sehr explizit geschilderten Missbrauchsszene des Stiefvaters an ihr ins Geschehen hinein gestoßen. Dann folgt eine Reflexion Sinnos darüber, wer der Stiefvater als Persönlichkeit war und ist: ein sehr aktiver, extrovertierter, beliebter und charismatischer Mensch, der genau weiß, wie er Menschen für sich einnimmt, beeinflusst und Macht ausübt. Der Menschen so von sich überzeugen konnte und so viele Unterstützer hatte, dass sich selbst nach seinem Geständnis des Kindesmissbrauchs vor Gericht unzählige Entlastungszeugen fanden, die bereit waren, zu seinen Gunsten auszusagen und seinen ach so tollen Charakter zu loben. Wie übermächtig muss dieser Mensch der kleinen Neige erschienen sein!
Und auf der anderen Seite Neige Sinno, damals ein kleines Mädchen, heute schon lange erwachsen, und bis heute schwer traumatisiert und gebrochen. Das spricht sie auch an verschiedenen Stellen an, zum Beispiel, als sie einmal erwähnt, wie nur ein Teil von ihr hier ist und berichten kann. Und es wird fühlbar durch die starke Intellektualisierung, die sich durch das Buch zieht. Neige Sinno ist Literaturwissenschaftlerin und eine hochgebildete und hochintelligente Frau. Wie so viele traumatisierte Menschen, die gleichzeitig über so hohe kognitive Fähigkeiten verfügen, hat sie im Rückzug ins Intellektuelle auch in gewisser Weise ihre Rettung gefunden.
Trotz des so schlimmen Themas ist das Buch über weite Strecken sehr intellektuell und das führt dazu, dass man emotional beim Lesen immer wieder die Verbindung verliert und kaum gefühlsmäßig mitschwingt. Das hat durchaus seine Vorteile für die Lesenden, weil es dadurch die Lektüre wesentlich erträglicher macht, als wenn es anders wäre. Und es stellt die innere Abspaltung, die die Autorin wohl selbst erlebt, eindringlich dar. Gleichzeitig erreicht das Buch dadurch aber die Lesenden weniger auf der emotionalen Ebene - meine anfängliche Angst war in diesem Fall nicht begründet, das Buch ist wesentlich erträglicher zu lesen, als ich befürchtet habe.
Wenn ich überlege, was nachhallt, dann sind das nun auch nach Abschluss der Lektüre eher theoretische Überlegungen zum Thema, die die Autorin darin mit uns teilt: dazu, ob Gefängnisstrafen legitim sind und welchen Zweck diese erfüllen. Inwieweit Verbrechen und Strafausmaß miteinander zusammenhängen und zusammenhängen sollten. Was "Lolita" von Vladimir Nabokov für ein Buch ist (die Autorin liebt dieses, weil sie es mag, dass dadurch ausnahmsweise mal Kindesmissbrauch aus Sicht des Täters dargestellt wurde, was in der Literatur selten ist, und es ihr erleichtert hat, die Gedanken ihres Vergewaltigers nachvollziehen zu können) und ob es zu Recht so oft gelesen und rezipiert wird oder nicht auch problematisch sein kann. Welche Typologien von Vergewaltigern und Kindesmissbrauchern es geben könnte. Und so einiges mehr.
Geschrieben ist das Buch in einer "stream-of-consciousness"-Weise, es geht mal um dieses, mal um jenes, und ist nicht unbedingt sehr logisch und stringent gegliedert. Wir folgen der Autorin dabei, wie sie sich verschiedenen Aspekten ihrer Erfahrung überwiegend intellektuell annähert und dabei verschiedene Quellen miteinbezieht: aus der Literatur, aus Zeitungsartikeln über den Prozess (sie hat schlussendlich als junge erwachsene Frau den Stiefvater angezeigt, er hat vor Gericht gestanden und wurde zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, die er aber mittlerweile längst verbüßt hat), darüber, warum Menschen überhaupt Verbrechen begehen ("weil sie es können", meint die Autorin und zitiert dabei jemanden, der über Kriegsverbrechen geforscht hat) usw.
Eine Psychotherapie hat die Autorin nie gemacht, diese lehnt sie - vielleicht auch aufgrund von schlechten Erfahrungen mit Psychologen, die ihren Stiefvater mehr oder weniger freigesprochen haben - für sich ab. Ihre Auseinandersetzung ist und bleibt mehr eine intellektuelle, als eine emotionale. Das ist sehr gut nachvollziehbar, denn bei so einer tiefen, wiederkehrenden Traumatisierung diese alleine und ohne therapeutische Unterstützung auch emotional und nicht nur intellektuell aufzuarbeiten, das ist fast unmöglich. Es ist auch das gute Recht der Autorin, überwiegend auf der intellektuellen Ebene zu bleiben, vermutlich hat ihr diese ihr Überleben ermöglicht - oder zumindest das Überleben des Teils ihrer Persönlichkeit, der sich in dem Buch an uns Lesende wendet.
Es ist kein bequemes Buch für Lesende und richtet sich in seiner Art und Strukturierung auch nicht unbedingt vorrangig an uns. Eher ist es als persönliches intellektuelles Bewältigungstagebuch mit Quellen zu verstehen, an dem uns die Autorin teilhaben lässt, ohne sich in ihrem Schreibstil allzu sehr an uns und unsere Bedürfnisse beim Lesen und Verstehen anzupassen.
Immer wieder ist das Buch sperrig und nicht alles, was die Autorin erwähnt, erklärt sie auch schlüssig. Es ist und bleibt ihre sehr persönliche und eigene Sichtweise auf das Thema. Unklar ist mir auch bis heute der Titel und was in diesem Kontext "Trauriger Tiger" bedeutet. Die Autorin erwähnt ein Gedicht, in dem der Tiger und dessen Beutetier vorkommen und dass wohl beide vom gleichen Schöpfer erschaffen wurden, aus der gleichen Quelle stammen. Sie setzt also offensichtlich den Tiger mit dem Vergewaltiger gleich. Dann ist mir aber nicht klar, warum dieser Tiger traurig sein soll? Traurig, aber vor allem sehr wütend, kommt mir eher das Opfer, die Autorin vor... sieht sie sich dann auch als Tiger? Der Vergewaltiger wird hingegen eindringlich charakterisiert und scheint in Summe alles Mögliche zu sein - eingebildet, charismatisch, selbstbewusst, großkotzig - und in der Lage, nach 9 Jahren Gefängnis eine neue junge Frau zu finden und mit dieser weitere vier Kinder zu kriegen - aber traurig wirkt er nicht.
Vielleicht besteht aber gerade auch in der Sperrigkeit des Buches und in dem, was uns die Autorin nicht genauer erklärt und wo sie sich beim Schreiben des Buches nicht an potentielle Lesende anpasst, ein Akt der Rebellion gegen die Vergewaltigungen und ein großer Befreiungsschlag: nun, wo sie erwachsen ist und sich wehren und für sich einstehen kann, braucht die Autorin niemandem gegenüber mehr gefällig sein, auch nicht den Lesenden ihres Buches.
Ich bin froh, dieses Buch gelesen zu haben. Es ist ein eindringliches, besonderes Buch, das auf seine Weise sicher lange nachwirken wird.
Das Buch "Flavorama" wurde von der promovierten Geschmackswissenschaftlerin Arielle Johnson geschrieben. Das ist vorab sehr wichtig zu wissen, um eine erste Idee vom Anspruch dieses Buches bekommen zu ...
Das Buch "Flavorama" wurde von der promovierten Geschmackswissenschaftlerin Arielle Johnson geschrieben. Das ist vorab sehr wichtig zu wissen, um eine erste Idee vom Anspruch dieses Buches bekommen zu können.
Das Buch geht richtig, richtig in die Tiefe. Wer nur hin und wieder gerne kocht und sich hauptsächlich ein nettes Kochbuch erwartet, vielleicht noch mit ansprechenden Bildern, und dazu ein bisschen Hintergrundwissen zum Thema Geschmack, der wird mit diesem Buch keine große Freude haben.
Denn das Buch enthält richtig viel theorielastigen Text zum Thema Geschmack. Man kann darin sehr viel lernen, auch über die chemischen Hintergründe des Geschmacks, z.B. dazu, welche Moleküle dazu führen, dass etwas scharf schmeckt oder welche Säuren Elemente des fruchtigen Geschmacks ergeben können.
Wer also wirklich tiefgründig etwas über Geschmack lernen möchte und dabei auch vor viel Theorie nicht zurückschreckt, für den könnte dieses Buch etwas sein. Auch für Hobbyköche mit sehr hohem Anspruch oder Profiköche ist dieses Buch sehr interessant, weil es unglaublich viel Hintergrundwissen zu Geschmäckern vermittelt, von dem auch die eigene Kochkunst profitieren kann.
Dennoch ist es definitiv kein Kochbuch, sondern ein theoretisches Fachbuch über Geschmack. Zwar enthält es gelegentlich auch ein paar Rezepte, doch diese muss man erst einmal finden: es gibt keine Bilder dazu und sie heben sich grafisch auch kaum vom Rest des Fließtextes ab. Und dann sind es oft eher Rezepte, um die vermittelten Geschmacksprinzipien zu verdeutlichen, also solche, die eher einem didaktischen als einem kulinarischen Zweck dienen, und auch auf eher chemische Art und Weise beschrieben werden. Man braucht auch oft ziemlich spezielle Zutaten dafür z.B. Panela-Zucker.
Insgesamt ist es ein gutes und hochwertiges Buch, das aber nur für eine sehr spezielle Zielgruppe empfehlenswert ist. Ich empfehle allen, die sich dafür interessieren, sich vor der Kaufentscheidung genau zu informieren, worum es sich hier handelt.
Charles Lewinsky ist bekannt dafür, sich in seinen Büchern auf humorvolle, spritzige Art und Weise mit ganz unterschiedlichen Themen auseinanderzusetzen. In ...
Führt uns die KI in die absolute Banalität?
Charles Lewinsky ist bekannt dafür, sich in seinen Büchern auf humorvolle, spritzige Art und Weise mit ganz unterschiedlichen Themen auseinanderzusetzen. In seinem neuesten Buch "Täuschend echt" geht es um das aktuelle Thema der künstlichen Intelligenz und die Frage, was passiert, wenn wir diese bei unserer Arbeit und für unsere Entscheidungen einsetzen, z.B. um einen Roman zu schreiben.
Der Ich-Erzähler ist ein im Leben gescheiterter und sich selbst ständig bemitleidender, zynisch gewordener Mensch, der von seiner Ex-Freundin Sonja belogen, ausgenutzt und bestohlen wurde - sie hat nach ihrem Auszug auch seine Kreditkarte mitgenommen, um damit auf Bali zu feiern - sich nun widerwillig um die von derselben zurückgelassene Schlange kümmert und daneben als mäßig erfolgreicher Werbetexter arbeitet, bis er auch diesen Job verliert, weil er von seinem Chef bei Privataktivitäten in der Arbeitszeit ertappt wird. Dieser namenlose Ich-Erzähler, sein Scheitern und insbesondere seine Rachefantasien gegenüber Sonja bilden den ersten Themenstrang dieses Romans.
Der zweite Themenstrang besteht aus der fiktiven Geschichte in der Geschichte, aus dem Roman, den der Ich-Erzähler mit Hilfe der KI schreibt. In diesem geht es extrem klischeehaft um die junge Schabnam aus Afghanistan, die unter einem Vorwand dorthin zurückgelockt wird und extremes Leid erdulden muss, bis hin zur Entstellung durch ein Säureattentat. Von einem reichen Menschen, der sich mit seiner Wohltätigkeit profilieren möchte, dazu beauftragt, einen rein auf Tatsachen beruhenden Roman über benachteiligte Menschen und deren Schicksale zu verfassen, erfindet der Ich-Erzähler mit Hilfe der KI die klischeehafte Schabnam-Geschichte. Nur blöd, dass diese ein Bestseller wird und der Druck, die echte Schabnam präsentieren zu können, immer größer wird.
Das Buch ist über viele Strecken eine leichte, humorvolle Unterhaltung für Zeiten, in denen man nicht den Kopf und die Nerven für anspruchsvollere Lektüre hat. Immer wieder scheint der Witz durch, den Lewinsky durchaus hat. Anfangs war es für mich auch spannend, mitzuverfolgen, was für eine Art von Roman mit Hilfe der künstlichen Intelligenz entsteht. Die Schabnam-Geschichte beruht nämlich auf echten Vorschlägen dieser. Leider erfahren wir aber nicht, welche Prompts Lewinsky bzw. der Ich-Erzähler dafür eingegeben hat.
Mit zunehmendem Fortschreiten der sehr klischeehaften Schabnam-Geschichte wurde es für mich beim Lesen aber immer langweiliger. Ich hatte das Gefühl, das Erkenntnispotential über KI, das ich aus diesem Roman gewinnen konnte, schon ausgeschöpft zu haben, und spätestens in der Hälfte des Buches ein Gefühl für deren Vorteile und Grenzen gewonnen zu haben.
Auch der Erzählstrang des namenlosen, sich vom Leben benachteiligt fühlenden Mannes entwickelt sich zunehmend klischeehaft und vorhersehbar, wie ein billiger Krimi, und endet schließlich auch als solcher. Das mag eventuell vom Autor so gewollt und ein spezieller Kniff sein und es bleibt zu rätseln, ob nicht auch bei diesem Themenstrang ungenannt die KI mit am Werk war?
Jedenfalls gleichen sich beide Themenstränge in ihrer Klischeehaftigkeit und Banalität immer mehr an. Zum Lesen macht es das nicht unbedingt spannend, gibt aber Stoff zum Nachdenken darüber, in welcher Welt wir leben wollen und was für Bücher entstehen könnten, wenn die KI, so wie sie momentan funktioniert, bei deren Erstellung eine immer größere Rolle spielen würde, und wie dadurch Durchschnittlichkeit, Banalität und Klischees immer wieder reproduziert werden.
So gesehen ist es ein gutes Buch, das zum Nachdenken anregt, sich aber nicht sonderlich interessant liest und auch nach meiner Beurteilung sein mögliches Potential nicht voll ausschöpft. Gerne hätte ich z.B. zur Vervollständigung auch die Prompts gelesen und noch mehr darüber erfahren, ob und wie es auch möglich wäre, mit der KI jenseits dieser Banalität zusammenzuarbeiten - so habe ich nur die eine Seite kennen gelernt: das, was die KI ausgibt, aber kann nicht klar darauf schließen, inwiefern das damit zusammenhängt, womit sie gefüttert wurde.
Vorab: ich würde diesem Buch am liebsten gar keine Sternewertung geben, denn es ist für mich jenseits einer solchen logisch-linearen Bewertung. Die vier Sterne, für die ich mich letztendlich ...
Gesamteindruck:
Vorab: ich würde diesem Buch am liebsten gar keine Sternewertung geben, denn es ist für mich jenseits einer solchen logisch-linearen Bewertung. Die vier Sterne, für die ich mich letztendlich entschieden habe, kommen aus meinem Gefühl: ich habe sehr davon profitiert, dieses Buch gelesen zu haben und werde weiterhin davon profitieren. Jedoch ist es ein sperriges, an vielen Stellen unzugängliches und schwierig zu lesendes Buch. Es ist völlig anders als alles, was ich bisher gelesen habe, und ich, die ich im Durchschnitt drei Bücher pro Woche lese, habe mich an diesem Buch drei Wochen lang abgearbeitet und für die rund 700 Seiten so lang gebraucht, als wären es 2000 gewesen. Es war auch nicht unbedingt durchgängig ein Lesevergnügen, sondern eine große Herausforderung, dranzubleiben.
Warum habe ich das Buch also überhaupt gelesen und warum habe ich es zu Ende gelesen?
Weil eines meiner wichtigsten Ziele im Leben die persönliche Entwicklung und Erweiterung meines Horizonts ist. Und was diese Kriterien angeht, ist dieses Buch absolut großartig! Es hat mich herausgefordert und aus meiner Lesekomfortzone geschleudert wie schon lange keines mehr. Und ich habe beim Lesen immer wieder gespürt - ja, es ist ein gutes Buch, ein sehr gutes sogar - ein Buch, in das unglaublich viel Wissen, Verständnis und Komplexität geflossen ist, ein Buch mit treffenden und ungewöhnlichen Metaphern, die ich so noch nie gelesen habe, aber zum Nachdenken anregen, und ein Buch jenseits bekannter literarischer Konventionen, das sich völlig dem entzieht, was wir uns als Lesende anspruchsvoller Literatur normalerweise von einem Buch erwarten.
Gerade weil dieses Buch so anders ist, hat es mir wieder ins Bewusstsein gerufen, wofür ich sonst eine lange, teure Reise ins außereuropäisch geprägte Ausland bräuchte: unsere Werte und unsere Art, zu denken, zu planen, zu strukturieren und die Dinge zu betrachten, sind nicht absolut zu sehen, sondern sehr stark kulturell geprägt. Die westlich geprägte Literatur wurzelt in den Säulen, die die westliche Kultur in den letzten Jahrtausenden geprägt haben: auf den Werten der christlich-jüdischen Religionen, auf den philosophischen Vorstellungen der Antike, auf dem rational-wissenschaftlichen Denken der Aufklärung usw. Das ist aber nicht das einzige, was es gibt - so sind andere Kulturräume durch völlig andere Faktoren geprägt worden, das ist mir auch schon bei näherer Auseinandersetzung etwa mit asiatischen Kulturen bewusst geworden.
Vor diesem Hintergrund ist zu sagen: wer sich ein logisch-aufgebautes, stringentes Buch mit bekannten, verständlichen Metaphern und einer Beziehungsgestaltung und einem Glaubenssystem, wie wir sie aus unserem westlichen Alltag kennen, erwartet, der wird mit "Ours" nicht glücklich werden. Das Buch ist völlig, völlig anders.
Worum geht es (Achtung, hier handelt es sich um meine höchstpersönliche Interpretation... das Buch ist dermaßen vielschichtig und symbolisch, dass vieles unklar bleibt und jede/r was anderes hineininterpretiert):
Um eine mystische Geschichte befreiter ehemals versklavter Menschen mit afrikanischen Wurzeln, die in den USA des 19. Jahrhunderts spielt. Diese Geschichte wird aber nicht so erzählt, wie wir westlich sozialisierten Menschen sie vielleicht erzählen oder uns vorstellen würden.
Der Autor ist selbst Teil der afroamerikanischen Community und hat sich für die Arbeit an diesem Buch tief in die afrikanische Mythologie eingearbeitet. Kern dieser Mythologie - so wie sie uns im Buch begegnet - ist der Glaube an Energien und Zauberei (ein bisschen ähnlich manchem, was sich in der im Westen verbreiteten Esoterik so findet, aber wesentlich ausgeprägter und ohne den geringsten Zweifel daran). Man kann mit Zauberei etwas oder sich selbst unsichtbar machen, andere heilen oder krank machen, etwas schützen, eine Handlung in ihrer Wirkung umkehren, andere verfluchen und vieles mehr.
Ich verstehe es so: dieser Glaube ist etwas, was die versklavten Menschen selbst oder vermittelt durch Verwandte und Bekannte als Erbe aus ihrer afrikanischen Heimat mitgebracht und über die Versklavung hinweg bewahrt haben. Es ist etwas Ursprüngliches, das ihnen geblieben ist, aber das gleichzeitig ebenso wie die Menschen selbst durch die grausame Unterdrückung beschädigt wurde und nur in dieser beschädigten Form und zutiefst traumatisiert weiter praktiziert werden kann, selbst, als die Freiheit wieder erlangt wurde.
Die alterslose Saint wandert also durch die USA des 19. Jahrhunderts und befreit auf magischem Wege und dabei meist auch durch Ermordung der sogenannten Herren und Herrinnen einige afroamerikanische Menschen aus der Versklavung. Sie nimmt sie mit nach "Ours", eine neu gegründete Stadt und ein Schutzraum für die Menschen. Ours wird durch Saints Zauber von mehreren magischen Schutzsteinen geschützt und dadurch für Eindringlinge unsichtbar. Auf ihrer Mission ist Saint nicht zimperlich, es kommen dabei immer wieder Menschen, geplant wie ungeplant, ums Leben, sowohl Weiße als auch Afroamerikaner.
Wir erleben die Gründung von Ours durch Saint mit und die Jahre und Jahrzehnte danach. Dabei gibt es immer wieder Zeitsprünge in alle Richtungen. Der komplexeste Charakter im Buch, über den wir auch am meisten erfahren, ist definitiv Saint selbst. Sie ist trotz ihrer grundsätzlich guten Absichten bei der Gründen der Stadt bei weitem keine Heilige, sondern trägt ihre eigenen charakterlichen Herausforderungen wie Eifersucht und Rachsucht sowie ein hohes Ausmaß an Traumatisierung mit sich. Auch wird deutlich, dass sie zwar ein magisches Naturtalent zu sein scheint, aber von niemandem wirklich gut und ethisch fundiert in die Möglichkeiten und Grenzen der Magie eingewiesen wurde - niemand hat diese Eltern- oder Mentorenfunktion für sie längerfristig erfüllt - was diverse unangenehme Nebenwirkungen mit sich bringt, wenn ein Schutz nicht wie gewünscht wirkt oder ein aus Zorn gewirkter Rachezauber noch deutlich ärger ausfällt als von ihr geplant.
Neben Saint lernen wir noch diverse weitere afroamerikanische Bewohner und Bewohnerinnen der Stadt kennen, die verschiedensten Alters sind. Manche sind nach ihrer Befreiung mit Saint dort hingezogen, manche wurden schon dort geboren und wuchsen dort auf. Allen gemeinsam ist das Erbe der eigenen und/oder transgenerationalen Traumatisierung, das überall spürbar ist und sich durch alle menschlichen Beziehungen gibt. Es ist ein düsteres Buch, in dem es sehr wenig echte Liebe und menschliche Verbundenheit gibt, dafür viel Wut, Eifersucht, Trauer, Rache und gegenseitige Missverständnisse. Gerade das macht es aber durchaus authentisch, denn schließlich handelt es sich um lauter Überlebende schwerster Traumatisierung, die zudem von ihrer ursprünglichen Heimat und Kultur entwurzelt wurden.
Das Buch ist ein wahres Epos, es nimmt sich ausführlich Zeit, diverse Nebenhandlungen und Nebenfiguren zu schildern, in Form eines Mosaiks einzelner Szenen, die nicht unbedingt auf den ersten Blick (und auch nicht zwangsläufig auf den zweiten oder dritten) in sich logisch sind oder zusammenpassen. Es lohnt sich, sich dabei Zeit zu nehmen und Notizen zu machen, da das Buch leider über kein Personen- oder Sachverzeichnis zum Nachschlagen verfügt.
Wie gesagt, wer hier Logik und Linearität sucht, der wird nicht glücklich werden mit dem Buch, es mäandert und umkreist das Thema. Gerade darin liegt für mich aber auch trotz all des Unbequemen ein starker emanzipatorischer Anspruch: denn muss sich ein Buch, geschrieben von jemandem aus der afroamerikanischen Tradition, in dem es um die Befreiung aus der Versklavung geht, denn den literarischen Konventionen anpassen, die die Kultur der Unterdrücker bis heute prägen? Muss es nicht, meiner Meinung nach. Es darf auch etwas ganz anderes sein, und das ist dieses Buch.
Es gibt nicht nur das logisch-lineare Denken, das unsere westliche Kultur so stark prägt. Viele andere Kulturen haben ganz andere Formen von Zeitwahrnehmung, ganz andere Beziehungen, eine ganz andere Struktur, einen ganz anderen Glauben, und diese sind nicht schlechter als unsere, nur uns selbst nicht so bekannt und vertraut, und können dadurch auf westlich sozialisierte Lesende unbequem bis verstörend wirken.
Ja, jetzt spüre ich wieder, warum ich dem Buch 4 Sterne gebe. Es ist wirklich ein gutes Buch. Einen Stern Abzug dennoch dafür, dass das Buch diese so fremdartige Welt auf so fremdartige Art und Weise vorstellt und westlichen Lesenden keinerlei Brücken baut, nicht einmal wirklich in Fußnoten, Querverweisen oder im Anhang. Würde es das tun, könnte es sicher noch wesentlich mehr Menschen für sich begeistern und damit tatsächlich kulturvermittelnd wirken. So bleibt es wohl vermutlich eher am Rande und erschließt sich nur denen, die die Muße, Zeit, Geduld - und/oder das Vorwissen (mit einem solchen über afrikanische Geschichte und Mythologie wäre wohl einiges deutlich verständlicher gewesen) - haben, sich tief darauf einzulassen, ohne alles gleich oder auch nur irgendwann zu verstehen.
Emotional und in meinen Gedanken wird mich das Buch noch länger begleiten. Ich habe davon profitiert, aber das braucht ein tiefes Sich-Einlassen, vor allem mit dem Gefühl, denn der Verstand alleine wird von diesem Buch an vielen Stellen verwirrt oder sogar verärgert werden. Es prüfe jeder Interessierte für sich, ob man sich gerade an einem Punkt im Leben befindet, an dem man sich auf so etwas tief einlassen will und kann.