Wichtiges Thema und interessanter Schreibstil- ein bisschen was hat aber gefehlt
In ihrer Autobiografie „Strong Female Character“ berichtet Fern Brady, wie sie als Erwachsene die Diagnose Autismus erhält. Sie springt von der Gegenwart in die Vergangenheit und führt die Lesenden durch ...
In ihrer Autobiografie „Strong Female Character“ berichtet Fern Brady, wie sie als Erwachsene die Diagnose Autismus erhält. Sie springt von der Gegenwart in die Vergangenheit und führt die Lesenden durch prägende Momente ihrer Kindheit und Jugend. Da man als Lesende mit ihrer Diagnose in die Geschichte einsteigt und die Kenntnis über ihren Autismus demnach von Anfang an besitzt, ist es beim Lesen und Durchleben ihrer Kindheit einfach krass, wie deutlich die Anzeichen schon früh waren und dass es trotzdem niemand hinterfragt hat oder eine Diagnose gestellt wurde. Zu einem späteren Zeitpunkt verbringt Fern sogar einige Monate in einer Psychiatrie, wo selbst Expertinnen nichts bemerkt haben (wobei diese sogenannten Expertinnen ohnehin fraglich waren).
Es gibt ein paar Abschnitte, die mich kopfschüttelnd und teilweise wirklich fassungslos zurückgelassen haben. Wie ihre Eltern so mit ihrem Kind umgehen konnten und das Verhalten so gar nicht tiefer hinterfragten, hat mich wütend gemacht . Die Erzählungen aus der Tagesklinik fand ich spannend. Aber auch hier: ganz viel Kopfschütteln, dass sie nicht mal dort, umgeben von „Expert*innen“ richtig diagnostiziert wurde.
Was mir nicht so gut gefallen hat:
- Am Ende hätte ich mir gewünscht, dass der Bogen zum ersten Kapitel nochmal gespannt wird. Es besteht tatsächlich eine Lücke zwischen dem Ende des Buches und dem Weg zur Diagnose, die Geschichte wie sie ihren aktuellen Partner kennengelernt hat etc. Das hätte mich persönlich schon interessiert!
-Auch die Versöhnung mit den Eltern fand ich persönlich merkwürdig. Ja, ihre Mutter mag sie in einzelnen Situationen unterstützt haben. Im Gesamtbild haben beide Elternteile meiner Meinung nach aber sehr viel Unverzeihliches getan, was ihre Tochter obdachlos zurückließ, ins Existenzminimum gebracht und in eine toxische Beziehung gedrängt hat.
Was mir gut gefallen hat:
- zu lesen, wie sie irgendwie total rational an das Thema Sexualität herangeht und das nicht hinterfragt, nun auch mit Frauen Sex zu haben. Generell, dass sie Sex hat, weil es ihr Spaß macht und sich für sie gut anfühlt ist ja eigentlich ein sehr fortschrittlicher Gedanke für die Zeit (vor allem im Kontrast zu der konservativ katholischen Einstellung ihrer Eltern).
-Es gibt viele Fußnoten und Links, die Begriffe erklären und tiefer ins Thema gehen. Nicht zuletzt dadurch ist das Buch nicht nur emotional, sondern durchaus auch lehrreich und schafft ein gewisses Verständnis für Menschen mit Autismus.
Insgesamt kann ich trotz einiger Kritikpunkte sagen, dass ich es echt gern gelesen habe. Der Schreibstil (sehr umgangssprachlicher Ton) und Humor haben mir gut gefallen, wenn auch die Kapitel manchmal sehr lang sind. Da das ganze aber gleichzeitig auch stellenweise recht emotionslos erzählt wurde wurde, war es manchmal nicht so leicht, die Gefühlslage der Autorin einzuschätzen und sich in das Erzählte reinzufühlen. Was aber wiederum auch sehr passend beim Thema Autismus ist!