Profilbild von galaxaura

galaxaura

Lesejury Profi
offline

galaxaura ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit galaxaura über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 25.05.2024

Ein Kunstkrimi, der auch vor den großen Fragen nicht Halt macht

Der falsche Vermeer
0

„Der falsche Vermeer“ von Patrick van Odijk entführt uns in die Niederlande zur Nachkriegszeit und erzählt uns von einem der größten Kunstskandale dieser Zeit – soweit die Oberfläche. Das Buch kommt in ...

„Der falsche Vermeer“ von Patrick van Odijk entführt uns in die Niederlande zur Nachkriegszeit und erzählt uns von einem der größten Kunstskandale dieser Zeit – soweit die Oberfläche. Das Buch kommt in einem festen weißen Einband und einem sehr schön gestalteten Schutzumschlag. Das Motiv zeigt einen Ausschnitt aus Vermeers wohl bekanntestem Bild "Das Mädchen mit dem Perlenohrring" und ohne dass die Perle zu sehen ist, wird es wohl jede:r sofort erkennen. Dazu ein Lesebändchen, das das Vermeergelb aufgreift und wirklich schönes Papier, eine wunderschöne Gestaltung, die das Leseerlebnis auch haptisch zu einem Highlight macht.
Im Innenleben des Buches kommt die junge Reporterin Meg (Margriet) van Hettema, die während des zweiten Weltkriegs im Widerstand schreibend aktiv war, dem Kunstfälscher Jan van Aelst auf die Spur und wittert ihre Chance, mit einem Scoop der Bedeutungslosigkeit ihres journalistischen Daseins zu entkommen, in dem sie von ihrem Chefredakteur bevorzugt mit „Frauenthemen“ bedacht wird. Stattdessen nun Jan van Aelst, ein schillernder Künstler, den sie noch aus der Kriegszeit kennt und der viele Angriffsflächen bietet, einerseits der Kollaboration mit den Nazis beschuldigt, andererseits entpuppt sich immer mehr, dass er womöglich in der Kriegszeit mehrere Vermeers gefälscht hat, womit er nicht nur der Kunstwelt im Allgemeinen, sondern sogar Göring ein Schnippchen geschlagen hat. Die am Anfang des Buches zunächst fließenden Zeitebenen sind eine kleine Herausforderung beim Lesen, doch je weiter das Buch fortschreitet, desto mehr findet sich auch die Orientierung. Sehr lebendig gelingt van Odijk die Schilderung der Kriegs- und Nachkriegszeit, vor dem inneren Auge laufen sofort Dokumentarfilmbilder ab. Und während der Fall sich immer weiter entwickelt und wir immer tiefer in die Kunstwelt und die gut gezeichneten Charaktere eintauchen, lernen wir zeitgleich wie nebenbei viele Details über diese Zeit und ihre Schicksale – und über den Kunstmarkt und seine Eitelkeiten. Das ist gut gemacht und über weite Strecken spannend und dynamisch geschrieben, verliert sich aber zwischendurch auch immer mal in Weitschweifigkeiten, und das Mittel des Berichts wird dann doch etwas überstrapaziert, hier wäre mehr direkte Handlung ein Gewinn gewesen.
Über die komplexe, auf der realen Geschichte des Han van Meegeren beruhende Handlung soll nicht zu viel verraten werden, es gelingt van Odijk aber in jedem Fall durch multiple Plottwists bei einer scheinbar klaren Ausganglage immer wieder zu überraschen. Dabei bettet er indirekt viele übergeordnete Fragen ein: Darf Kunst unpolitisch sein? Was unterscheidet Kunst von Kunsthandwerk? Kann eine gute Tat eine schlechte aufwiegen? Und können Straftaten gegeneinander ausgespielt werden? Keine Sorge, diese Fragen sind so handlungsimmanent, dass sie den Lesenden nicht entgegenspringen. Hier wird kein Essay geschrieben – und doch hat der Inhalt unter der Oberfläche immer wieder essayistisches Gewicht. Und ist es ein Zufall, dass wir es hier mit einem verhinderten Künstler auf dem Höhepunkt seiner Hybris zu tun haben, der in der Kriegszeit alles getan hat, um der Welt zu beweisen, dass er Geltung verdient hätte – und dass auch Hitler auf der Kunstakademie abgelehnt wurde? Vielleicht ist diese Parallele zu gewagt, dennoch schwang sie immer im Kopf mit beim Lesen, und das hat damit zu tun, dass das Buch unterschwellig den Geist für die großen Themen öffnet, während auf der Oberfläche ein Kunstkrimi erzählt wird, mit vielen Details und tollen Ideen.
Es lohnt sich also, einen Blick in diese verrückte Welt zu riskieren und auf die Reise zu gehen. Und vielleicht mal auf dem eigenen Dachboden nachzuschauen, welche Schätze dort zu finden sind. Egal ob echt oder Replik – nicht nur die Schönheit, auch die Kunst liegt vielleicht doch im Auge der betrachtenden Person.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 01.04.2024

Ein echter Ostsee-Pageturner

Ostseefinsternis
3

Mit >OstseefinsternisOstseefinsternis< und doch wird auch sofort mit unserer Erwartungshaltung gespielt. Stella Böttcher wird nachts auf dem Nachhauseweg überfallen und misshandelt – wider Erwarten überlebt ...

Mit >Ostseefinsternis<, dem inzwischen 19. Band der Pia Korittki-Reihe, legt Eva Almstädt in gewohnt guter Manier erneut einen echten Pageturner vor, den mensch nicht mehr aus der Hand legen möchte.
Wie gewohnt startet es spannend in Eva Almstädts neuem Ostseekrimi >Ostseefinsternis< und doch wird auch sofort mit unserer Erwartungshaltung gespielt. Stella Böttcher wird nachts auf dem Nachhauseweg überfallen und misshandelt – wider Erwarten überlebt sie den Angriff jedoch relativ unbeschadet (wir haben also gar keine Leiche) und führt uns in die Geschichte einer alten Familienfehde zwischen den „Böttchers“ und den „Hagendorfs“. Ein Inselklassiker In diesem Zusammenhang feiere ich extrem die Aufmachung des Buches mit dem eingefalteten Buchdeckel, hinter dem sich die Stammbäume und Familienkonstellationen der Böttchers und Hagedorns verbergen und so einen guten Überblick geben – die lesende Person wird den Stammbaum mehrfach heranziehen, so kompliziert ist die Gemengelage und auch Pia selbst stöhnt in der Mitte des Buches auf und wünscht sich genau eine solche Grafik, ein schöner Binnenwitz.
Was also hat es auf sich mit diesem Überfall? Almstädt liefert uns auf den ersten Seiten direkt eine Vielzahl von Motiven und Verdächtigen, schafft es für mich aber dennoch gut, dass mensch all die Namen und Personen einsortieren kann und ein Bild von ihnen bekommt. Über all dem wacht die Familienchefin Helmgard, die vielleicht im physischen Sehen eingeschränkt ist, ansonsten aber vielmehr sieht, als manch anderer.
Und Pia? Kämpft erst einmal mit ihrem Privatleben, mit ihrem Sohn Felix, der Angst vor tiefem Wasser hat (wie ungünstig, wenn man in Lübeck, genau zwischen Nord- und Ostsee lebt), dem sie noch irgendwann irgendwie erklären muss, dass eigentlich Marten, ihr Freund, sein Vater ist, mit dem Urlaub, den sie tatsächlich mal machen kann, und von dem wir schon ahnen: Das wird nix.
Der Schreibstil ist, wie immer bei Almstädt, einfach super, genau die richtige Menge an Details, unterlegt mit einem feinen Humor, sehr gute, unaufwändige, oft indirekte, also eher durch die Wirkung auf das Gegenüber erzählte Figurencharakterisierungen und ein spannungsgeladener Faden, der sich durchzieht.
Während sich Pias Konflikt mit sich selbst vertieft, zum einen die Traumatisierung, zum anderen ihre Besessenheit von ihrem Beruf, die es ihr fast unmöglich macht, abzuschalten und dann noch die innere Not, ihrem Sohn zu erzählen, wer wirklich sein leiblicher Vater ist, kommt es nach knapp 50 Seiten dann auch zum Mord.
Wie immer findet Almstädt die genau richtige Dosis zwischen Privatleben der ermittelnden Personen und Handlung des Falles. Und wer das Leben auf dem Dorf kennt, der weiß: Hier ist jede:r mit jede:m verstrickt, so dass sich die Verdächtigen munter die Klinke in die Hand geben und die Verwirrung immer mehr steigt. Hier hätte fast jede:r ein Motiv, was die Mörder:innensuche extrem spannend und vielfältig gestaltet über lange Strecken des Buches. Almstädts flüssiger Schreibstil und ihr herrlicher Humor tun ein Übriges und drumherum immer präsent: Die Ostsee.
Am Ende wurde es für mich leider an einigen Stellen unplausibel und die ermittelnden Personen standen doch mehr auf dem Schlauch, als ich es ihrer Intelligenz und Erfahrung zutraue, dann noch ein retardierendes Moment, das zuvor für mich nicht wirklich sauber aufgebaut wurde und auch kaum Handlungsrelevanz hatte. So hat mich Almstädt trotz eines wirklich 1A rasanten Showdowns dann doch ein bisschen verloren auf den letzten Metern, weswegen es nicht ganz für die 5 Sterne reicht, die ich dem Buch über weite Strecken gern gegeben hätte. Dennoch in jedem Fall ein absolut lesenswerter Krimi, für den mensch sich am besten ein Wochenende nichts vornimmt, denn aus der Hand möchte mensch ihn nicht mehr legen!

Ein großes Dankeschön an lesejury.de und Bastei Lübbe für das Rezensionsexemplar!

  • Einzelne Kategorien
  • Handlung
  • Erzählstil
  • Charaktere
  • Cover
  • Spannung
Veröffentlicht am 31.03.2024

Nie vergeblich

Liebesmühe
0

Auf dem Cover von Christina Wesselys neuem Buch „Liebesmühe“, erschienen 2024 im Carl Hanser Verlag, ist eine von der betrachtenden Person abgewandte schmale Frau zu sehen, die in einem Sessel sitzend ...

Auf dem Cover von Christina Wesselys neuem Buch „Liebesmühe“, erschienen 2024 im Carl Hanser Verlag, ist eine von der betrachtenden Person abgewandte schmale Frau zu sehen, die in einem Sessel sitzend ihren Schatten betrachtet – den Schatten ihrer Selbst. Es gibt wahrscheinlich kein besseres Bild für das Thema des Buches.
Wessely beschreibt in „Liebesmühe“ punktgenau und in schonungsloser Ehrlichkeit die Emotionen einer jungen Mutter, die nach der Geburt eines Kindes in eine postpartale Depression verfällt, ein Phänomen, das in unserer Gesellschaft noch immer radikal tabuisiert wird und zu dem mensch kaum Hilfestellung erlangt. Klar arbeitet sie heruas, dass diese Diagnose unter Umständen nur eine Pathologisierung von etwas ist, das im modernen Zeitalter in der westlichen Welt leider ganz normal ist. Damit sind nicht die Symptome gemeint, sondern die attestierte Krankhaftigkeit, die letztlich nur eine sehr logische, systemische Reaktion darstellt. Frauen im westlichen Europa, insbesondere privilegierte Frauen, haben ein reiches, selbstbestimmtes Leben vor einer Schwangerschaft und Geburt, und werden auf einmal komplett in eine Fremdbestimmung geworfen – größer kann die Lücke im Selbstbild nicht gespannt werden – so ergeht es auch Wessely, was sie sehr berührend und eindringlich beschreibt ab dem Punkt, wo sie Worte findet für all das, was nach der Geburt wie ein Tsunami über sie schwappt. Und mit all dem sind, so wie Wessely, die meisten Gebärenden allein. Der Partner verschwindet spätestens nach ein paar Wochen Elternzeit wieder in große Anteile seines vorherigen Lebens, die Freunde und Freundinnen leben ihr Leben weiter und schauen nur ab und zu auf einen Kaffee vorbei, die Eltern leben meist an einem anderen Ort und selbst wenn nicht: Wie können wir auf einmal wieder Kind sein, wo wir doch selbst nun Eltern sind? Die daraus entstehende Zerrissenheit zwischen altem und neuem Selbstbild macht Wessely leicht nachzuempfinden. Und zu wem also in diesem System sollte man einen Satz sagen können wie „Ich habe Angst vor dem Kind“ – ohne sofort als „krank“ angesehen zu werden? Doch Frauen, denen es so geht, gibt es viele und nein, sie sind nicht krank. Sie sind einfach nur entwurzelt und mit etwas Fremdem konfrontiert, für das sie Verantwortung tragen – das aber nicht mit ihnen kommuniziert. Und ja: Das kann furchtbare Angst machen. Wenn dieses Etwas dann auch noch pünktlich am Abend stundenlang schreit, egal was man tut, dann wird alles, was man über sich selbst weiß, in Frage gestellt. Und da helfen keine Sätze wie „Das wird wieder anders“ „Ist nur eine Phase“ usw. All das beschreibt die Autorin so schnörkellos und klar und schriftstellerisch in tollen Bildern, dass mich das Buch schon auf den ersten Seiten sehr begeistert hat, trotz des schweren Inhalts. Gut ist, dass Wessely dabei nicht aus einer Betroffenheit heraus emotional schreibt, sondern sich selbst in der dritten Person analysiert, was der lesenden Person durchweg ermöglicht, bei aller Empathie auch die Außenschau zu bewahren. Und neben dem Schmerz bekommen auch andere wichtige Emotionen Raum, „Zorn über die gesellschaftlichen Verhältnisse, die mütterliche Depression noch fördern. Über die vollkommen irrsinnigen, überzogenen gesellschaftlichen Erwartungen Mutterschaft betreffend, die strukturell in größter Spannung mit weiblichen Erfahrungen stehen. Denen man nie entsprechen kann. Die krank machen.“
Im zweiten Teil des Buches wird es nach der emotionalen Achterbahnfahrt des ersten Teils deutlich wissenschaftlicher – Wessely findet wieder mehr Zugang zu sich selbst und somit auch Zugang zu der kritischen Gesellschaftswissenschaftlerin, die sie ist. Analytisch nimmt sie deshalb auseinander, wie Mütter in der westlichen Gesellschaft zum einen in einen Berg von Theorien und Wissen geworfen werden, mit dem sie sich unbedingt auseinandersetzen sollen, zum anderen aber ständig zurück „zur Natur“ geführt werden sollen und so ein „das ewig Weibliche“-Mythos über sie gestülpt wird. Beides führt dazu, wie Wessely auch hervorragend herausarbeitet, dass frau sich eigentlich ständig defizitär und ungenügend fühlt und sich on top auch noch die damit einhergehenden Gefühle abspricht und verbietet. Und wie dieses Denken nicht durch Solidarität unter Frauen abgefedert, sondern oft noch dazu durch eine Art „Gute-Mutter-Wettbewerb“ verstärkt wird. Unser heutiges Mutterbild wird in seiner historischen Entwicklung aufgedröselt und viele ideologischen Aspekte werden hinterfragt. Dieser zweite, viel mehr theoretisch unterfütterte Teil mag für manche Leser:innen zu viel theoretischen Impact zum Weiterlesen haben, hier liegt definitiv ein Wechsel im Duktus vor. Das ist ein kleiner Kritikpunkt an diesem wichtigen Buch, dass Wessely hier etwas elitär aus ihrer eigenen Bubble heraus schreibt und unter Umständen dadurch minder privilegierte Leser:innen verliert.
Am Ende des Buches spricht Wessely ganz offen über die Scham und das im Nachhinein auf sich selbst schauen und manchmal nicht verstehen können, wie man als denkender Mensch in so einem Tunnel feststecken konnte. Da bleibt ein Gefühl von Schuld, das ganz schwer zu kanalisieren ist – und auch dort ist Gesellschaft wirklich keine Hilfe, manchmal ist dort sogar Therapie keine Hilfe, je nachdem, an wen man so gerät. Es ist noch so viel zu tun für die moderne Frau. Der erste Schritt ist ehrliches darüber Sprechen – weshalb es mehr als wichtig ist, dass Wessely so offen darlegt, wie sie mit sich gekämpft hat, sich doch zumindest ein bisschen besser darstellen zu wollen. Und die Sorge, was das bedeuten kann, wenn dieses Zeugnis in der Welt ist und irgendwann ja auch von ihrem Sohn gelesen werden kann – welche Veränderung wird das dann für ihr Verhältnis bedeuten? Insofern ein besonders mutiger Schritt, diesen Bericht nicht unter Pseudonym zu veröffentlichen, was ja auch möglich gewesen wäre.
Was definitiv fehlt: Triggerwarnungen und ein Anhang mit Verweisen auf Beratungsstellen und Hilfsangebote. Das ist leider ein großes Manko. Das Buch ist so super, schonungslos ehrlich und auch schriftstellerisch auf einem hohen Niveau, aber es gibt den lesenden Personen gar keine konkreten Hilfestellungen - und erzählt doch selbst so deutlich davon, wie schwierig es ist, die passende Hilfe zu finden / die Energie dafür aufzubringen. Das wäre ein klarer Wunsch an den Verlag von mir, hier nachzubessern. Und ja, die Angebote ändern sich, aber da reicht ja ein QR-Code, der auf Seiten verweist, wo solche Angebote gebündelt werden.
Auf jeden Fall ist „Liebesmühe“ aber ein extrem wichtiges Buch, dem ich viele Leser:innen wünsche, vor allem auch viele Leser.

Ein großes Dankeschön an lovelybooks.de und den Carl Hanser Verlag für das Rezensionsexemplar!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 23.03.2024

Ein großes Plädoyer, genau darauf zu achten, welchen Blick wir auf die Welt richten

Malnata
0

„Malnata“ von Beatrice Salvioni ist nicht umsonst ein Buch, das innerhalb eines Jahres in 35 Ländern verlegt wurde.
Wir tauchen mit den beiden Hauptdarstellerinnen ein ins Italien der 30er Jahre, das ...

„Malnata“ von Beatrice Salvioni ist nicht umsonst ein Buch, das innerhalb eines Jahres in 35 Ländern verlegt wurde.
Wir tauchen mit den beiden Hauptdarstellerinnen ein ins Italien der 30er Jahre, das geprägt von Mussolinis Faschismus und extrem patriarchalen Katholizismus war: Keine gute Zeit für unangepasste Frauen. Oder Mädchen. (Props an die Autorin gehen raus, dass sie auch sichtbar macht, wie sehr auch die Männer in diesem System gefangen sind und ihre toxische Männlichkeit sich gegen sie richtet.) Francesca und Maddalena (La Malnata) sind dabei als Protagonistinnen zunächst scheinbar so unterschiedlich wie es nur sein kann – doch je näher wir beiden im Verlauf des Buches kommen, desto klarer schält sich ein gemeinsamer Kern heraus. Beide suchen schon verzweifelt ihre Identität, kämpfen und Sichtbarkeit, Autarkie und die Abgrenzung von geltenden Rollenbildern.
Das Buch startet mit einer sehr gewaltsamen Szene, derentwegen ich dem Verlag dringend ans Herz legen möchte, eine Triggerwarnung voranzustellen, da der Klappentext einem nicht wirklich einen Hinweis darauf gibt, dass so etwas einen erwarten könnte – und es gibt viele Menschen, die in Buchläden mal eben in die ersten paar Seiten hineinlesen. Hier sehe ich Nachbesserungsbedarf.
Die Themen sind sofort auf dem Tisch: Maddalena, die Unangepasste, wird mit vielen ausgrenzenden Attributen belegt: Malnata, die Unheilbringende, die Hexe, die dir den Tod einhaucht – was sonst soll man auch zu einem Mädchen sagen, dass große Verbrechen begeht: Die Beine zeigen, mit Jungs abhängen, am Fluss spielen, einfach weil sie es will, nicht in die Kirche gehen, mutig sein, sagen, was sie denkt, Kirschen klauen, wenn man sie nicht bezahlen kann, Menschen in die Augen sehen. Es ist eine Welt, in der Jesus und Gott alles sehen und Kinder mit dem Glauben aufwachsen, bloß keine Fehler machen zu dürfen. Nicht nur die Mädchen. Auch die Jungs. Die werden tendenziell eher verprügelt, Mädchen wird neben den Schlägen noch das Gefühl von Scham und Schande eingebleut. Und auch wenn die Geschichte in Monza in der Lombardei spielt, eine Stadt, die deutlich größer ist, als sie sich im Buch anfühlt, so sind viele Reste dieses Denkens genau so auch heute noch immer im gesellschaftlichen Denken überall vorhanden. „Die Welt bestand aus Regeln, die man nicht übertreten durfte.“ Daran hat sich nichts geändert, manchmal denke ich fast, es ist auf eine perfide Art schlimmer geworden, weil die Regeln gläsern geworden sind: Nicht mehr zu sehen, aber doch vorhanden, und trittst du hindurch, dann läufst du auf Scherben. Bedrückend fand ich zu lesen, wie die Ich-Erzählerin sich durch ihren Bruder so sehr verdrängt fühlt, dass sie keine Trauer empfindet, als er stirbt, sondern nur Erleichterung. Eingeengt in eine Welt, in der sie zwar irgendwie behütet aber auch sehr eingesperrt aufwächst, ist es bedrohlich, ihr bei ihren ersten Schritten in die Freiheit mit Maddalena zuzuschauen, da schon klar ist: Dafür wird sie bezahlen. Die bildgewaltige Sprache der Autorin und ihr atmosphärischer Schreibstil ziehen die lesende Person intensiv in die beschriebene Welt.
Im weiteren Verlauf übernehmen Faschismus und Katholizismus eine immer tragendere Rolle, das Leben der beteiligten Menschen spitzt sich immer weiter zu und die Charaktere kreisen schwerpunktmäßig viel um sich selbst, was nicht unbedingt zu Empathie führt – nicht bei ihnen und auch nicht bei mir als Leserin. Auch wenn sehr deutlich wird, woher die Wunden und Verhaltensmuster kommen – so ist doch nicht immer nachvollziehbar, warum die Figuren nicht den Schritt schaffen, sich anders als gewaltvoll zu verhalten. Es ist eine Welt der Sublimation, die hier beschrieben wird, schriftstellerisch durchgehend brillant, vom Plot her zunehmend leider konstruiert. So geht dem Buch für mich, nach einer starken, sehr berührenden ersten Hälfte im letzten Drittel leider etwas die Luft aus. Dennoch wird einem die beschriebene Zeit so lebendig nahgebracht und ein so starkes Bild über Menschen gezeichnet, die alle in Ideologie feststecken und sich nicht aus diesem Gefängnis befreien können, dass ich nur ans Herz legen kann, sich diesem Buch auszusetzen. Identität hat auch viel mit Zuschreibungen zu tun. Indirekt ist „Malnata“ ein großes Plädoyer, genauer hinzusehen und darauf zu achten, welchen Blick wir auf die Welt richten. „Worte sind gefährlich, wenn man sie gedankenlos ausspricht.“

Ein großes Dankeschön an lovelybooks.de und den Penguin Verlag für das Rezensionsexemplar!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 24.11.2024

Startet stark, endet schwach

Hey guten Morgen, wie geht es dir?
0

„Hey Guten Morgen, wie geht es dir?“, der neue Roman und Deutscher Buchpreisträger von Martina Hefter, erschienen 2024 bei Klett-Cotta, verliert sich nach einem starken Start im Mittelmaß.

Das Buch liest ...

„Hey Guten Morgen, wie geht es dir?“, der neue Roman und Deutscher Buchpreisträger von Martina Hefter, erschienen 2024 bei Klett-Cotta, verliert sich nach einem starken Start im Mittelmaß.

Das Buch liest sich eingangs superfluffig und macht richtig viel Spaß – gerade, weil sich unter der Leichtigkeit auch eine Menge Tiefgrund verbirgt. Die schlaflose Juno, die Göttin der Geburt, der Ehe und Fürsorge, gleichgesetzt mit Hera und somit die Bossgöttin aller Göttinnen (und ein Asteroid) pflegt Jupiter, den allmächtigen und alles verzehrenden Zeus der römischen Mythologie und zeitgleich den größten Planeten unseres Sonnensystems. (Leider findet sich im weiteren Verlauf des Buches kaum Bezug zu dieser Analogie.) Dabei verpasst Juno unter Umständen ihr eigenes Leben und noch mehr unter Umständen ist das sogar selbst gewählt, denn es offenbart sich, dass Jupiter eigentlich auch noch allein klarkommt. Laut Juno allerdings mit weniger Lebensqualität – da sich schnell andeutet, dass es eigentlich kaum mehr richtigen Kontakt zwischen dem Paar gibt und jede:r sich zunehmend sein eigenes Universum schafft, stellt sich eher die Frage, wozu Juno dieses Abhängigkeitssystem braucht. Vielleicht, um sich nicht dem eigenen Leben stellen zu müssen und den Fragen, die sie tief versteckt in ihrem Inneren umtreiben: Was will ich eigentlich vom Leben? Habe ich noch Ziele? Traue ich mich ran an mein Potential? Erlaube ich mir, mit Karacho zu scheitern, erlaube ich mir, wirklich von mir und meinem Talent überzeugt zu sein – und dass es dann wehtun könnte, wenn andere das anders sehen? Wie gehe ich um mit der eigenen Endlichkeit?
Die Sprache ist wundervoll, so viele schöne Sätze, dabei ist alles sparsam und knapp, nicht unnötig ausschweifend, gut gewählte kleine Sterne, die am Buchhimmel aufblitzen.
Der beschriebenen Theaterwelt merkt mensch an, dass Martina Hefter selbst dort unterwegs ist – umso mehr stört mich die große Ungenauigkeit, dass durchweg mit Bühnenlicht und Nebel geprobt wird, von Anfang an – das ist totaler Quark. Ich wünsche mir immer sehr, dass Kolleg:innen unsere Welt korrekt darstellen, es gibt eh so viel Irrglauben darüber, das muss nicht sein für ein bisschen Atmosphäre.
Benu, der Totengott, das Gegenüber im Internet, der Love-Scammer, der identifiziert wird und bei dem Juno trotzdem hängen bleibt als Kommunikationspartner, bleibt leider relativ konturlos, Jupiter, der Pflegefall zuhause ebenso.
Formal mochte ich, dass Hefter ihrem Buch einen Trailer voranstellt. Die kurzen Kapitel machen das Lesen leicht. Viele Lieblingssätze, ich hebe mal nur einen hervor: „Man muss nur kurz die Erde anheben.“ Der Buchtitel fällt früh. Den mag ich sowieso sehr, er fasst die Verlagerung unserer Kommunikation auf die Chatebene so gut zusammen. Auch gut die eingestreuten Informationen über Nigeria und unser nach wie vor sehr postkoloniales Denken.

Juno wird immer mutiger in ihrem Kontakt zu Benu, der auch einen Eskapismus aus ihrem eigenen Leben darstellt, kritisiert sich aber auch hart dafür. Ich mochte ihre Gedanken sehr: „Aber ohne Naivität keine Entdeckungen. Man musste manchmal die Möglichkeit des Todes ausblenden können, sonst kam man nicht weiter, und dazu musste man ein bisschen naiv sein.“ Oder wie ich zu sagen pflege: „Ohne Risiko kein Spaß.“ Auch gute Gedanken, die sich Juno über privilegiertes westeuropäisches Leben macht. Nichts, was wir haben, nichts, was wir tun, richten keinen Schaden an, an einer anderen Stelle auf der Welt. Das ist ein Gedanke, der so klar ausgesprochen extrem bedrückend ist. Und auf den wir in einigen Bereichen so wenig Einfluss haben. Weshalb zumindest Awareness so wichtig ist. Generell arbeitet Hefter das Thema „privileged White European person“ einfach perfekt heraus mit vielen kleinen Facetten und Unternoten. Und so geschickt in die Geschichte eingearbeitet, so selbstreflektierend und nicht anklagend, dass es richtig gut gelingt, den Finger in die Wunde zu legen, ganz nebenbei.
Was auch gut herauskommt ist Junos große innere Einsamkeit und ihr Gefangensein in dem Leben, wie es bei ihr gerade läuft. Und aus dem sie keinen Ausgang findet, sich dabei aber verloren hat. Nicht untypisch für den Lebensabschnitt, irgendwie feststecken in der Verantwortung für andere und die Antwort auf die Frage „und ich?“ nicht mehr formulieren können, aber innendrin steckt ganz viel Sehnsucht fest. Benu öffnet diese Büchse der Pandora nur durch seine Existenz.
Die kurzen Chats der beiden lockern die Prosa immer wieder auf und bieten auch Raum für Komik, das ist gelungen.

Ab der Mitte des Buches tritt Hefter dann aber leider auf der Stelle und schon nach kurzen Leseunterbrechungen gibt es nicht mehr viel Erinnerung an das schon Gelesene, da bleibt nichts hängen. Juno ging mir zunehmend auf die Nerven, irgendwie hat sie so ein Grundleid in sich, das sie gar nicht haben müsste eigentlich, so schlecht fühlt sich ihr Leben gar nicht an von außen, bzw. ich will ihr ständig zurufen „entscheide dich halt für was“. Das Altern beschäftigt sie sehr. Aber warum? Und warum macht sie das so sehr am Außen fest? „Die Gesellschaft“, die das tut, ist ihr doch gar nicht so wichtig?
Es gibt viele Vorausdeutungen auf eine Katastrophe – nur erfahren wir nie, was und wie diese ist, sondern bleiben in der Luft. Das hat mich wirklich verärgert nach so viel Aufbau für was?
Am Ende des Romans ist eigentlich gar nichts passiert. Keine Entwicklung, keine wirkliche Veränderung, keine Konkretion.
Leider einmal mehr ein Buch, das stark beginnt und dann immer weiter zerfasert und kein Ende findet. Den Deutschen Buchpreis verstehe ich nicht wirklich, für mich ein Durchschnittsbuch mit tollen Momenten und ja, beeindruckender Sprache, aber der große Wurf? Den sehe ich leider nicht.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere