REZENSION – Seit Jahren ist Schriftsteller Kai Meyer (55) als Autor erfolgreicher Buchreihen bekannt. Doch seine drei zuletzt veröffentlichten Spannungsromane werden noch immer als Einzelwerke gelistet, obwohl doch deren aller Handlung im einstigen, im Zweiten Weltkrieg zerstörten Graphischen Viertel der Bücherstadt Leipzig spielt. Denn nach dem ersten Band "Die Bücher, der Junge und die Nacht" (2022) und "Die Bibliothek im Nebel" (2023) gilt dies auch für den im November beim Knaur Verlag erschienenen dritten Band „Das Haus der Bücher und Schatten“. Gegen die Einordnung als Serie spricht allenfalls, dass jeder Band eine in sich abgeschlossene Handlung zu jeweils anderer Zeit mit neuen Protagonisten bietet, so dass man die drei Romane völlig unabhängig voneinander lesen kann.
Wie schon in den ersten zwei Bänden entführt uns nun auch der dritte in das durch Dunst und Rauch der vielen Dampfmaschinen verdunkelte Graphische Viertel, weltberühmt wegen seiner Ansammlung hunderter Druckereien, Verlage, Buchhandlungen und Antiquariate. Diesmal versetzt uns Meyer ins Jahr 1933, kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, deren Auswirkungen allmählich fernab Berlins auch in Leipzig spürbar werden. Der von den Nazis entlassene Kommissar Cornelius Frey, derzeit Nachtwächter im Haus der Bücher, rettet eine junge Frau vor ihrem selbstmörderischen Sprung von der Brücke vor den einfahrenden Güterzug. Nach kurzem Gespräch flüstert sie zum Abschied die Worte „Sie weinen alle im Keller ohne Treppe“. Schon in der nächsten Nacht wird sie gemeinsam mit einem Ex-Kollegen Freys, Kommissar Zirner, direkt vor dem Haus der Bücher ermordet. Freys Vorgesetzter Rosendahl sorgt dafür, dass sein erfolgreicher Kommissar nach einem Wiederaufnahmeverfahren in den Polizeidienst zurückkehren kann, um diesen Doppelmord aufzuklären. Nach Ansicht der Nazi-Oberen, kann es nur ein Kommunist gewesen sein. Doch was bedeutet das auf den Arm der jungen Toten hingeschmierte Wort „Hundsheide“? Bei seinen Ermittlungen in ungewöhnlicher Zeit, in der nicht einmal die Polizei sich scheut, zur Aufklärung von Mordfällen die telepathischen Fähigkeiten von Medien zu nutzen, bekommt es Frey, der als „einsamer Wolf“ unbeirrt andere Spuren verfolgt, nicht nur mit einem verschworenen Netzwerk aus Okkultisten, Freimaurern und mafiöser Unterwelt zu tun, sondern stößt bei Durchsicht der Akten seines ermordeten Kollegen Zirner auf einen ungeklärten Fall aus dem Winter 1913, der sich im baltischen Livland nahe Riga zugetragen hatte. Damals verschwand die junge Lektorin Paula Engel mit ihrem Verlobten Jonathan spurlos beim Besuch des Schriftstellers Aschenbrand, der als Dauergast in einem einsam gelegenen Herrenhaus lebte – auf Hundsheide. Was haben beide Fälle miteinander zu tun?
Schon der Titel „Das Haus der Bücher und Schatten“ weist auf einen Roman hin, der nicht nur für ausgewiesene Bücherfreunde spannend zu lesen ist. Mit kapitelweisem Wechsel der Zeiten zwischen den unheimlichen Geschehnissen des Winters 1913 im tief eingeschneiten Herrenhaus im Baltikum – dies alles selbst erzählt von der Lektorin Paula Engel – und dem unter politischen Zwängen aufzuklärenden Doppelmord des Jahres 1933 baut Kai Meyer eine zunächst zweigleisige Handlung auf, die sich als gelungene Mischung von Kriminalroman und Schauergeschichte in ihrer Dramatik unaufhörlich steigert. Mit einer überraschenden, aber in ihrer Konsequenz durchaus nachvollziehbaren Wendung kurz vor dem aufklärenden Finale setzt Meyer noch einen zusätzlichen Höhepunkt.
Wie in beiden Vorgängerromanen erzählt der Autor wieder atmosphärisch düster und in bildhafter Sprache eine filmreife Geschichte vor politisch-historischem Hintergrund. Doch während Buchreihen anderer Schriftsteller in ihrer Wirkung von Band zu Band so manches Mal nachlassen, konnte sich Meyer in seinem dritten Band um das Geheimnis des „Kellers ohne Treppe“ dank der gelungenen Mischung aus mystischem Schauerroman und spannendem Krimi sogar steigern. „Das Haus der Bücher und Schatten“ ist deshalb nicht nur die von Meyer-Fans lang erwartete Fortsetzung bibliophiler Geschichten um das einstige Graphische Viertel in Leipzig, sondern wird sicherlich allen Freunden spannender Unterhaltung gefallen.