Fragmente und Séancen
Das WohlbefindenWas habe ich eigentlich erwartet? Ein Buch, nominiert für den Deutschen Buchpreis 2024, eine renommierte und mehrfach ausgezeichnete Autorin, ein wunderschön gestalteter Schutzumschlag und ein interessanter ...
Was habe ich eigentlich erwartet? Ein Buch, nominiert für den Deutschen Buchpreis 2024, eine renommierte und mehrfach ausgezeichnete Autorin, ein wunderschön gestalteter Schutzumschlag und ein interessanter Klappentext - das alles zusammen muss doch ein einen großartigen Roman ergeben! Insbesondere, da der Klappentext suggeriert, dass die Beelitzer Heilstätten als Schauplatz eine große Rolle spielen würden.
Um es vorweg zu nehmen: meine Erwartungen wurden leider enttäuscht.
Die Beelitzer Heilstätten, dieser "Zauberberg für Proletarier", spielen nur zeitweise eine Rolle. Viel zu schnell kommen andere Schauplätze ins Spiel und verdrängen diesen interessanten Ort. Die damit einhergehende soziale Frage tritt ebenfalls in den Hintergrund. Und das, obwohl Ulla Lenze ganz hervorragend recherchiert hat. Dies gilt nicht nur für die Beelitzer Heilstätten, sondern auch für das große andere Thema dieses Romans: den Okkultismus. Die Zeit der vorletzten Jahrhundertwende war eine Zeit der Umbrüche und des Aufbruchs. Neue technische Möglichkeiten gingen einher mit einer neuen Sinnsuche. Fortschrittsglaube und Enthusiasmus für die Möglichkeiten des menschlichen Geistes durchdrangen die intellektuelle und großbürgerliche Welt. Fasziniert erprobte man die technischen Neuerungen wie das Automobil und Röntgenstrahlen, hielt es jedoch gleichzeitig für möglich, mit der Geisterwelt in Kontakt zu treten. Séancen gehörten zum Zeitvertreib des betuchten Publikums, und so entstand ein neuer Markt pseudowissenschaftlicher Erlebnisanbieter.
Zugleich lebte das Proletariat unter prekären Verhältnissen, wie wir sie uns heute kaum noch vorstellen möchten (vergessend, dass wir diese schon längst wieder zulassen, auch in unserem eigenen Land). Die Beelitzer Heilstätten als Tuberkulose-Sanatorium für Arbeiter:innen waren ein Versuch, die Folgen dieser sozialen Ungleichheit abzumildern, eine selbst aus heutiger Sicht noch utopisch anmutende Wohlfahrtseinrichtung, die am Ende jedoch dazu beitragen sollte, das bestehende System zu stabilisieren, statt die Ursachen zu beseitigen. Lenze lässt dieses Thema immer wieder durchscheinen, jedoch eher um das Setting ihres Romans zu verdeutlichen. Beelitz ist nur die Kulisse.
Also worum geht es? Im Corona-Jahr 2020 begegnen wir Vanessa Schellmann auf ihrer mühsamen Wohnungssuche, die sie aus Berlin heraus bis nach Beelitz führt. Ausgerechnet Beelitz, denn dieser Ort hat im Leben ihrer Urgroßmutter Johanna Schellmann eine wichtige Rolle gespielt. Die Schellmann war seinerzeit eine gefeierte Schriftstellerin, die einen praefeministischen Erweckungsroman geschrieben hat - in einer Zeit, in der es schon als Rebellion galt, keine Korsett zu tragen, sondern ein Reformkleid. Dieser Johanna begegnen wir nicht nur auf der Zeitebene von 1907/08, sondern zudem noch in einer anderen deutschen Umbruchzeit, nämlich 1967, als sie verarmt in einer Berliner Wohnung lebt und dort dem Studenten Klaus begegnet, der sich um die alte Dame kümmert. Mit literarischer Freiheit schafft Lenze hier eine Verbindung zu Vanessa, die ich nicht verraten möchte. Denn Vanessa erhält ein fragmentarisches Manuskript ihrer Urgroßmutter aus eben jener Zeit, in der diese die auch damals schon sechzig Jahre zurückliegenden Ereignisse beleuchtet. Jedoch: es sind nur Fragmente und zudem war die Schellmann bereits an Demenz erkrankt.
So erleben keine fortlaufende Handlung, sondern Momente, Episoden, Gedanken, Dialoge. Dadurch entsteht etwas Surreales, in dem die skurrilen Ereignisse und Praktiken einen passenden Rahmen finden. Zum Teil fühle ich mich wie in einem Film, bei dem ich zwischendurch eingeschlafen bin, und dadurch nur Bruchstücke wahrgenommen habe. Verstärkt wird dies durch die zahlreichen okkultistischen Episoden, mal aus der Sicht der Zuschauerin, mal aus der eines Mediums. Teilweise verstörende Szenen werden realistisch geschildert.
Für Frauen aus dem Volk bot dieser Hype eine Möglichkeit des sozialen Aufstiegs. Im Roman begegnen wir Anna Brenner. Diese Figur beruht auf einem realen Vorbild. Überhaupt versteht es Lenze ganz hervorragend, historischen Persönlichkeiten in ihrem Roman einzubeziehen, mal direkt als Protagonisten wie z.B. Rudolf Steiner oder Albert von Schrenk-Notzing, mal indirekt wie das Medium Anna Rothe, die als Vorbild für Anna Brenner dient. Und dennoch handelt es sich bei "Das Wohlbefinden" keinesfalls um einen historischen Roman. Aber was dann?
Genau diese Frage kann ich noch immer nicht beantworten. Durch die fragmentarische Konstruktion bleibt allzu viel offen und ungesagt. Es hat sich mir nicht erschlossen, was Lenze eigentlich erzählen wollte. Lange Passagen bestehen aus den christlich-spiritistischen Gedanken und Worthülsen des Mediums Anna, die zu einer Art Coach von Johanna wird. Das lässt den Roman zäh werden und unterbricht den ansonsten sehr schönen Schreibstil von Ulla Lenze. Die zahlreichen Themen, die Lenze in diesem Buch aufgreift, werden zudem nicht auserzählt. Als Leserin lässt mich das fragend zurück. Ebenso wenig konnte ich mit den Protagonistinnen warm werden, die mir einfach zu blass geblieben sind. Am Ende hat mich das Buch nicht berührt, trotz der zahlreichen guten Ansätze. Ich schloss das Buch mit gemischten Gefühlen, aber auch erleichtert, dass ich es endlich durchgelesen hatte. Es blieb leider mittelmäßig.