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Veröffentlicht am 03.04.2018

Doppel-Mord im Doppel-Krimi

Die Morde von Pye Hall
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Die „Morde von Pye Hall“ sind ein raffiniertes Doppelwerk – zwei Krimis in einem. Die Konstruktion geht so: Die Lektorin des neuesten Atticus-Pünd-Krimis gewährt uns Einblick in das Manuskript, das ein ...

Die „Morde von Pye Hall“ sind ein raffiniertes Doppelwerk – zwei Krimis in einem. Die Konstruktion geht so: Die Lektorin des neuesten Atticus-Pünd-Krimis gewährt uns Einblick in das Manuskript, das ein herrlicher englischer Landschaftskrimi in den Farben von Agatha Christie ist. Alle Verdächtigen wohnen auf engstem Raum im Dorf neben dem Herrenhaus Pye Hall. Atticus Pünd ermittelt, als wäre er das uneheliche Kind von Hercule Poirot und Miss Marple, um nach etlichen Kapiteln zu verkünden: „ich weiß, wer es getan hat.“ Das nützt uns Lesern aber nichts, denn das Manuskript endet kurz vor Schluss, so dass allein schon die fehlende Lösung des Manuskripts Spannung erzeugt. Schnell soll die Lektorin uns das Ende des Romans beschaffen, doch das geht nicht: Dessen Autor Alan Conway ist tot. Selbstmord. Selbstmord? Genau …

Unsere Lektorin Susan Ryeland ermittelt - quasi in unserem Interesse als Leser. An den Selbstmord glaubt sie nicht, sondern hält es vielmehr für wahrscheinlich, dass Conway ermordet worden ist – und zwar wegen der „Morde von Pye Hall“. Deshalb sind die fehlenden Seiten des Manuskripts der Schlüssel zum Fall Conway. Und gleichzeitig per se der Schlüssel zur Manuskripthandlung.

Das ist wirklich gelungen: Die Spannung auf das Ende wird sozusagen verdoppelt. Außerdem versuch man nun, die Rätsel, Anspielungen und Geheimnisse des Manuskripts nachträglich zu entschlüsseln und nicht nur innertextlich zu ergründen, sondern auch auf die äußere Romanhandlung anzuwenden. Raffiniert! Viel mehr darf hier nicht verraten werden.

Warum gibt es dann einen halben Punkt Abzug? Weil der Inselverlag zwar ein tolles Buch mit gelungener Übersetzung liefert, aber die Titelzeile falsch gewählt hat. Die mag ich nicht.

Veröffentlicht am 30.11.2017

Smileys letzter Vorhang: Sag zum Abschied leise Servus

Das Vermächtnis der Spione
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„Das Vermächtnis der Spione“ ist auch ein Vermächtnis John le Carrés, das seine Serie von spannenden und kundigen Spionageromanen abschließt und mit einer Pointe versieht: Smiley habe sein oftmals schmutziges ...

„Das Vermächtnis der Spione“ ist auch ein Vermächtnis John le Carrés, das seine Serie von spannenden und kundigen Spionageromanen abschließt und mit einer Pointe versieht: Smiley habe sein oftmals schmutziges Geschäft nicht zum höheren Ruhme Gottes betrieben oder aus Ideologietreue oder gar aus Liebe zu seinem Vaterland, sondern wegen einer Idee: der Idee eines friedlichen und vereinten Europas. Das hätten wir Smiley früher wahrscheinlich nicht als wichtigstes Motiv unterstellt, aber es passt zum Gesamtwerk des Autors.

Ist das „Vermächtnis der Spione“ ein Krimi? Nein - die Spannung entsteht nicht aus der Handlung, sondern aus der Haltung der Figuren.

Ist es ein Spionageroman? Nein - eher ein Gegenspionageroman, und zwar einer der besten.
Muss man vorher wissen, was Peter Guillam und Smileys andere Leute in anderen Büchern getrieben haben? Nein - der Roman ist so konstruiert, dass er alles liefert, was andere an Vorwissen haben. Dennoch kann man nur bewundern, wie le Carré 54 Jahre nach Erscheinen seines Erfolgs „Der Spion, der aus der Kälte kam“ diesem Text einen zweiten Boden einzieht und ihn nutzt, die schrägen Verhältnisse des Kalten Krieges mit dem Heute zu verschränken.

Peter Guillam ist um die Achtzig, ein abgelegter und abgelebter Spion des Circus, also des britischen Geheimdienstes, und wird wegen alter Geschichten zurück in die Zentrale beordert. Dort will man ihm und seinen Kameraden aus einer Zeit der beinharten Systemauseinandersetzung einen Strick drehen, der aus modernen juristischen Winkelzügen und Schadenersatzforderungen von Nachkommen von Opfern gewirkt wird. Die Diskrepanz zwischen dem neuen Geheimdienst und dem Schlapphut alter Tage sorgt für prickelnde Lektüre. Der klaffende Gegensatz zwischen den Forderungen Einzelner nach Schadenersatz, wie ihn die moderne Welt der Political Correctness für das Unrecht am Individuum einräumt, und den Kalten Kriegern aus der Zeit des Mauerbaus, denen der Einzelne nichts galt, weil ein Krieg - und sei es ein Kalter Krieg - nun einmal Opfer fordert, wenn ein höheres Ziel es verlangte - dieser klaffende Gegensatz stürzt den Leser in tiefes Nachdenken, wer denn hier Recht hat? Man denkt unwillkürlich an den nüchternen Satz von Kapitän Marko Ramius aus „Jagd auf Roter Oktober“, der der über den Kalten Krieg sagt: „Ein Krieg ohne Schlachten, ohne Denkmäler, nur Verluste“.

Meine Sympathien liegen bei Peter Guillam, der sich gegen die nassforsche Untersuchung der Nachgeborenen erwehren muss, die in einer besseren Welt leben als jener, in denen Kreaturen wie Smiley oder der Stasi-Mörder Hans-Dieter Mundt ihr ekles Werk verrichteten. Verrichten mussten? Dieses Fragezeichen zeichnet den Wert von le Carrás Roman aus, der nämlich die Schuldfrage nie eindeutig klärt, nie Schwarz und Weiß zeichnet.

Am dichtesten aber schwingt die Stimmung der Melancholie durch den Roman, das nostalgische Schwelgen in der Vergangenheit - ob mit oder ohne Glorie - und dem Abgesang auf eine Welt, die sich zu Recht zurückgezogen hat. Nicht nur Peter Guillam zieht eine Bilanz seiner Zeit als Spion, nicht nur Smileys Vorhang fällt ein letztes Mal - man denkt, es müsste erneut ein eiserner Vorhang sein -, sondern auch John le Carré verabschiedet sich hier klug und nachdenklich aus dem Kreis der Circus-Mitarbeiter und ihrer kalten Welt.

Oder mit einem Wort: brillant.

Veröffentlicht am 30.08.2017

von wegen "home of the brave and land of the free"

Underground Railroad
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In „Underground Railroad“ erzählt Colson Whitehead die Geschichte der Flucht der Sklavin Cora von der Randall Farm in Georgia - und die Geschichte der niederschmetternden Umstände, die in der Mitte des ...

In „Underground Railroad“ erzählt Colson Whitehead die Geschichte der Flucht der Sklavin Cora von der Randall Farm in Georgia - und die Geschichte der niederschmetternden Umstände, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts die schwarze Bevölkerung Amerikas in den rassistischen Fängen der Sklaverei hielten.

Gegliedert in zwölf Kapitel, abwechselnd nach einer Person und einem amerikanischen Staat betitelt, öffnet das letzte Kapitel als „Der Norden“ die Enge der bisherigen Romanstruktur. Whitehead hat seinen Roman durchkomponiert und seinem Anliegen Form und Struktur des Romans unterworfen – aber auch die historische Wirklichkeit. Coras Geschichte wird chronologisch in den geographisch betitelten Kapiteln erzählt, dagegen berichten die nach Personen benannten Kapitel eben deren Geschichten in der nötigen Kürze und mit dem notwendigen Vorlauf: Man erfährt von Coras Großmutter und ihrer der Vorgeschichte auf Randalls Farm. Man lernt die Motivationen des Sklavenjägers Ridgeway kennen oder des Mediziners Stevens. Ethels und Caesars geheime Wünsche und Antriebsgründe werden in den jeweiligen Kapiteln berichtet und ganz zum Schluss das Schicksal von Coras Mutter Mabel, dessen Pointe so wenig überrascht, wie sie dennoch als Clou funktioniert.

Flucht aus Georgia

Cora flieht vor der Gewalt und Willkür, der sie als Sklavin ihrem Besitzer unterworfen ist, weil sie Hoffnung hat: Zum einen gelang schon einer Sklavin vor ihr die Flucht, ihrer Mutter Mabel nämlich, wohingegen alle anderen Fluchten in blutiger Bestrafung geendet hatten; zum anderen hofft sie auf Hilfe durch die „Underground Railroad“, einer Menschenschmuggelinstitution, die im Untergrund wirkt, um Sklaven zu helfen, den rettenden Norden Amerikas zu erreichen, wo sie frei sein können. Es ist ausgerechnet der Sklavenjäger Ridgeway, der als Erster die Existenz dieser Untergrundbahn erwähnt (S. 53). Cora wird von Caesar zur Flucht angestiftet, mit dem sie die Tunnels der Underground Railroad nutzt, um nach South Carolina zu fliehen. Sie wird vom Stationsvorsteher in Georgia aufgefordert, bei der Fahrt aus dem Fenster zu sehen: „Wenn man sehen will, was es mit diesem Land auf sich hat, dann muss man auf die Schiene. Schaut hinaus […] und ihr werdet das wahre Gesicht Amerikas sehen.“ (S. 85)

Der goldene Käfig South Carolinas

Bisher war das wahre Gesicht Amerikas für Cora die Plantage der Randalls in Georgia. Die Erniedrigungen, die harte Arbeit, die Rechtlosigkeit, die Willkür und die Gewalt. Nun sieht sie das Gesicht South Carolinas, wo es keine Sklaverei gibt. Cora arbeitet als Hausmädchen, dann in einem Museum. In einem lebendigen Diorama stellt sie das Leben der Schwarzen dar: im afrikanischen Karl, bei der quälenden Überfahrt und als Plantagensklavin im amerikanischen Süden. In diesem Museum wird die Unwürdigkeit ihres Daseins gespiegelt und verzerrt. Cora begreift, dass sie hier in einem von Weißen erdachten Konstrukt von Wahrheit mitwirkt, das mit der Realität auf der anderen Seite nichts zu tun hat. „Die Wirklichkeit war eine wechselnde Auslage in einem Schaufenster, von menschlicher Hand verfälscht“. (S. 137) Das ist mit der Wahrheit freilich immer so, ganz unabhängig von der Rassenfrage. Cora aber wird durch ihre Museumserfahrung deutlich auf ein Grundprinzip der amerikanischen Gesellschaft gestoßen: Schwarze wie Weiße sind von anderen Kontinenten hierher gekommen, wobei die Weißen sich das Land und die Menschen aus Afrika einfach genommen haben, und das Unrecht der Neuen Welt lässt sich in dem Satz zusammenfassen: „Geraubte Menschen bearbeiten geraubtes Land“ (S. 138). Noch etwas Anderes lernt Cora: dass nämlich die Hilfsbereitschaft der Weißen in South Carolina keineswegs einem Muster der Sklavenbefreiung oder gar einem Weg in die Gleichberechtigung folgt. Im Gegenteil: Der Paternalismus der Weißen - hier veranschaulicht in der Gestalt von Dr. Stevens und einem Sterilisationsprogramm - führt zu einer Bevormundung der Schwarzen, die ebenfalls von tiefgehender Verachtung geprägt ist und nicht vom Gedanken der Menschenbrüderlichkeit. Zwar ist Cora hier freier, aber der noch lange nicht frei. Der Käfig in South Carolina ist nur subtiler und weniger gewalttätig, aber genauso existentiell (indem die Zukunft der Schwarzen durch die Unfähigkeit zur Nachkommenschaft beseitigt wird).

Rassistischer Terror in North Carolina und Tennessee

Der Sklavenjäger Ridgeway taucht wieder auf, und Cora muss durch den Untergrund erneut fliehen. Sie gelangt allerdings in die Sackgasse North Carolinas, wo die Station geschlossen ist und die Geflüchtete auf dem Dachboden des Stationsvorstehers Martin und seiner Gattin Ethel viele Wochen verbringen muss. Da ihr Versteck mitten in der Stadt ist, kann Cora beobachten, wie North Carolinas neue Rassengesetze die Schwarzen vollständig entrechtet und vernichtet haben. Eine Allee der Toten zieht sich bis zum Horizont, und jeden Samstag feiert sich der weiße Mob beim gemeinschaftlichen Lynchen der doch noch innerhalb der Grenzen aufgegriffenen Schwarzen. Die beklemmende Atmosphäre in diesem Bundesstaat ist von den faschistoiden Regulatoren und einer Kultur des Denunziantentums geprägt. Auch von hier kommt Cora hinfort, in den Ketten des Ridgeways, in das benachbarte Tennessee. Hier hat ein Buschfeuer, das ein Funke nur entzündet hat, das halb Land in Schutt und Asche gelegt. Das Feuer folgte der zwangsweisen Vertreibung der indianischen Ureinwohner aus Tennessee, die auf dem „Pfad der Tränen“ 1838/39 zu Tausenden vertrieben und in den Tod gedrängt wurden. Inmitten dieser Wüste aus Asche und Sand lenkt nicht Äußeres von dem Dialog zwischen Ridgeway und Cora ab.

Ridgway und Cora – der amerikanische Imperativ

Sklavenjäger und gejagte Sklavin führen mehrere Gespräche über die amerikanische Gesellschaft, das Selbstverständnis des weißen Mannes und die Ausweglosigkeit von Coras Hoffnung auf ein besseres Leben als Schwarze. Dieser Dialog ist das Herz des Romans, insbesondere was die rassistische Logik Amerikas betrifft. Hier offenbart Whitehead die tief zielende Kritik seines Romans an Amerika und seiner Gesellschaft, die auf einem Gründungsfundament fußt, das von Raubtieren errichtet wurde, dem Gesetz Amerikas. „Es bedeutet, dass man sich nimmt, was einem gehört, sein Eigentum, alles, was man dazu erklärt.“ (S. 254) Das sei der „amerikanische Imperativ“ (S. 255), das Gesetz einer Gesellschaft von Weißen für eine Welt in der alles möglich ist – wenn man weiß ist. Coras Kommentar: „Ich muss mal aufs Klo.“

Ridgeway als Vertreter der weißen Machthaber (des Südens) verdeutlicht die Ausweglosigkeit der Flucht für Cora. Selbst später, in Indiana, wo Ridgeway und Cora erneut aufeinandertreffen, wird deutlich, dass es für die Schwarzen in dieser Zeit und in dieser Welt kein Miteinander geben kann. „Als gäbe es auf der Welt keine Orte, wohin man sich flüchten konnte, sondern nur solche, die man fliehen musste (S. 295). Der kluge, aufgeklärte, gebildete Schwarze mit Erfolg ist eine Gefahr für den Weißen, erklärt Ridgeway, weshalb der Weiße den Aufstieg der Schwarzen nie dulden werde. „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt“, schreibt Schiller in „Wilhelm Tell“. Und so ergeht es den Schwarzen in einer durch und durch rassistischen Welt, in der ein „Weltkrieg zwischen Schwarz und Weiß“ tobt. Denn vor der eigenen Hautfarbe kann man nicht fliehen.

Das ist der gegenwärtige Ansatz von Whiteheads Kritik an der amerikanischen Gesellschaft, in der noch immer der verderbte Kern der Anfangsjahre steckt. Der Gründungsmythos als „Heimat der Tapferen und Land der Freien“ hat die schwarzen Sklaven nicht einbezogen. Selbst wenn die (1813 gedichtete) amerikanische Hymne singt:

And the star-spangled banner
in triumph shall wave
O’er the land of the free
and the home of the brave!

Das Land der Freien muss sich wacker anstrengen um das Land der Freien zu bleiben, wenn schon die Gründungslegende eine Illusion ist. „Und auch Amerika ist eine Illusion, die größte von allen.“, sagt der Bürgerrechtler Lander in Indiana (S. 326).

Deshalb ist der Rat des Stationsvorstehers in Georgia, auf der Fahrt mit der Underground Railroad aus dem Fenster zu sehen, um das wahre Gesicht Amerikas zu sehen, ein sarkastischer Scherz, „[…] von Anfang an ein Witz. Auf ihren Fahrten herrschte vor den Fenstern nur Dunkelheit, und dort würde auch immer nur Dunkelheit herrschen.“ (S. 301)

Whiteheads Methode der Verdichtung

Autor Colson Whitehead bedient sich vieler historischer Ereignisse während Coras Flucht, die nie zeitgleich stattgefunden haben. Die Handlung ist in den 1850er Jahren anzusiedeln, noch vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg 1861/65, aber nach dem Pfad der Tränen 1838/39. Zu dieser Zeit gab es noch keine Fahrstühle in Hochhäusern; die Regulatorenbewegung in North Carolina war bereits fast fünfzig Jahre Geschichte, die geänderte Gesetzgebung in South Carolina folgte 3erst fast fünfzig Jahre späte r(und deutlich schwächer). Whitehead verdichtet den historischen Hintergrund, was deshalb stimmig ist, weil die Momente alle Facetten jener generationenübergreifenden rassistischen Diskriminierung sind, die Whitehead anprangert, weshalb das Datum für die historische Wahrheit unerheblich ist.

Ähnlich verhält es sich mit der Underground Railroad selbst: es hat freilich nie eine Untergrundbahn in Amerika gegeben, auf der Sklaven aus dem Süden fliehen konnten. Die Bahn ist eine große Metapher für die geheimen Fluchtwege, die klandestinen Pfade der Freiheitsuchenden und das notwendige Dunkel, durch das die Flucht gehen musste. Die Metapher veranschaulicht auch, dass ein Unterfangen, dass sich gegen ein ganzes gesellschaftliches System stellt, vieler Hände Mithilfe bedarf und ein großangelegtes Unternehmen sein muss. Der Kunstgriff entspricht dem in der lateinamerikanischen Literatur besonders beheimateten „magischen Realismus“.

Fazit

Colson Whitehead hat ein für den deutschen Leser vollkommen unterbelichtetes Themenfeld aufgeschlossen und einen neuen Sklavenroman, einen Anti-Sklaven-Roman geschrieben. Er hat das kritische Thema in der Person Coras und dem Antagonismus zu Ridgeway angefasst und „erlebbar“ gemacht. Das ist großartig gelungen und zurecht mit dem politisch eingefärbten Pulitzer-Preis ausgezeichnet: „For a smart melding of realism and allegory that combines the violence of slavery and the drama of escape in a myth that speaks to contemporary America.” Whiteheads Stil ist dabei häufig journalistenhaft und nicht immer eingängig zu lesen, gleichwohl eines der wichtigsten Bücher des Jahres!

Veröffentlicht am 16.08.2017

Mischung aus Seghers "Transit" und Greenes "Der dritte Mann"

Sixty to Go
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Der Roman spielt 1941 an der Riviera des Vichy-Regimes. „Sixty to Go“ sind die 60 Flüchtlinge, die der plötzlich aufgetauchte Amerikaner Bill versprochen hat, über die französisch-spanische Grenze zu bringen. ...

Der Roman spielt 1941 an der Riviera des Vichy-Regimes. „Sixty to Go“ sind die 60 Flüchtlinge, die der plötzlich aufgetauchte Amerikaner Bill versprochen hat, über die französisch-spanische Grenze zu bringen. Damit wird er Teil der Fluchthelfer-Clique um die Comtesse de Roseraye, genannt „Darling“, und den taffen Österreicher Jo Tarner, die in Nizza/Marseille der Gestapo und der kollaborierenden französischen Geheimpolizei ein Schnippchen schlagen.
Mit Bills Auftauchen - er ist auf der Flucht - verstärkt sich die Bande einerseits, andererseits gerät die Sache mit seinen Eskapaden außer Kontrolle. Der sinistere Tausendsassa ist kaum zu fassen: Was will er? Woher kommt er? Wohin geht er? Was kann er? ist er wirklich Trapezkünstler? Mit Bill ist Landshoff-Yorck eine ähnlich aufreizende Figur gelungen wie Graham Greene mit Harry Lime in „Der dritte Mann“. Die Stimmung an der Riviera fühlt sich an wie eine Mischung aus eben dem „dritten Mann“ und Anna Seghers „Transit“. Die Verhaftung Frantiseks, die Auftritte vorgeblicher Verbündeter aufseiten der Geheimpolizei, die Konfrontation mit goldbetressten Nazischergen erzeugen eine Spannung, die nur Bill mit seinen tollkühnen, unbekümmerten Aktione durchbrechen kann.
Was den Roman aber besonders lesenswert macht, ist sein Erscheinungsjahr: 1944. Hier wird eine Geschichte unmittelbar aus dem zeitgenössischen Kontext heraus erzählt, die noch nichts von den Vernichtungslagern weiß und die das Kriegsende noch nicht kennt. „Sixty to Go“ beschert ein Leseerlebnis wie Irène Némirovskys „Suite Française“, die ebenfalls das Ende noch nicht kannte.
Als den Handlungsfluss etwas störend empfand ich den Erzählstil, der etwas Episodenhaftes, Aufgereihtes hat. Dennoch: lesen!

Veröffentlicht am 16.08.2017

Sie waren beisammen, sie waren glücklich

Die Familie Hardelot
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"Die Familie Hardelot" ist die gefühlvolle Zeichnung des Lebens von Pierre und Agnès vor dem brennenden Hintergrund der Katastrophe des 20. jahrhunderts und auf dem bleischweren Fundament der Familientraditionen ...

"Die Familie Hardelot" ist die gefühlvolle Zeichnung des Lebens von Pierre und Agnès vor dem brennenden Hintergrund der Katastrophe des 20. jahrhunderts und auf dem bleischweren Fundament der Familientraditionen des 19. Jahrhunderts. Beide Liebenden ertragen die Widrigkeiten ihrer Generation und das Erbe der Familien, indem sie einander treu sind: "Sie waren beisammen, sie waren glücklich", lautet der programmatische erste Satz des Romans.

"Die Güter dieser Welt" (Les biens de ce monde) lautet der französische Originaltitel in der wörtlichen Übersetzung, und gemeint ist: Wert haben nur die Menschen, ihre Gefühle und ihr Charakter sind die wahren Güter dieser Welt.

Der Roman ist eine Übung für Némirovskys Meisterwerk "Suite francaise". Man liest auch die Hardelots mit dem bitteren Beigeschmack des Wissens, dass die Jüdin Irène Némirovsky das Ende des Krieges nicht erlebt hat, weil sie1942 von den Deutschen in Auschwitz ermordet wurde.

"Das Gedächtnis der Völker ist etwas Schreckliches. (...) Sie erinnern sich, dass sie gelitten haben, aber sie wissen nicht, warum ..." (S. 205)

Ein großs Buch - 4,5 Sterne, denn 5 sind der "Suite francaise" vorbehalten.