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Veröffentlicht am 03.06.2024

Düstere Dystopie in einem spannenden philosophischen Szenario, interessant, aber mit Längen

Das andere Tal
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Auf die Lektüre des Buches "Das andere Tal" von Scott Alexander Howard habe ich mich schon gefreut, seit ich das erste Mal davon gelesen habe, worum es in diesem Buch geht: eine Welt, die aus lauter fast ...

Auf die Lektüre des Buches "Das andere Tal" von Scott Alexander Howard habe ich mich schon gefreut, seit ich das erste Mal davon gelesen habe, worum es in diesem Buch geht: eine Welt, die aus lauter fast identischen Tälern besteht, deren einziger Unterschied ist, dass sie jeweils in der Zukunft oder in der Vergangenheit liegen. In diesen Städten gibt es die gleichen Landschaften, die gleichen Gebäude, grundsätzlich auch die gleichen Menschen... jeweils 20 Jahre früher oder später.

Das macht natürlich mögliche Reisen zwischen den Tälern sehr attraktiv... wer würde nicht gerne wissen, was in Zukunft aus ihm wird, oder noch einmal liebe Menschen aus der Vergangenheit sehen?

Da solche Reisen aber mit großen Risiken verbunden sind - ändert sich auch nur eine Kleinigkeit in der Vergangenheit, kann das völlig unvorhersehbare Auswirkungen auf die Zukunft haben - sind sie nur in Ausnahmefällen, meist Trauerfällen gestattet. In diesen Fällen muss ein persönlicher Antrag auf eine solche Trauerreise gestellt werden, der dann vom sogenannten Conseil angenommen oder abgewiesen wird.

Vor diesem Hintergrund lernen wir die jugendliche Odile und weitere Bewohner des Tals kennen und erleben auf knapp 450 Seiten ihr Leben und ihre Entwicklung in dieser Welt, mit allen möglichen philosophischen Fragen, die diese stellt.

Das Buch ist in gut lesbare Kapitel geteilt und die Handlung ist überwiegend sehr spannend, jedoch mit einigen Längen zwischendurch. Manche für das Buch eher irrelevant scheinenden Themen werden bis in ganz viele Details abgehandelt, was es zwischendrin dann manchmal etwas langweiliger und mühsamer zum Lesen macht, während für die wirklich spannenden philosophischen Fragen manchmal (für meinen persönlichen Geschmack) zu wenig Raum bleibt und auch am Ende noch einige dieser Fragen und einige aufgeworfene Themen offen und ungeklärt bleiben. Hier hätte ich mir noch eine sorgfältigere Überarbeitung gewünscht, die an manchen Stellen präzisiert und gekürzt und andere dafür präzisiert und ausgebaut hätte. Für ein Debüt ist es dennoch insgesamt auf gutem literarischen Niveau.

Atmosphärisch ist das Buch sehr düster und spielt in einer harten, kalten, dystopischen (und auch frauenfeindlichen) Welt. In dieser Welt gibt es nur wenig echte Freundschaft oder Mitgefühl zwischen den Menschen und man kann aufgrund eines kleinen Fehlers, eines Verrats eines anderen oder einfach nur, weil man gerade Pech hat, sehr schnell ganz unten in der Gesellschaft landen, und das ist in dieser Gesellschaft noch um vieles härter als in den meisten mitteleuropäischen Ländern heutzutage, was auch ausgiebig beschrieben wird. Es werden auch diverseste Formen menschlichen Leids, von körperlicher Gewalt bis hin zu Mord, geschildert.

Ich empfehle das Buch also nur Menschen, die bereit sind, sich bewusst auf so ein nicht nur spannend-philosophisches, sondern auch hartes und thematisch heftiges Buch einzulassen... es ist definitiv keine aufheiternde oder locker-flockige Urlaubslektüre (als solche ist es aber auch nicht angekündigt) und es macht nachdenklich, ist aber an sich nicht unbedingt stimmungsaufhellend und braucht eine gewisse psychische Stabilität, um es gut auszuhalten.

Insgesamt ist es ein spannendes Buch, das sehr zum Nachdenken über die Themen Wahlfreiheit, alternative Universen und Determinismus anregt. Ich mag solche Bücher sehr und werde sicher noch einige Zeit darüber nachdenken.

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Veröffentlicht am 03.06.2024

Was würde passieren, wenn alle Frauen die Arbeit - bezahlt wie unbezahlt - niederlegen würden?

Und alle so still
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Mareike Fallwickl kann schreiben. Richtig, richtig gut. Jede Formulierung punktgenau, wunderschöne Sprachbilder, vielschichtige, lebensnahe und sich weiter entwickelnde Charaktere, spannende Szenen. Dazu ...

Mareike Fallwickl kann schreiben. Richtig, richtig gut. Jede Formulierung punktgenau, wunderschöne Sprachbilder, vielschichtige, lebensnahe und sich weiter entwickelnde Charaktere, spannende Szenen. Dazu richtig interessante Themen, mit einem Gespür für den aktuellen Zeitgeist und für die Themen, die dran sind und weh tun. Damit ist die Autorin so viel mehr als eine Schriftstellerin, sie ist auch eine politische Aktivistin, und das wird in ihren Büchern spürbar. Feminismus liegt ihr ganz besonders am Herzen, das war auch schon in ihren bisherigen Werken so. Und es sind wichtige Themen, die sie anspricht. In diesem Buch geht es unter anderem um die bezahlte und unbezahlte, oft unsichtbare und wenig wertgeschätzte Care-Arbeit von Frauen.

Die Autorin entwirft ein Szenario, in dem Frauen beginnen, vor Erschöpfung diese Arbeit - und sich selbst - niederzulegen. Ein stiller Protest, ohne Plakate, ohne Parolen, ohne ausgesprochene Forderungen... die Frauen liegen einfach still auf dem Boden, anfangs vor einem Krankenhaus, später auch an vielen anderen Orten. Und sie schließen sich zusammen, zu einem solidarischen Frauenkollektiv, das füreinander da ist, miteinander wohnt, kocht, die Kinder versorgt, einander beschützt und tröstet. Während gleichzeitig draußen in der Welt immer mehr zusammenbricht, weil all die Frauen und ihre Care-Arbeit fehlen. Und was passiert dann, wird der stille Widerstand und das Verweigern der Frauen einfach so akzeptiert?

Dieses Szenario erleben wir abwechselnd durch die Augen von drei miteinander lose verbundenen Personen: der jungen Influencerin Elin, der barmherzigen und unerschütterlich bis nah an den eigenen Zusammenbruch im Krankenhaus die Stellung haltenden Krankenpflegerin Ruth und des prekär beschäftigten, um sein Überleben kämpfenden jungen Mannes Nuri, Sohn einer Sri-Lankerin und eines Einheimischen. Und wir lernen auch so einige andere interessante Menschen, hauptsächlich Frauen, im Roman kennen.

Das Buch beschäftigt sich außerdem mit der ständigen Unsicherheit, die Frauen im öffentlichen Raum erleben müssen, mit diversen Formen von psychischer, körperlicher und sexueller Gewalt von Männern gegen Frauen, mit Klassismus und sozialer Marginalisierung, mit alten und neuen Frauenbildern, verschiedenen Vorstellungen von Emanzipation und Feminismus, Staatsgewalt und Missbrauch dieser und vielem mehr. Was diese Themen angeht, ist das Buch vielschichtig, sehr intelligent konstruiert und regt zum Denken an. Auch emotional wird es sicher noch alle nachhallen.

Einen Stern Abzug gebe ich für das doch sehr einseitig und klischeehaft-negativ geprägte Männerbild, das in dem Buch vermittelt wird. Es kommen nur vereinzelt "gute" Männer vor, die selbst marginalisiert und dadurch kritisch sind, wie Nuri, oder sich aus anderen Gründen mit den Frauen solidarisieren und diese unterstützen. Die Mehrheit der Männer wird aber als jähzornig, ständig am Rande eines Gewaltausbruchs wandelnd, ignorant für alles außer die eigene Lebenswelt, narzisstisch und selbstverliebt, selbstdarstellerisch und gleichzeitig ziemlich minderbemittelt dargestellt (Männer, die in Massen von Leitern fallen und sich mit der Axt ins Bein hacken oder sich beim Kochen mit heißem Wasser verbrühen, nur weil keine Frauen mehr da sind, um sie bei der Arbeit zu unterstützen). Das reißt auch ein einzelner Nuri für mich nicht raus, und das war mir deutlich zu einseitig und eindimensional, hier hätten das Buch und die Autorin noch Potential zur Entwicklung und Differenzierung... dann könnten dieses und weitere Bücher auch noch viel mehr Menschen emotional mitnehmen.

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Veröffentlicht am 18.12.2024

Nur für Hartgesottene

Über dem Tal
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Wer das wunderschöne Buchcover von "Über dem Tal" sieht, stellt sich vielleicht ein nettes, idyllisches, angenehm zu lesendes Buch vor. Hier vorab eine Warnung: dem ist nicht so. Dieses Buch trieft vor ...

Wer das wunderschöne Buchcover von "Über dem Tal" sieht, stellt sich vielleicht ein nettes, idyllisches, angenehm zu lesendes Buch vor. Hier vorab eine Warnung: dem ist nicht so. Dieses Buch trieft vor Gewalt gegenüber Tieren und Menschen, und ist definitiv nur für Hartgesottene etwas.

Sprachlich kann der Autor durchaus etwas und mit Feingefühl und Poetik zeigt er das Leben zutiefst verzweifelter und abgebrühter Menschen, die mit Schafen arbeiten und denen nach der behördlich angeordneten Keulung ihrer Schafherden aufgrund der Maulen- und Klauenseuche in den 00er-Jahren einfach mal so ihr Lebensinhalt und ihre Existenzgrundlage genommen werden. Finanzielle Entschädigungen gibt es, aber die machen das entstandene Leid wohl nicht wett... wütend und verzweifelt zerreißt einer der Bauern die entsprechenden Antragsformulare.

Die Keulung, also massenhafte Tötung, aller Schafe in einem angeordneten Umkreis ist etwas, was wir nicht nur abstrakt hören, sondern miterleben, mitfühlen, mitriechen, mitleiden... schon in den ersten Kapiteln wird das detailliertest geschildert, in einer Form, die sehr starke Bilder im Kopf erzeugt und für das Thema sensibilisiert. Sehr schwierig zu lesen für alle, die auch nur ein bisschen Mitgefühl mit Tieren haben.

Und dann geht es um die Menschen und die Bewältigung der Krise und hier wird das Ganze unrealistisch bis surreal und der in der bäuerlichen Landschaft angesiedelte Roman geht in einen Banditenroman über: der angekündigte Diebstahl einer fremden Schafherde ist nur der Anfang einer Spirale immer weiter zunehmender Verwahrlosung und Gewalt, die auch vor Folter und Mord nicht zurückschreckt. Hier wurden Geister gerufen, die man nicht mehr los wird.

Ob der Roman eine klare Botschaft hat, weiß ich nicht. Mir erschließt sie sich nicht, auch wenn er mich auf vielen Ebenen zum Nachdenken anregt, z.B. über unseren Umgang mit Tieren und Landwirtschaft und darüber, ob ein Unrecht manchmal zwangsläufig das andere nach sich zieht.

Schwierig war für mich, neben der überbordenden Gewalt, die sich durch den ganzen Roman zieht, dass mir keiner der Charaktere emotional wirklich nahe gekommen ist, ich mit keinem von ihnen mitfühlen konnte und mir auch ihre Motive weitgehend im Unklaren blieben. Emotional am stärksten berührt haben mich die Schafe und ihr Schicksal, ihnen gilt auch mein größtes Mitgefühl in diesem Roman.

Menschen, denen ich dieses Buch empfehlen würde, kenne ich nicht. Dennoch lässt sich bestimmt auf einigen Ebenen etwas daraus lernen, wenn man bereit ist, sich auf dieses harte Buch einzulassen.

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Veröffentlicht am 10.12.2024

Ein bunter Blumenstrauß an Ansätzen zu Psychologie und Persönlichkeitsentwicklung

How to become Goldmarie
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Dem Buch "How to become Goldmarie" des Mutter-Tochter-Duos Victoria Geiser und Stephanie Agger spüre ich den guten Willen an, hilfreiche Ansätze, die die beiden selbst als wohltuend erfahren haben, in ...

Dem Buch "How to become Goldmarie" des Mutter-Tochter-Duos Victoria Geiser und Stephanie Agger spüre ich den guten Willen an, hilfreiche Ansätze, die die beiden selbst als wohltuend erfahren haben, in die Welt hinauszubringen. Ich glaube, dass dieses Buch das Potential hätte, ein wirklich gutes und hilfreiches Buch für viele Menschen zu werden - nach grundlegender Überarbeitung.

Es werden Themen dargestellt, die Menschen dabei helfen sollen, mehr zu sich selbst zu finden: dabei geht es um Basics der Psychologie (z.B. Bindungstheorie, Bedürfnisse,...), individuelle Farbtypen, Archetypen, das Märchen der Goldmarie und die darin enthaltenen Bilder, Meditationsmethoden und vieles mehr.

Leider ist die Einführung in die meisten dieser Themen aber sehr kurz, meistens werden nur die Kerninformationen des jeweiligen Modells beschrieben, ohne Praxisbeispiele und ohne Verbindung dazu, wie die beiden Autorinnen damit tatsächlich arbeiten.

Dabei gäbe es da sicher so viel Spannendes zu sagen: in der Einführung schimmert kurz durch, was für eine große spirituelle/mediale Begabung die Tochter offenbar hat, wie sie diese auch objektiv messbar überprüfen hat lassen und wie sie immer daran arbeitet, ihre bisherige Ausbildung in der Modewelt damit zu verbinden, unterstützt von ihrer Mutter, die Psychotherapeutin ist.

Ich bin mir also sicher, die beiden hätten da viel Wertvolles zu teilen und ich wünsche dem Buch eine Neuauflage, in der die beiden den Mut finden, noch viel mehr persönliche Geschichten einfließen zu lassen. Darüber hätte ich mit Begeisterung noch mehr gehört und finde es ein bisschen schade, im Buch davon so wenig mitbekommen zu haben.

Was ich für die Neuauflage ebenfalls empfehlen würde, sind Literaturverweise und -empfehlungen, zumindest im Anhang des Buches. Fast alle im Buch genannten Modelle stammen nachweislich nicht von den Autorinnen selbst, sondern von anderen Menschen, die bestenfalls ganz kurz genannt werden (auch nicht an allen Stellen leider), während aber nirgends konkret auf Werke von ihnen verwiesen wird, sodass Interessierte sich dort vertiefen könnten. Für eine Professionalisierung des Buches, aber auch schon aus ethischen Gründen, um das intellektuelle Eigentum anderer klar von den eigenen Gedanken und Erfahrungen abzugrenzen, finde ich da klarere Hinweise auf die Ursprünge der dargestellten Theorien unbedingt nötig.

Mit diesen Überarbeitungen hat das Buch also das Potential, wirklich toll und hilfreich zu werden. So hat es immerhin einige neue Impulse gebracht bzw. mir schon bekannte Ideen und Theorien in ein neues Licht gerückt, danke dafür und für das Rezensionsexemplar.

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Veröffentlicht am 10.12.2024

Sprachlich gut geschrieben, aber sehr selbstbezogen

Potenziell furchtbare Tage
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In "Potenziell furchtbare Tage" lernen wir die Autorin Bianca Jankovska kennen. Eine junge Frau Anfang 30, ursprünglich eine Karriere als Journalistin planend, dann von den Rahmenbedingungen enttäuscht ...

In "Potenziell furchtbare Tage" lernen wir die Autorin Bianca Jankovska kennen. Eine junge Frau Anfang 30, ursprünglich eine Karriere als Journalistin planend, dann von den Rahmenbedingungen enttäuscht noch einen juristischen Master draufsetzend, das kapitalistische System und Angestelltenverhältnisse ablehnend und diese aber doch ausnützend, um durch das Vortäuschen von Beschäftigt-Sein in der bezahlten Arbeitszeit ihre Bücher schreiben zu können, wie sie im Buch erzählt.

Offen und spritzig erzählt sie mitreißend und sprachlich eloquent aus ihrem Leben einer privilegierten Millenial-Frau (Einzelkind mit grundsätzlich engagierten Eltern, die aus der Arbeiterschicht stammend es zu einigem Wohlstand gebracht haben und es insgesamt gut mit ihr zu meinen scheinen) Anfang 30 auf der Suche nach dem "guten Leben". Das macht das Buch einerseits sehr nahbar, interessant und leicht zu lesen.

Andererseits ist die Autorin keine sehr sympathische Persönlichkeit und hält auch mit den Bewertungen und Abwertungen diverser anderer Menschen aus Social Media, aber auch aus ihrem Freundes- und Bekanntenkreis und ihrer Familie, nicht hinter dem Berg. Scharfzüngig ist sie sehr schnell darin, alles, was nicht ihrer momentanen Lebenssicht entspricht, abzuurteilen.

Zu Gute halte ich ihr, dass sie gelegentlich Momente der Reflexion beschreibt, in denen ihr zumindest in Bezug auf ihre Vergangenheit bewusst wird, dass sie oft bestenfalls ein unvollständiges Bild der Dinge hatte, vieles nicht gesehen hat und Einstellungen und Werthaltungen sich ändern können. Sie hinterfragt sich also durchaus und entwickelt sich dabei weiter, bleibt aber weiterhin sehr meinungsstark und darin oft auch engstirnig bis verurteilend.

Aufgrund des Titels und des Covers könnte man meinen, dass es im Buch hauptsächlich um das Thema der Prämenstruellen Dysphorischen Störung (PMDS) geht. Unter dieser Annahme habe ich auch begonnen, das Buch zu lesen. Tatsächlich geht es im Buch aber eben hauptsächlich nur um den Einzelfall Bianca Jankovska und ihre Sicht der Welt, verbunden mit ihrer persönlichen Leidensgeschichte aufgrund ihrer hormonell beeinflussten Stimmungsschwankungen und ihrer Ablehnung des Kapitalismus und der Leistungsgesellschaft. Die PMDS dient bestenfalls als Rahmen dafür und wird im Anhang anhand eines fachärztlichen Interviews, entnommen aus einem Sachbuch zu dem Thema, kurz erläutert. Außer der Autorin kommen aber keine anderen PMDS-Betroffenen zu Wort.

PMDS dient der Autorin also eher nur als weitere Rechtfertigung dafür, warum sie für ein Angestelltenverhältnis und generell für unsere kapitalistische Welt nicht geschaffen sei. Diverse Zugänge, wie man selbst im Sinne der Selbstwirksamkeit an dem eigenen Wohlbefinden arbeiten könnte und insbesondere Psychotherapie (die die Autorin abseits von Self-Study-Onlinekursen amerikanischer Influencer und einem kurzen Ausflug in eine Selbsthilfegruppe aber vermutlich nie ernsthaft in Anspruch genommen zu haben scheint) lehnt die Autorin als kapitalistisch und "dem Opfer die Schuld gebend" ab, ohne sich näher damit auseinandergesetzt zu haben.

Überhaupt scheint sie eine Opferhaltung und Anschuldigung all der vermeintlichen Täter (von den bösen kapitalistischen Unternehmen über die Tradwives bis zu Momfluencern und diversen Menschen aus ihrem persönlichen Umfeld, die ihr Unrecht getan, sie missverstanden, geblockt, gecancelt oder kritisiert haben... oder die einfach nicht so leben, wie sie es für gut hält, beispielsweise Kinder haben und das auch noch erwähnen) einer ernsthaften Auseinandersetzung mit sich selbst vorzuziehen.

In der Lebensgeschichte der Autorin erleben wir immer wieder unfassbar egoistische Handlungen mit null Empathie für andere Menschen mit, wie die schon erwähnten Vorspielung einer Arbeitstätigkeit, um in Wirklichkeit in der Arbeitszeit ihre Bücher zu schreiben.

Diesen Zugang empfiehlt sie auch anderen unter dem Motto "Kapitalisten ausbeuten"... man müsse sich nur die richtige böse Firma dafür aussuchen, nämlich Firmen die "Bullshit machen. Ihr wisst schon: Consulting-Firmen, IT-Firmen, IT-Consulting-Firmen, Tech-Unternehmen, Projektmanagementjobs für ein Produkt, das niemand braucht, aber trotzdem alle kaufen." (S. 167) und nicht den kleinen Bioladen ums Eck, dann sei es moralisch schon in Ordnung, ja, sogar ein toller Akt des Widerstands gegen den Kapitalismus, diesen die Arbeitstätigkeit nur vorzuspielen und Geld fürs Nichtstun zu kassieren. Und die Firmen und deren HRler seien selbst schuld, ihre Arbeit nicht richtig gemacht und sie als Bewerberin nicht vorab gegoogelt zu haben, denn sonst hätten sie ja über ihre Anti-Work-Einstellung Bescheid gewusst.

Warum also drei Sterne und nicht null für dieses Buch, dessen Autorin mir offensichtlich in vielem unsympathisch ist und die Werte vertritt, die mir in vielem zutiefst zuwider sind und bei dem ich beginne, mich für meine eigene Millenial-Generation und ihre Selbstbezogenheit und ihren Egoismus fremdzuschämen?

Weil das Buch sprachlich wirklich gut geschrieben ist. Weil ich die Autorin dafür respektiere, so offen auch über die eigenen Unzulänglichkeiten und die unsympathischen und selbstbezogenen Seiten ihres Charakters zu erzählen (wer in Zukunft mit ihr zu tun haben will, privat oder beruflich, braucht sie also nur googeln, dieses Buch lesen und weiß, worauf er sich einlässt) und dieser Stil das Buch insgesamt nahbar, unterhaltsam und interessant macht.

Und weil - nicht zu vergessen - in dem Buch, verwoben mit der persönlichen Geschichte der Autorin, viele sehr interessante und scharfsinnig formulierte Ideen durchaus legitimer Kapitalismuskritik vorkommen, z.B. zu Themen wie Privilegien, Diskriminierung, ungleiche Chancen,... dazu, dass die meisten Vermögenden zu ihrem Vermögen durch Erbe und nicht durch eigene Leistung gekommen sind, zur längst überfälligen Arbeitszeitreduktion, zum Zusammenhang zwischen Arbeit und Klimakrise und vieles mehr.

Wenn man sich auf dieses Buch einlassen kann, ohne sich zu sehr über das selbstbezogene Kreisen der Autorin um sich und ihre Themen, ihre Abwertung Andersdenkender und -Fühlender und ihre mangelnde Empathie (obwohl sie sich als ach so mitfühlend beschreibt... aber in ihrem konkreten Handeln zeigt sich jeweils das Gegenteil davon) zu ärgern, dann kann man daraus viele Ideen für Kritik an unserer kapitalistischen Leistungsgesellschaft und den darunter liegenden Konzepten mitnehmen, die interessant sind, um darüber nachzudenken, sie im eigenen Umfeld zu diskutieren und gemeinsam Alternativen zu überlegen.

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