Großartig, rasant und klug
Die InkommensurablenWien 1914.
Der Pferdeknecht Hans war nach dem plötzlichen Tod seines Vaters kilometerweit weggebracht worden, um auf dem Hof eines Bauern zu dienen. Seit nun sieben Jahren hat er den Hof nie verlassen ...
Wien 1914.
Der Pferdeknecht Hans war nach dem plötzlichen Tod seines Vaters kilometerweit weggebracht worden, um auf dem Hof eines Bauern zu dienen. Seit nun sieben Jahren hat er den Hof nie verlassen und keine Schule besucht. Er glaubt, dass er die Gedanken anderer Menschen lesen kann und mit dieser besonderen Gabe packt er seinen Rucksack und macht sich bei Nacht und Nebel davon, sein Glück in Wien zu versuchen. Im Gepäck, die Zeitungsannonce der Psychoanalytikerin Helene Cheresch.
Am Wiener Hauptbahnhof herrscht ein Treiben, wie es Hans nie zuvor erlebt hat. Menschen in so edler Kleidung, dass ein einzelnes Fädchen des Rocks bei weitem übersteigen würde, was Hans je besessen hat. Burschen anderer Sprache lachen ihn an und geben ihm von ihrem Laib Brot. Hans sucht sich fragend den Weg zu Helenes Haus. Dort angekommen ist er überwältigt von den Gründerzeitvillen. Weil auf sein Klopfen niemand reagiert, legt er sich matt von der Reise auf das Trottoir, kurz die Augen zu schließen. Gleich darauf wird er von einer resoluten Frau mittleren Alters hochgescheucht. Es ist die Psychoanalytikerin. Kurz darf Hans bei ihr vorsprechen, um gleich darauf wieder fortgeschickt zu werden. Unten trifft er auf eine junge schöne Frau und kommt mit ihr ins Gespräch, es ist die Mathematikerin Klara, die ebenfalls bei Helene in Behandlung ist. Und als Klara Hans den adligen Adam vorstellt, beginnt der atemlose Ritt durch das nächtliche Wien der Aufbruchsstimmung.
Fazit: Was für eine Geschichte Raphaela Edelbauer zustande gebracht hat. Der Vielvölkerstaat Österreich droht auseinanderzubrechen, als der serbische Gavrilo Princip den österreichischen Thronfolger tötet. Es sind die letzten Stunden vor der österreichischen Kriegserklärung an den Zaren. Ganz Wien taumelt ausgelassen im Willen für Ehre und Vaterland zu kämpfen. Der Klassenunterschied ist riesig. Die Auserwählten des gehobenen Bürgertums halten Kriegsrat und motivieren alle Männer, die jung genug sind zu kämpfen, sich am nächsten Tag zu melden. In dieser aufgeheizten Stimmung schwirren Klara, Adam und Hans durch die Wiener Unterwelt. Hans, der nie etwas anderes als Natur, Vieh und vereinzelte Frauen, die zum Hof gehörten, erlebt hat, fühlt sich wie in Sodom und Gomorrha. Unwiederbringlich hält die Moderne Einzug in Kunst, Musik und Architektur. Die Suffragetten setzen sich für Frauenrechte ein, allen voran das Frauenwahlrecht. Frauen studieren, lieben Frauen, Männer lieben Männer, syphilitisch gezeichnete Huren überschminken ihre Läsionen und versehen ihre Dienste. Ganz nebenbei etabliert sich die Tiefenpsychologie durch Freud und Helene erforscht das kollektive Bewusstsein. Die Geschichte ist anspruchsvoll und hat mir alles abverlangt. Die Sprache kommt hochgestochen daher und vertritt die Stimme des gehobenen Bürgertums. Ich finde die Geschichte sowohl großartig, rasant und klug erzählt, als auch anstrengend. Und doch, wie die Autorin diese wahnhafte Aufbruchsstimmung eingefangen und auf mich losgelassen hat, ist bewundernswert. Ganz großes Schreibtalent.