Einzigartig und besonders: über die Magie des Übersetzens
Babel"Babel" ist ein ganz besonderer, zauberhafter Roman, wie ich in der Form noch keinen gelesen habe. Das Buch wird teilweise als Fantasy-Buch vermarktet und mit Harry Potter verglichen, aber das wird dem ...
"Babel" ist ein ganz besonderer, zauberhafter Roman, wie ich in der Form noch keinen gelesen habe. Das Buch wird teilweise als Fantasy-Buch vermarktet und mit Harry Potter verglichen, aber das wird dem Buch (und auch Harry Potter, das ein großartiges Werk, aber ganz anders ist) überhaupt nicht gerecht. Zwar gibt es ein kleines Fantasy-Element in dem Buch - das Silberwerken, eine Form von übersetzungsbezogener Magie, die an Silberbarren gebunden ist - doch ist das Buch insgesamt viel eher anderen Genres zuzuordnen: eine Mischung aus historischem Roman in einer alternativen Realität, Sachbuch über das Übersetzen und vor allem ist es ein sehr aufklärerischer Roman mit einer klaren Mission, nämlich für das Unrecht des Kolonialismus und die vielen offenen und subtilen Unterdrückungsmechanismen, denen alle, die keine weißen Männer sind, in den letzten Jahrhunderten ausgesetzt waren und bis heute in vielen Bereichen ausgesetzt sind, zu sensibilisieren. Es ist ein sehr progressives Buch zu Identitäten und Ungerechtigkeiten im Zusammenhang mit dem Kolonialismus.
Deshalb: wer sich hauptsächlich spannende Unterhaltung und Fantasy erwartet, der ist hier falsch. Das bedeutet nicht, dass das Buch nicht an vielen Stellen auch spannend ist... aber es sind über 700 Seiten und die Handlung lässt sich Zeit, sie schreitet gemächlich voran, und es dauert schon einmal um die hundert Seiten, bis Robin aus Kanton überhaupt in Oxford ankommt, dazwischen sind eine lange Schiffsreise, einige Jahre bei seinem Ziehvater und viele Gedanken über kulturelle und sprachliche Unterschiede und über das Übersetzen zu finden.
Auch danach ziehen sich viele kluge philosophische Überlegungen durch das Buch und man lernt unglaublich viel über die Herausforderung des Übersetzens und wird dafür sensibilisiert, wie viele Ungenauigkeiten auch beim sorgfältigsten Übersetzen passieren, weil sich ganz viele Wörter und Redewendungen niemals zu 100 % identisch aus einer Sprache in die andere übertragen lassen, ohne dass etwas verloren geht. Mit diesen Unschärfen arbeitet das fantastische Element des Silberwerkens, das Silberbarren genau durch die Bedeutungslücke einer Übersetzung zwischen zwei Sprachen mit einer magischen Funktion auflädt.
Angekommen in Oxford begleiten wir den jungen Robin bei seiner Einführung ins studentische Leben dort, bei seiner Faszination für Sprache und Übersetzung und beim Knüpfen enger Freundschaften mit den drei anderen Studierenden aus seinem Jahrgang: Ramy, ein junger muslimischer Mann aus Indien, Victoire, eine dunkelhäutige Französin haitianischer Abstammung und Letty, als einzige eine Britin, aber als Frau im 19. Jahrhundert gesellschaftlich benachteiligt und damit ebenfalls eine, die sich ihren Zugang zu dieser elitären Universität und dem Übersetzungsstudium im Turm Babel hart erkämpfen hat müssen. Das gemeinsame Studium und die gemeinsamen Ausgrenzungserfahrungen schweißen die vier zusammen... bis der Lauf der Geschehnisse ihnen harte Entscheidungen abringt und ihre Freundschaft auf eine schwere Probe stellt.
"Babel" ist ein Buch, das auf vielen Ebenen bildet, sensibilisiert und zum genauer Nachlesen anregt. Zwar stellt es sich als fiktiv-fantastisches Werk dar, aber viele der darin beschriebenen Diskriminierungs- und Ausgrenzungsmechanismen genauso wie viele historische Phänomene gab es tatsächlich, etwa den Kolonialismus, die Opiumkriege zwischen Großbritannien und China im 19. Jahrhundert und vieles mehr. Es regt dazu an, neue Perspektiven einzunehmen und all diese Dinge insbesondere durch die Brille marginalisierter und oft bis heute benachteiligter Menschen zu betrachten. Ich habe auch aus historischer Sicht beim Lesen des Buches sehr viel über diverse Themen gelernt und werde nun noch weiter dazu recherchieren.
Dabei stellt es viele Fragen, auch durchaus unbequeme, z.B. zur Legitimation von Gewalt, wenn diese als einziger Weg erscheint, einen Umbruch durchzusetzen und bestehende Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Es regt auf vielen Ebenen zum Nachdenken und Diskutieren an und ist damit ein sehr wichtiges und besonderes Buch.
Ich habe nur einen kleinen Kritikpunkt, der sonst grundsätzlich meiner Begeisterung keinen Abbruch tut: etwas einseitig fand ich, dass das Buch - mit kleinen Ausnahmen, die ich aber nicht sonderlich überzeugend fand - sehr dazu anregt, nur mit all den marginalisierten Individuen und Gruppen mitzufühlen, während ich die Darstellung der weißen Hegemonialmacht und ihrer Vertreter insgesamt als sehr plump, unsensibel und einseitig wahrgenommen habe (gut möglich, dass viele so sind/waren, aber wohl doch auch nicht alle). Ich bin mir auch nicht sicher, ob die Richtung, in die sich das Buch am Ende entwickelt, zur Förderung des Friedens, der Toleranz und Völkerverständigung beiträgt... aber vielleicht muss es das ja auch nicht.
Auch wer reine Unterhaltung sucht und sich nicht für die Feinheiten von Sprache, die Geschichte von Kolonialismus und Ausbeutung und deren Folgen bis heute usw. interessiert und nicht gerne Sachbücher liest, für den ist es vielleicht nicht das richtige Buch.
Ich persönlich habe viel aus der Lektüre mitgenommen, sowohl an Bildung als auch an Themen zur weiteren Diskussion und Reflexion. Es bleibt auf ganz vielen Ebenen ein sehr intelligentes, spannend geschriebenes und in vielerlei Hinsicht sensibilisierendes und damit wichtiges Buch.