Gelungenes Zeitzeugnis
Die achtzigjährige Frau blickt zurück in das Jahr 1962, als sie siebzehn war. Dora ging auf das Gymnasium, das befürwortete vor allem die Mutti. Sie war selbst auf ein Jungengymnasium gegangen, die einzige ...
Die achtzigjährige Frau blickt zurück in das Jahr 1962, als sie siebzehn war. Dora ging auf das Gymnasium, das befürwortete vor allem die Mutti. Sie war selbst auf ein Jungengymnasium gegangen, die einzige höhere Schule im Ort. Doras Traum von einem Studium wird vehement gestört, denn zu ihrer Zeit hatten die Mädchen gut auszusehen, um sich einen Mann zu angeln. Kochen mussten sie können, den Haushalt organisieren, die Kinder hüten und dem Mann gefällig sein, wenn der allabendlich aus dem Ernst des Lebens heimkehrte.
Dora stört sich massiv an den verstockten Lehrern, die Jungen bevorzugen und vorlauten Mädchen schlechte Noten geben. Jeden Tag drohen Demütigungen. Nach der Schule räumt sie auf, putzt, kauft ein, kümmert sich um ihre kleine Schwester und massiert der Mutti den Rücken, weil die mit ihrem Rheuma kaum das Bett verlässt. Die Mutti kramt dann in ihren Erinnerungen und lässt die Tochter unfreiwillig daran teilhaben. Der Vati, der mindestens einmal am Tag die Mutti unter sich wissen will und die klebrigen Taschentücher, die diese findet, wenn sie sich ihm entzieht. Der Vati führt noch das Konto allein und dürfte bestimmen, ob die Mutti arbeiten geht, wenn sie denn könnte. Bis 1997 darf der Vati die Mutti sogar schlagen, ohne dass sich jemand daran stören würde, wenn er das täte.
Dora hat das intensive Gefühl revoltieren zu müssen. Aufbegehren gegen diese Welt der Männer. Sie fasst ihren Musiklehrer ins Auge. Der trägt die glatten Haare schulterlang. Seine Kleidung ist lässig, die Lederjacke steht ihm gut zu den Stiefeln. Ihn zu besitzen wird ihr geschundenes Gemüt abkühlen.
Fazit: Elfi Conrad ist ein rasantes Zeitzeugnis gelungen. Wertfrei erzählt sie aus ihrer Zeit als junge Frau. Mädchen und Frauen werden von allen Seiten unterdrückt, durch Väter, Mütter, Lehrer und Medien. Dank Sophia Loren, Brigit Bardot und Gina Lolobrigida werden Frauen darauf gedrillt, ihre Weiblichkeit nach allen Regeln der Kunst zur Schau zu stellen und sich schmackhaft unterzuordnen. Die Bestimmung ist geheiratet zu werden. Der Unterricht ist geprägt durch Kriege, Schlachten und männliche Eroberungen. Männer insgesamt sind in ihrem Auftreten gedrillt, humorlos und frei von Mitgefühl. Es ist die Zeit nach den verlorenen Kriegen. Die Protagonistin entdeckt ihre Lust, über die Anpassung an das Elternhaus hinaus, Befreiung zu erleben. Dora leidet unter der emotionalen Ausbeutung einer zutiefst unglücklichen Mutter und dem emotionslosen Vater. Interessant an dieser (autofiktionalen?) Geschichte ist, dass die Autorin stets aus der Sicht einer heutigen emanzipierten Frau, das damalige Verhalten und die gesellschaftlichen Gegebenheiten hinterfragt. Ein solider Rückblick, frei von Pathos, der mir geholfen hat, meine eigene Mutter besser zu verstehen.