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Veröffentlicht am 30.03.2018

Ein Leben unter männlicher Dominanz

Die Farbe von Milch
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Im Jahr 1830 ist Mary knapp 15 Jahre alt. Sie ist die jüngste von vier Töchtern einer bettelarmen Bauernfamilie. Die Eltern und ihre vier Töchter arbeiten sich fast zu Tode – von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. ...

Im Jahr 1830 ist Mary knapp 15 Jahre alt. Sie ist die jüngste von vier Töchtern einer bettelarmen Bauernfamilie. Die Eltern und ihre vier Töchter arbeiten sich fast zu Tode – von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Der Vater, ein gewalttätiger Grobian, kommt nicht darüber hinweg, dass er keine Söhne hat, die ein größeres Arbeitspensum schaffen, zumal Mary ein verwachsenes Bein hat und auch deshalb keine vollwertige Arbeitskraft ist. In der Familie lebt noch der nach einem Arbeitsunfall verkrüppelte Großvater, der sich immer wieder anhören muss, dass er ein nutzloser Esser ist. Zu ihm hat die junge Mary ein gutes Verhältnis. In dieser Familie gibt es ansonsten nur Arbeit, keine Liebe, kein Glück und das alles ohne Hoffnung auf Besserung.

Eines Tages überlässt der Vater seine jüngste Tochter gegen Bezahlung dem Pfarrer , der Hilfe bei der Betreuung seiner kranken Frau braucht. Auch hier muss Mary unter der Aufsicht der 32jährigen Haushälterin Edna sehr viel arbeiten, obwohl die Arbeit körperlich nicht so anstrengend ist wie auf der Farm. Obwohl Mary jetzt materiell in besseren Verhältnissen lebt – sie hat ein eigenes Bett und bekommt genug zu essen – sind auch in diesem Haus die Menschen nicht glücklich. Der arrogante, verantwortungslose Pfarrerssohn Ralph macht sich an jede Frau in seiner Nähe heran und kann sein Elternhaus für sein Studium gar nicht schnell genug verlassen, womit er seiner todkranken Mutter das Herz bricht. Mary hat Heimweh nach der nur eine halbe Meile entfernten Farm und dem Großvater, darf aber monatelang das Pfarrhaus nicht verlassen. Nach dem Tod der Pfarrersfrau muss Edna gehen, während Mary bleibt. Sie hat längst verstanden, dass sie ein Gefängnis gegen ein anderes getauscht hat. Es gibt für sie keine Entscheidungsfreiheit und keine Befreiung von männlicher Dominanz. Ihr Arbeitgeber nimmt ihr die Freiheit genauso wie ihr Vater.

Als der Pfarrer der intelligenten jungen Frau mit Hilfe der Bibel das Lesen und Schreiben beibringt, sieht Mary einen möglichen Ausweg aus ihrer Situation. Doch sie zahlt einen hohen Preis dafür. Die Katastrophe ist unausweichlich. Sie, die nie eine Wahl hatte, trifft am Ende ihres Berichts eine einzige Entscheidung, die sie befreit.

Die Autorin hat mit Mary eine Protagonistin mit einer unverwechselbaren Stimme geschaffen, die mit Hilfe ihrer neu erlernten Fähigkeiten über das entscheidende Jahr in ihrem Leben berichtet: 1830-31. Mary ist zwar ungebildet, aber intelligent mit schneller Auffassungsgabe, dazu sehr direkt, was ihr immer wieder Ärger und Prügel einbringt. Ich-Erzählerin Mary bekommt in diesem schlanken Bändchen einen eigenen Stil – fast ohne Großbuchstaben und ohne Anführungszeichen für Zitate, ohne Kommata. Satzbau und Grammatik sind fehlerhaft, aber ihre Sprache wirkt sehr authentisch. Sie lebt ein Leben, in dem Gefühle nicht zählen und erst recht nicht ausgedrückt werden können, aber in großer Nähe zur Natur und den Tieren auf der Farm, besonders zu der Kuh, die ihr Wärme spendet. Eindrucksvoll ist die Szene, als sie am Ostersonntag einen Hügel besteigt, um dort den Sonnenaufgang zu erleben. “Die Farbe von Milch“ beschreibt das Schicksals eines jungen Mädchens, aber macht dem heutigen Leser auch deutlich, wie Klassenzugehörigkeit vor 200 Jahren über Lebenschancen entschied. Ein sehr empfehlenswertes Buch.

Veröffentlicht am 04.02.2018

Die Geschichte einer faszinierenden Frau

Die amerikanische Prinzessin
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Die promovierte niederländische Historikern und hochgelobte Autorin von Sachbüchern Annejet van der Zijl zeichnet in “Die amerikanische Prinzessin“ das Leben der Amerikanerin Allene Tew nach. ...

Die promovierte niederländische Historikern und hochgelobte Autorin von Sachbüchern Annejet van der Zijl zeichnet in “Die amerikanische Prinzessin“ das Leben der Amerikanerin Allene Tew nach. Allene wurde 1872 in der amerikanischen Provinz als Spross einer sehr tatkräftigen Pionierfamilie geboren, die es innerhalb von zwei Generationen zu wirtschaftlichem Erfolg und gesellschaftlichem Ansehen gebracht hatte. Mit 18 verliebte sie sich in den reichen Erben Tod Hostetter und wurde schwanger. Das Paar heiratete, aber Allene wurde wegen dieser Mesalliance viele Jahre lang gesellschaftlich ausgegrenzt. Ihre drei Kinder aus dieser Ehe starben alle früh. Sie heiratete danach noch viermal, aber nur ihre dritte Ehe war glücklich. Als Alson Burchard 1927 starb, verlor sie auch noch die Liebe ihres Lebens. Allene Tew war inzwischen eine schwerreiche Frau, an ein Leben in unvorstellbarem Luxus gewöhnt. Sie reiste viel und besaß zahlreiche Immobilien in den USA und Europa. Als sie sich - gerade Witwe geworden - mit Mitte 50 nach Europa einschiffte, um dort ein neues Leben zu beginnen, sah sie nicht nur noch gut aus, sondern war auch in finanzieller Hinsicht eine gute Partie. Da ist es nicht verwunderlich, dass es Heiratskandidaten im verarmten europäischen Adel für sie gab. In vierter Ehe heiratete sie Prinz Reuß, in fünfter Ehe den russischen Grafen Paul Kotzebue. Über ihren Schützling Prinz Bernhard kam eine Verbindung zum holländischen Königshaus zustande, so dass sie später ohne verwandtschaftliche Beziehungen zur Patentante von Prinzessin Beatrix wurde. Den Leser fasziniert dieses außergewöhnliche Leben vor allem wegen der Persönlichkeit der Allene Tew. Sie musste viele Schicksalsschläge verkraften und machte dennoch unbeirrt weiter. Sie besaß großen Mut und eine enorme Willensstärke, die es ihr erlaubten, nicht zu klagen oder zu trauern, sondern stets nach vorn zu blicken. Der Autorin gelingt ein interessantes, sehr lesbares Buch, das das Leben einer völlig unbekannten Frau vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund nachzeichnet. Die Darstellung der Zeitspanne von Allenes Leben (1872-1955) macht die Biografie dadurch gleichzeitig zum Geschichtsbuch.

Mir hat “Die amerikanische Prinzessin“ sehr gut gefallen, und ich empfehle das Buch ohne Einschränkung.

Veröffentlicht am 18.01.2018

Der Trost der Wölfe

Sag den Wölfen, ich bin zu Hause
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In Carol Rifka Brunts Romanerstling “Sag den Wölfen, ich bin zu Hause“ (”Tell the Wolves I´m Home”) muss die 14jährige June Elbus mit dem Tod ihres geliebten Onkels Finn fertig werden. Finn Weiss war ein ...

In Carol Rifka Brunts Romanerstling “Sag den Wölfen, ich bin zu Hause“ (”Tell the Wolves I´m Home”) muss die 14jährige June Elbus mit dem Tod ihres geliebten Onkels Finn fertig werden. Finn Weiss war ein bekannter Maler in New York, eine charismatische, brillante Persönlichkeit. Er starb in den 80er Jahren an der zunächst noch weithin unbekannten und unverstandenen Krankheit AIDS. June, ein Mädchen ohne Freunde, hatte ein sehr enges Verhältnis zu ihrem Onkel , der ihr Interesse für das Mittelalter teilte und ihr bei ausgefallenen Unternehmungen Wissen vermittelte. Vor seinem Tod fertigte der Maler ein Porträt von June und ihrer zwei Jahre älteren Schwester Greta an, was ihm die Möglichkeit gab, die Mädchen bei unzähligen sonntäglichen Sitzungen zu sehen. Nach Finns Tod nimmt sein von den Eltern geheim gehaltener Lebenspartner Toby Kontakt zu June auf. Es entwickelt sich eine tiefe Freundschaft, von der niemand etwas wissen darf. Sie teilen ihre Trauer und ihre Erinnerungen, und June begreift, dass es Geheimnisse in ihrer Familie gibt, von denen sie nichts wusste und dass sich manches ganz anders verhält, als sie dachte. Ihre Schwester Greta, die ihr früheres inniges Verhältnis durch Boshaftigkeit und ständige Schikanen zerstört hat, gerät in eine Abwärtsspirale, die nur June bemerkt.

Die sehr gefühlvolle, aber nicht rührselige Geschichte entwickelt sich auf einen Höhepunkt zu, wo alle Geheimnisse ans Licht kommen und eine Lösung der Konflikte in Sicht ist. Der Roman liest sich hervorragend und überrascht durch sorgfältige Charakterzeichnung. Die Figuren – neben June vor allem Greta und die Mutter der Mädchen – sind runde Charaktere ohne Schwarz-Weiß-Zeichnung, die die tieferen Schichten ihres Wesens allmählich offenbaren. Es geht immer wieder um Verlust und Trauer, Freundschaft und Liebe, um Geschwisterrivalität – nicht nur zwischen June und Greta, sondern auch zwischen Finn und seiner älteren Schwester Danni – , um die zur Heilung tiefer Wunden nötige Empathie und um die Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens.

Der Roman ist jedoch nicht nur ein Coming-of-Age-Roman – konsequent aus der Perspektive der jungen Ich-Erzählerin June erzählt, sondern die Autorin setzt sich auch ernsthaft mit dem Phänomen AIDS auseinander, indem sie zeigt, welches Leid die Krankheit in den betroffenen Familien verursacht und mit welcher Ignoranz die Menschen ihr damals begegneten. So sah die Reagan-Administration zunächst keine Veranlassung, Steuergelder für die Erforschung einer Krankheit zu verschwenden, an der (angeblich) nur Homosexuelle litten und die zudem noch als selbstverschuldet galt. Es ist ein Verdienst des Buches, diese vergangene Ära lebendig werden zu lassen.

Mir hat das Buch sehr gut gefallen. Es beginnt recht gemächlich, wird dann aber zunehmend spannender. Eine sehr empfehlenswerte Lektüre.

Veröffentlicht am 03.12.2017

Ein Leben in Angst

Drei Tage und ein Leben
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Die Handlung des neuen Romans von Pierre Lemaitre "Drei Tage und ein Leben" beginnt 1999, einen Tag vor Weihnachten. Der zwölfjährige unauffällige Schüler Antoine Courtin lebt mit seiner strengen Mutter ...

Die Handlung des neuen Romans von Pierre Lemaitre "Drei Tage und ein Leben" beginnt 1999, einen Tag vor Weihnachten. Der zwölfjährige unauffällige Schüler Antoine Courtin lebt mit seiner strengen Mutter Blanche in Beauval, einem kleinen Ort in der Provinz. Sein Vater hat die Familie vor sechs Jahren verlassen. Blanche arbeitet bei dem Fleischer Andrei Kowalski, der einen Laden in Marmont besitzt. Den Hund der Nachbarn Desmedt, Odysseus, liebt Antoine über alles. Mit ihm und dem sechsjährigen Rémi Desmedt geht er am liebsten in den Wald von Saint-Eustache. Dort baut Antoine heimlich ein Baumhaus, denn die anderen Kinder spielen mittwochs und samstags lieber mit der PlayStation. Eines Tages wird Odysseus von einem flüchtigen Autofahrer angefahren und schwer verletzt, und statt ihn zu einem Tierarzt zu bringen, erschießt Roger Desmedt das Tier vor Antoines Augen und wirft ihn in einen Müllsack. Für Antoine bricht eine Welt zusammen. Aus Wut zerstört er das Baumhaus. Da taucht Rémi im Wald auf. Ihm hatte man nur erzählt, dass der Hund weggelaufen sei, er versteht Antoines Wut nicht. Plötzlich schlägt Antoine mit einem Ast auf Rémi ein und trifft ihn an der rechten Schläfe. Rémi ist sofort tot. Wie in Trance versteckt Antoine das tote Kind in der Höhle eines Baumstumpfes und geht nach Hause. Nach einer großangelegten Suchaktion, an der sich alle aus dem Ort beteiligen, fegt am dritten Tag ein Jahrhundertsturm mit sintflutartigem Regen über das kleine Dorf hinweg. Rémi scheint vergessen worden zu sein, doch nicht von Antoine. Sein Leben hat sich in wenigen Minuten für immer verändert. Er allein kennt die ganze Wahrheit. Wird er erwischt und verhaftet, oder hat das Unwetter alle Spuren des Mordes verwischt, so dass er unentdeckt bleibt?
Pierre Lemaitre beginnt seinen tragischen Gesellschaftsroman im Jahr der Tat und geht später weiter in das Jahr 2011 und 2015. Der Protagonist kann mit niemandem, nicht einmal mit seiner Mutter, über die Tat reden. Er wird von unendlichen Schuldgefühlen geplagt. Der Autor geht der Frage nach, ob man als 12jähriger mit der Schuld leben kann, ein kleines Kind, das man lieb gewonnen hat, getötet zu haben. Was für ein Leben ist mit einer solchen Schuld überhaupt möglich? Angst, Albträume, Lügen und die Frage, ob es außer ihm jemand gibt, der die Wahrheit kennt, bestimmen fortan sein Leben. Der Roman ist hervorragend konstruiert, spannungsgeladen, dialogreich und enthält viele überraschende Wendungen und ein Ende, das man nicht vorhersieht. Für mich eins der besten Bücher dieses Jahres und absolut empfehlenswert.

Veröffentlicht am 03.12.2017

Hausarrest für einen Gentleman

Ein Gentleman in Moskau
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Armor Towles Roman "Ein Gentleman in Moskau" spielt in der Zeit von 1922 bis 1954. Graf Alexander Iljitsch Rostov, Träger des Ordens des Heiligen Andreas, Mitglied des Jockey-Clubs, Meister der Jagd, geb. ...

Armor Towles Roman "Ein Gentleman in Moskau" spielt in der Zeit von 1922 bis 1954. Graf Alexander Iljitsch Rostov, Träger des Ordens des Heiligen Andreas, Mitglied des Jockey-Clubs, Meister der Jagd, geb. am 24. Oktober 1889 in St. Petersburg wird am 21. Juni 1922 für ein 1913 unter seinem Namen veröffentlichtes revolutionäres Gedicht zum Tode verurteilt; die Strafe in Hausarrest in dem luxuriösen Hotel Metropol umgewandelt. Sollte er das Hotel jemals verlassen, wird er erschossen. Nach der Urteilsverkündung kehrt der Graf jedoch nicht in seine herrschaftliche Suite zurück. Ihm wird eine Kammer mit einem Fenster, das nicht größer als eine Briefmarke war, auf dem Dachboden zugeteilt, ein Großteil seines Hab und Gutes geht in Volkseigentum über. Während der nächsten 30 Jahre passt sich der Graf seinem Mikrokosmos an, und vor der Hoteltür nimmt die Geschichte Russlands und der ganzen Welt ihren Lauf.

Amor Towles hat einen wundervollen Roman geschrieben, der dem Leser viele Informationen über die Geschichte Russlands und das Leben des Aristokraten Rostov in seiner Jugend in der Provinz Nischni Nowgorod nahebringt. Der Graf ist ein Ästhet, ein Feingeist, ein sehr gebildeter und kultivierter, höflicher und sympathischer Mann, mit einer großen Leidenschaft für Musik und Literatur. Er hat nicht die Arroganz des Aristokraten, der sich auf seinen Status und seinen Reichtum verlässt. Die hat er ohnehin weitgehend verloren. Stattdessen entwickelt er viel menschliches Mitgefühl und ist zu tiefen Bindungen fähig. Er freundet sich nicht nur mit hochrangigen Persönlichkeiten und der wunderschönen Schauspielerin Anna, sondern auch mit dem Portier Wassili, der Schneiderin Marina, dem Barkeeper Andrei und Emile, dem Maître d’Hôtel an. Auch wenn der Graf sich seiner Gefangenschaft ungebeugt stellt und versucht sich anzupassen, ist er einmal so hoffnungslos, dass er bereit ist, sich das Leben zu nehmen. Er entscheidet sich jedoch dafür weiterzuleben. Er wird der neunjährigen Nina ein wunderbarer Freund und Spielkamerad. Sie zeigt ihm die geheimsten Orte des Metropols, und kehrt Jahre später als junge Frau zurück. Sie ist verzweifelt und bittet den Grafen, sich ihrer Tochter Sofia anzunehmen, der er ein liebevoller und aufopferungsvoller Ziehvater ist. Tief verbunden ist er mit seinem Freund Mischka aus Jugendzeiten, der ihn viele Jahre später als den glücklichsten Menschen Russlands bezeichnen wird, denn trotz seiner eingeschränkten Lebensumstände ist er immer noch fähig, Freude und Glück zu empfinden. Er ist auch nicht völlig von der Realität abgeschnitten. Informationen über das Weltgeschehen und die Lage in Russland erhält er von den Bediensteten und Hotelgästen. Ihm bleibt nur der Blick aus dem Fenster, von dem aus er das Bolschoi-Theater und die Mauern des Kreml sieht. Der Graf ist nicht Ich-Erzähler einer eigenen Geschichte. Der Autor lässt sie von einem allwissenden Erzähler in der dritten Person erzählen.

Ich habe den Roman sehr gerne gelesen und empfehle ihn uneingeschränkt weiter.