In letzter Zeit habe ich einige recht schmale Bücher gelesen, die trotzdem (oder auch gerade deshalb?) mit einem sehr starken Inhalt punkten konnten. Dies hier ist eines davon. Vielleicht liegt es daran, dass bei einem geringeren Umfang die Sprache sehr prägnant und auf den Punkt sein muss. Möglicherweise auch daran, dass den Leser viele Emotionen zwischen den Zeilen erreichen, dass nicht alles deutlich ausgesprochen werden kann und der Leser stärker gefordert ist, sich seine eigenen Gedanken zu machen und Schlüsse zu ziehen.
Das Thema, um welches es hier geht, ist sicherlich kein Einfaches. Theo ist ein guter, wenn auch stiller Schüler, trotzdem findet seine Lehrerin Helene etwas an seinem Verhalten auffällig. Sie hat keine Beweise, kann ihren Verdacht nicht einmal benennen. Und wird damit im Lehrerkollegium auch nicht ernst genommen. Nur Theos Freund Mathis weiß von seinen Problemen, zögert jedoch, sich jemandem anzuvertrauen.
Theo ist ein Kind, das wöchentlich zwischen seinen seit vielen Jahren getrennten Eltern pendelt. Eine Kommunikation zwischen diesen findet in keiner Weise mehr statt, vielmehr kommt es zu Anfeindungen über Theo als Mittler. Als wäre es damit nicht genug, bürden sie ihrem Kind (unbewusst?) viel zu viel Verantwortung auf. Misstrauen und Distanz dominieren Theos Verhältnis zu beiden Elternteilen.
"Vielleicht wird er sich einfach nur im Dunkeln hinsetzen und die Füße zwischen den Stuhlbeinen baumeln lassen, weil er nicht mehr weiß, was er sagen oder tun soll, weil er weiß, dass das alles für ihn zu viel ist, dass es seine Kräfte übersteigt. " Seite 63
Doch Theo hat längst einen Weg gefunden, dem Druck zumindest für einige Zeit zu entfliehen. Er trinkt hochprozentigen Alkohol, um sich besser zu fühlen. Tatsächlich steigert er die tägliche Menge sogar, denn sein Ziel ist es, das Bewusstsein zu verlieren, um zu vergessen.
Die Autorin beschreibt ihre Figuren detailliert und nachvollziehbar. Die Lehrerin Helene, die mit ihrem eigenem Trauma kämpft und nur deshalb so beharrlich der Sache nachgeht. Andernfalls wäre Theo wohl durchs Raster gefallen und nicht zu retten. Immer wieder klingt hier auch eine sehr deutliche Kritik an unserer Gesellschaft an.
Theos Eltern, die traurig und desillusioniert, mit der Situation vollkommen überfordert sind. Sie sind nicht einmal in der Lage das Problem überhaupt zu sehen.
Und auch Mathis, Theos Freund, dessen Familie auf den ersten Blick intakt und glücklich erscheint, wo es unter der Oberfläche aber ebenfalls gewaltig brodelt.
Das Lesen selbst fällt leicht, ich hatte den Roman an zwei Abenden beendet. Kurze Kapitel, aus den Sichtweisen der einzelnen Protagonisten erzählt, machen es dem Leser leicht, sich voll und ganz auf den durchaus anspruchsvollen Inhalt zu konzentrieren.
Eine volle Leseempfehlung von mir. Vielleicht sollte man diese Geschichte zum Anlass nehmen, öfter mal genauer hinzusehen.