Ihr bislang bester Roman – eine Reise zwischen Traum und Wirklichkeit
Unmöglicher AbschiedHan Kang, die diesjährige Nobelpreisträgerin, beweist erneut ihre Vielseitigkeit in ihrem neuen Roman „Unmöglicher Abschied“, in welchem sie mit einer beeindruckenden Bandbreite die wichtigsten Themen ...
Han Kang, die diesjährige Nobelpreisträgerin, beweist erneut ihre Vielseitigkeit in ihrem neuen Roman „Unmöglicher Abschied“, in welchem sie mit einer beeindruckenden Bandbreite die wichtigsten Themen ihres bisherigen Schaffens vereint.
Bereits zu Beginn besticht der Roman durch seine leisen, fast zarten Töne. Im Mittelpunkt steht die Beziehung der beiden Freundinnen Inseon und Gyeongha, zwei Kunstschaffende, die in unterschiedlichen Krisen gefangen sind. Gyeongha, die Protagonistin, ist Schriftstellerin und wird von ihrer Migräne zur Isolation gezwungen. Zwischen ihr und der Außenwelt steht eine imaginäre Barriere, die durch Han Kangs geschickte Formulierungen spürbar gemacht wird. Gyeongha tastet wie durch einen Schleier nach der Welt um sie herum, und dieser Schleier wird zum prägenden Motiv ihrer Wahrnehmung. Und Inseon, früher eine wenig erfolgreiche Dokumentarfilmerin, hat sich als Tischlerin von der Außenwelt abgeschottet, als sie durch einen verheerenden Unfall einige Finger verliert. Ihre innere Versehrtheit ist nun auch körperlich sichtbar. Zudem lastet die Vergangenheit ihrer Familie schwer auf ihr – ein Aspekt, der dem Leser nur schrittweise offenbart wird.
Die Handlung nimmt Fahrt auf, als Inseon ihre Freundin Gyeongha bittet, ihren weißen Vogel zu füttern, da sie selbst dazu nicht in der Lage ist. Diese scheinbar banale Bitte wird zum Ausgangspunkt einer tiefgreifenden, vielschichtigen Reise. Gyeonghas Weg zum Haus ihrer Freundin erweist sich als metaphorischer Türöffner – zu anderen Welten, Träumen und einer bisher verborgenen Vergangenheit. Die Grenzen zwischen Realität und Traum verschwimmen zunehmend, während sich Gyeongha auch der Familiengeschichte ihrer Freundin und damit einem wichtigen Kapitel koreanischer Geschichte nähert.
Ein zentraler Bezugspunkt des Romans ist das Jeju-Massaker von 1948, ein historisches Trauma, das im kollektiven Gedächtnis Koreas tief verankert ist. Han Kang gelingt es, die Grausamkeiten dieses Ereignisses in die Handlung zu integrieren und dabei ein europäisches Publikum auf ein selten literarisch behandeltes Thema aufmerksam zu machen. Gyeongha entdeckt Berichte und Zeugnisse, die Inseon in ihrem Haus gesammelt hat. Diese Dokumente dienen als Schlüssel zu einer verdrängten Vergangenheit und verknüpfen die persönlichen Schicksale der Figuren mit den politischen Umwälzungen Koreas.
Gleichzeitig ist Gyeonghas Reise durch das Schneetreiben zum Vogel ihrer Freundin von höchster symbolischer Bedeutung. Die Beschwerlichkeit des Weges spiegelt die inneren Kämpfe der Protagonistin wider, während Gedanken und Erinnerungen wie ein Sturm über sie hereinbrechen. Die Erzählung wird zunehmend fragmentierter, Anekdoten und Episoden durchziehen den Text wie Schneeflocken, die sich zu einem dichten Teppich verweben. Hier zeigt sich Han Kangs Feinsinn: Sie rückt scheinbar Nebensächliches ins Zentrum, lässt kleine Details aus Gyeonghas Leben eine immense Bedeutung gewinnen. Als Leser erkennt man bald, dass die wahre Odyssee nicht die physische Reise ist, sondern diejenige, die sich in Gyeonghas Kopf abspielt. Die geschickte Verflechtung von inneren und äußeren Welten erzeugt eine Sogwirkung, der man sich kaum entziehen kann.
Ein weiterer Höhepunkt des Romans ist Han Kangs Umgang mit Symbolen und Doppeldeutigkeiten. Der weiße Vogel, der Traum, der Gyeongha heimsucht, oder das abgeschiedene Haus, in dem Inseon lebt – all diese Elemente sind reich an Interpretationsmöglichkeiten. Die Farbe Weiß spielt dabei eine zentrale Rolle. Sie ist nicht nur durch den Schnee allgegenwärtig, sondern bildet auch die Grundstimmung des Buches. Han Kang gelingt es, weiße Flächen als Leerstellen zu inszenieren, die der Leser mit eigenen Deutungen füllen kann. Dies erinnert an ihr früheres Werk „Weiß“, doch hier ist die Farbmetaphorik noch prägnanter und atmosphärisch dichter umgesetzt.
Trotz aller Stärken bleibt der Roman nicht ohne Schwächen. Besonders die Darstellung des Jeju-Massakers verliert im Vergleich zum restlichen Text an Intensität. Die historische Aufarbeitung wirkt sachlich, fast dokumentarisch, und erreicht nicht die emotionale Tiefe, die man von einem Prosatext erwarten würde. Gyeonghas Zugang zu diesem Thema erfolgt vor allem über Berichte und Materialien, die Inseon zusammengetragen hat. Diese Passagen erinnern eher an ein Geschichtsbuch als an einen literarischen Text. Obwohl deutlich wird, dass Han Kang umfangreiche Recherchen betrieben hat, bleibt die Darstellung merkwürdig distanziert. Weder erreicht sie das Niveau eines informativen Sachbuchs noch gelingt es ihr, die Grausamkeiten dieses historischen Ereignisses literarisch vollständig greifbar zu machen. Dies untergräbt die ansonsten durch Nuancen und Symbolik bestechende Erhabenheit des Romans.
Nichtsdestotrotz ist „Unmöglicher Abschied“ vielleicht Han Kangs bislang stärkstes Werk. Ihr bisheriges literarisches Schaffen, das eher im oberen Mittelfeld anzusiedeln ist , erfährt durch diesen Roman eine neue Höhe. Die Vielschichtigkeit der Erzählung, die kunstvolle Verknüpfung von Traum und Wirklichkeit sowie die reichhaltigen Symbole laden zur wiederholten Lektüre ein. Besonders beeindruckend ist die narrative Doppelstruktur, die auf zwei Ebenen erzählt wird – eine offensichtliche und eine, die nur unterschwellig spürbar ist. Han Kang hat in diesem Werk ihre narrativen Ambitionen voll zur Entfaltung gebracht. Ständig hat man als Leser das Gefühl, dass nichts ist, wie es scheint, und dass jedem Detail eine tiefere Bedeutung zukommt.