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Veröffentlicht am 24.11.2024

Vielschichtiger Roman über ein wichtiges Thema

Antichristie
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Die Aufarbeitung der kolonialistischen Vergangenheit ist in Großbritannien bis heute eher Mangelware – auch in der Literatur ist dieses Thema, vor allem wenn es um Romane von etablierten Autorinnen und ...

Die Aufarbeitung der kolonialistischen Vergangenheit ist in Großbritannien bis heute eher Mangelware – auch in der Literatur ist dieses Thema, vor allem wenn es um Romane von etablierten Autorinnen und Autoren geht, beschämend unterrepräsentiert. Diesen Mangel füllen mitunter ausländische Schriftsteller aus Indien oder Südafrika. Mithu Sanyal ist es zu verdanken, dass es 2024 mit ihrem zweiten Roman „Antichristie“ zumindest einen erwähnenswerten deutschsprachigen Titel zum Kolonialismus und seinen Folgen gibt.
Als Zeitreisende bewegt sich die Protagonistin Durga durch zwei Welten: In der Gegenwart wird sie mit Themen wie Cancel Culture und Rassismus konfrontiert, wobei der Tod der Queen die Ausgangsbasis des Geschehens bildet. In den Tagen der offiziellen Trauer ist Durga damit beauftragt, für eine Fernsehserie eine alternative Version von Hercule Poirot – dem legendären Ermittler von Agatha Christie – zu entwickeln, was unmittelbar zu tiefgreifenden Debatten über kulturelle Aneignung, Identität und Diversität führt. Und auch der Tod von Queen Elizabeth II. wird zum Anlass genommen, deren Rolle im Kolonialismus zu hinterfragen.
In der Vergangenheit taucht Durga ins Londoner India House des frühen 20. Jahrhunderts ein, wo sich historische Figuren wie Vinayak Damodar Savarkar versammeln, um mit Bombenbau und Waffenschmuggel für Indiens Unabhängigkeit zu kämpfen.
Stets von einem unterschwelligen Humor begleitet, präsentiert sich Sanyals Text als eine dynamische Abfolge steiler Thesen und provokanter Aussagen, die nicht nur historische Tatsachen hinterfragen, sondern ihnen oft auch ironisch eine neue Bedeutung verleihen; ebenso werden auch historische Figuren mitunter ziemlich entfremdet. In teilweise ellenlangen Dialogen kommt es zu scharfen Auseinandersetzungen, in denen politische und ideologische Gegensätze aufeinandertreffen. Dabei gelingt es der Autorin, das Wesen des modernen Menschen als zutiefst zwiegespalten zu zeigen: selbstbewusst in seinen Ansichten, jedoch zunehmend verunsichert durch gesellschaftliche Normen und die Frage, wie weit Meinungsfreiheit reichen darf. Dieses psychologische Porträt spiegelt die zeitgenössischen Spannungen wider, die das Denken und Handeln in einer von Cancel Culture und wachsender Diversität geprägten Welt beeinflussen.
Dass die Autorin bei dieser Vielzahl an unterschiedlichen Themen und Auslegungsarten nicht immer zu finalen Schlussfolgerungen kommen kann, ist kaum verwunderlich. So mal in den meisten Fällen unterschiedliche Sichtweisen durchaus nachvollziehbar sind. So entzieht sich auch ihre fiktive Version von Savarkar einer endgültigen Beurteilung, was im Anbetracht dessen, dass seine Reputation auch in der Realität nicht zweifelsfrei geklärt ist, nur vernünftig ist.
Die Vielschichtigkeit des Romans ist beachtlich. Sanyal geht mit großer Ambition an ihr Projekt heran und verwebt zahlreiche Ebenen – von gesellschaftspolitischen Debatten über historische Ereignisse bis hin zu Fragen der Identität und kulturellen Verantwortung. Aufgrund dieser Komplexität ist eine einmalige Lektüre kaum ausreichend, um alle Facetten angemessen würdigen zu können. Als ein Spiegel aktueller Diskurse und einer gleichzeitig tiefgründigen Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit darf „Antichristie“ aber in jedem Fall als ein mutiges literarisches Experiment angesehen werden, das Historienroman und Gesellschaftskritik auf einzigartige Weise verbindet.

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Veröffentlicht am 22.11.2024

Erst weiß, dann grün, dann gelb

Über allen Bergen
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Valentine Gobys Roman „Über allen Bergen“ hat mir etwas beschert, was ich in diesem Jahr selten erleben durfte: das Gefühl, einen echten literarischen Glücksgriff in den Händen zu halten. Der Fluchtroman ...

Valentine Gobys Roman „Über allen Bergen“ hat mir etwas beschert, was ich in diesem Jahr selten erleben durfte: das Gefühl, einen echten literarischen Glücksgriff in den Händen zu halten. Der Fluchtroman über den jungen Juden Vadim aus Paris, der in den Bergen eine Zuflucht findet, entwickelt rasch eine eigene Dynamik und hebt sich deutlich von der Vielzahl zeitgenössischer Romane über den Zweiten Weltkrieg ab, die nur selten etwas Neues bieten.
Die Brillanz von Gobys Werk liegt in der klugen Erzählperspektive: Der Krieg bleibt ein fernes Echo, während die eigentliche Handlung sich in einer anderen Welt abspielt – einer Welt, die von Natur, Gemeinschaft und der Suche nach Identität geprägt ist. Vadim wird von seiner Mutter in die Berge geschickt, um den wachsenden Schikanen gegen Juden zu entkommen. Dort soll er als „Vincent“ ein neues Leben beginnen, in der Hoffnung, dass er fernab der Stadt sicher ist.
Anfangs schüchtern und unsicher, findet Vincent durch die Herzlichkeit seiner neuen Familie und der Dorfbewohner langsam Anschluss. Über mehrere Jahreszeiten hinweg – vom Winter bis zum Ende des Sommers – taucht der Leser in das einfache, aber muntere Leben in den Bergen ein. Vincent lernt Kühe zu melken, erlebt die Geburt von Kälbern und saugt wie ein Schwamm die Wunder der Natur auf. Besonders auffällig ist seine Sensibilität für Farben: Während der Winter für ihn in reines Weiß getaucht ist, empfindet er den Frühling als Grün und den Sommer als Gelb. Diese Farbempfindung erinnert an den von Goby erwähnten Maler Kandinsky, der in seinen Bildern unter anderem die Zugehörigkeit von Farben an bestimmte Formen nachzuweisen versuchte. Für Vincent haben ebenso auch die Naturspiele ihre ganz eigenen Farbwerte. Für den von Asthma geplagten Jungen wird die Welt abseits der Zivilisation zu einem Ort der Heilung – ein Ort, an dem die Zeit stillzustehen scheint, während er innerlich und äußerlich heranwächst. Gobys Stärke liegt in der einfühlsamen Darstellung von Vincents Reifeprozess, der sich in der Verbindung mit der Natur und der Gemeinschaft vollzieht. Doch nicht nur Vincent, auch die Menschen um ihn herum werden mit viel Wärme und Authentizität gezeichnet. Besonders glänzt der Roman jedoch durch die detailreiche Schilderung des Lebens in den Bergen. Mit einer fast dokumentarischen Präzision beschreibt Goby die bäuerlichen Arbeiten und den Alltag der Dorfbewohner, als wäre sie selbst Teil dieser Welt gewesen.
Stilistisch besticht „Über allen Bergen“ durch einen ruhigen, melodiösen Schreibstil. Die Übersetzerin Marlene Frucht hat diese Leichtigkeit auf beachtliche Weise ins Deutsche übertragen, ohne dabei die unterschwellige Poesie zu verlieren. Die Sätze fließen sanft, wie Blätter, die im Wind tanzen.
Obwohl ich Gegenwartsromane über den Zweiten Weltkrieg oft überdrüssig bin, schafft Goby es, diesem ausgeloteten Genre neue Facetten abzugewinnen. Indem sie den Krieg bewusst in den Hintergrund rückt, eröffnet sie Raum für die kleinen, alltäglichen Dinge des damaligen Lebens, die in vielen anderen Werken unbeachtet bleiben.
Ein kleiner Wermutstropfen bleibt jedoch: Mit knapp 340 Seiten wirkt der Roman stellenweise etwas zu langatmig. Für eine so leise und atmosphärische Erzählung hätte sich eine kürzere Form möglicherweise besser geeignet. Zudem bleibt der Roman, trotz seiner Feinfühligkeit, am Ende doch ein Werk seines Genres und kann sich nicht ganz mit den großen Meisterwerken der Kriegsromane messen.
„Über allen Bergen“ ist dennoch ein kleines literarisches Schmuckstück – ein Nebenwerk von unerwarteter Eleganz und Tiefe. Es erzählt eine Geschichte, die den Leser mit ihrer Wärme und Melancholie fesselt, und seine Veröffentlichung als stiller, poetischer Beitrag zum Genre ist allemal gerechtfertigt.

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Veröffentlicht am 29.08.2024

Zwei auf Wanderschaft

Zwei in einem Leben
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David Nicholls ist mit seinen Romanen, auch wenn sie vorrangig das Ziel der Unterhaltung verfolgen, immer wieder eine gute Wahl, denn sein Gespür für Charaktere und Dialogwitz machten bereits Bücher wie ...

David Nicholls ist mit seinen Romanen, auch wenn sie vorrangig das Ziel der Unterhaltung verfolgen, immer wieder eine gute Wahl, denn sein Gespür für Charaktere und Dialogwitz machten bereits Bücher wie "Zwei an einem Tag" oder "Drei auf Reisen" zu einem besonderen Leseerlebnis.
Bei Fischer Krüger erscheint nun sein neuer Roman "Zwei in einem Leben", wobei bereits beim deutschsprachigen Titel abzusehen ist, dass der Versuch unternommen wird, an frühere Erfolge anzuknüpfen. Die Konstruktion der Geschichte ist typisch für Nicholls, alles dreht sich um zwei Hauptcharaktere, eine Frau und einen Mann, Marnie und Michael. Beide befinden sich in ihren mittleren Jahren und durchleben derzeit eine Art Krise. Marnie, die als selbstständige Lektorin arbeitet, ist seit der Trennung von ihrem Ehemann vereinsamt und verbarrikadiert sich zunehmend in ihrer kleinen Wohnung, trifft kaum noch Freunde oder Bekannte, und erwischt sich hin und wieder dabei, wie sie mit ihren Einrichtungsgegenständen spricht. Ihre Lebenssituation wird wunderbar spezifisch geschildert, es werden nicht nur banale Klischees formuliert, mehr noch wird ihre Einsamkeit mit vielen zutreffenden Details ausgeschmückt.
Der zweite Protagonist Michael, ein Erdkundelehrer, lebt ebenfalls getrennt von seiner Lebensgefährtin, doch das Leben als Alleinlebender stellt für ihn eine Herausforderung dar, weil auch er von Einsamkeit und Zweifeln geplagt wird.
Bei einer gemeinsamen Gruppenwanderung treffen diese beiden Einzelgänger zufällig aufeinander. Ihr ersten Konversationsversuche sind zögerlich und unbeholfen, doch mit einer zunehmenden Zahl gewanderter Meilen beginnen sie, sich einander zu öffnen, und vertrauen sich schon bald sogar ihre Sorgen an. Je vertrauter der Umgang miteinander wird, desto stärker werden auch die Gefühle, die sie füreinander hegen. Der Aufbau des Romans lässt ihrer Beziehung viel Raum zur Entwicklung, die beiden Hauptfiguren nähern sich einander nur langsam an, und nicht zu jedem Zeitpunkt der Geschichte ist abzusehen, wer von den beiden, wenn überhaupt, sich einen weiteren Schritt voran wagen wird.
Vieles von dem, was man an David Nicholls Romanen schätzt, lässt sich in "Zwei in einem Leben" wiederfinden. Zum einen sein Händchen für die Protagonisten, immer wieder gelingt es ihm, bei der Beschreibung ihres Innenlebens den Nagel auf den Kopf zu treffen, ihre Gefühle und Gedanken werden so glaubhaft dargestellt, dass beim Lesen nahezu der Eindruck entsteht, der Autor habe reale Menschen porträtiert. Vor allem zu Beginn der Geschichte sind die Dialoge spritzig, pointiert und teilweise komisch, hier sticht Nicholls‘ Erfahrung als Drehbuchautor durch. Zudem ist er in der Lage, die Stimmungslage zu variieren, denn je näher Marnie und Michael sich kommen, desto tiefsinniger werden auch ihre Gespräche, anstatt einer Prise Humor, sind ihre Unterhaltungen dann von einer untergründiger Melancholie durchzogen, ebenso von neu erweckter Hoffnung. Nur die wenigsten von Nicholls‘ Autorenkollegen können Dialoge auf diesem Niveau schreiben, das ist zu würdigen.
An "Zwei an einem Tag" oder "Drei auf Reisen" kann Nicholls neuer Roman jedoch nicht heranreichen, das mag zum einen am Thema liegen. Die Chronik einer Wanderung bei englischem Wetter birgt zwar viel Potenzial für ruhige Momente, jedoch bietet der Wechsel zwischen englischen Ortschaften weniger Abwechslung als eine Tour quer durch Europa wie in "Drei auf Reisen". Und die Themen Alleinsein und Einsamkeit sind vom Autor an sich zwar gekonnt umgesetzt worden, jedoch fehlt vor allem in der zweiten Hälfe des Romans an einigen Stellen die Interaktion mit weiteren Figuren, weil Marnie und Michael zunehmend nur noch mit sich selbst beschäftigt sind. Womöglich hätte die Einführung eines zweiten Themengebiets die Geschichte noch etwas abwechslungsreicher gestaltet und somit für den letzten Rest Tiefgang gesorgt, den Nicholls Vorgängerromane nicht vermissen lassen. Dennoch bietet "Zwei in einem Leben" als Unterhaltungslektüre eine gelungenen Mischung aus Humor und Welterfahrenheit, nach der auf der Suche nach einer Romanze bevorzugt gegriffen werden sollte, als nach manch anderem Machwerk dieses Genres.

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Veröffentlicht am 21.12.2024

Kein raffinierter psychologischer Thriller, aber ein faszinierendes Drama

Die blaue Stunde
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Auf den ersten Blick wirkt Paula Hawkins‘ neues Buch „Die blaue Stunde“ ein wenig unentschieden. Es enthält zwar die typischen Elemente eines psychologischen Thrillers, scheint sich jedoch nicht vollständig ...

Auf den ersten Blick wirkt Paula Hawkins‘ neues Buch „Die blaue Stunde“ ein wenig unentschieden. Es enthält zwar die typischen Elemente eines psychologischen Thrillers, scheint sich jedoch nicht vollständig diesem Genre zuzuordnen. Der Roman beginnt mit dem Fund eines menschlichen Knochens in einem Kunstwerk der verstorbenen Künstlerin Vanessa Chapman. Dieses Verbrechen bildet das zentrale Mysterium, das im Verlauf der Handlung aufgeklärt werden soll.
Der Kurator James Becker reist auf die Insel, auf der Chapman zuletzt gelebt hat, um Nachforschungen anzustellen. Dort stößt er auf zahlreiche Ungereimtheiten in Chapmans letzten Lebensjahren, was die Geschichte zunehmend in ein Netz aus Geheimnissen und Andeutungen verstrickt. Doch wer von Paula Hawkins, bekannt durch ihren Bestseller „Girl on the Train“, einen ähnlichen, psychologisch spannungsaufbauenden Thriller erwartet, wird hier überrascht. Zwar setzt Hawkins erneut auf Atmosphäre und das Geheimnisvolle, jedoch ist „Die blaue Stunde“ noch entschleunigter und phasenweise mehr Drama als Thriller.
Im Fokus stehen vor allem Chapmans Leben als Künstlerin und ihre komplexe Beziehung zu ihrer Freundin Grace, die nach ihrem Tod ihr Haus verwaltet. Die Krimielemente werden auf das Wesentliche reduziert, während unterschwellige Bedrohung und düstere Momente die Atmosphäre bestimmen. Die Spannung ergibt sich weniger aus actionreichen Szenen als aus der Erwartung, dass Hawkins am Ende alle Fäden zusammenführt und den Leser mit einer überraschenden Wendung belohnt.
Hier liegt jedoch auch die Schwäche des Romans: Der Plot wirkt letztlich nicht besonders raffiniert. Für eine Autorin ihres Kalibers hätte man sich komplexere Wendungen und Verstrickungen, sowie ein packenderes Finale gewünscht. Dennoch überzeugt der Roman durch seine fein gezeichneten Figuren und ihre Beziehungen zueinander sowie durch die kunstvolle Darstellung einer geheimnisvollen Stimmung.
Wer also einen klassischen Thriller mit ausgeklügeltem Krimihandwerk erwartet, könnte enttäuscht werden. Freunde von literarisch anmutenden Dramen und Künstlerromanen hingegen dürften bei „Die blaue Stunde“ voll auf ihre Kosten kommen.

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Veröffentlicht am 17.12.2024

Zwischen Banalität und Brillanz: Dieser eigenwillige Roman ist eine echte Wiederentdeckung

Ein Haus und seine Hüter
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Mit „Ein Haus und seine Hüter“ von Ivy Compton-Burnett legt Die Andere Bibliothek eine spannende Wiederentdeckung vor. Dieser Roman, der ursprünglich im 19. Jahrhundert erschien, ist vermutlich eine der ...

Mit „Ein Haus und seine Hüter“ von Ivy Compton-Burnett legt Die Andere Bibliothek eine spannende Wiederentdeckung vor. Dieser Roman, der ursprünglich im 19. Jahrhundert erschien, ist vermutlich eine der beachtenswertesten englischen Veröffentlichungen dieses Bücherwinters. Auf den ersten Blick scheint das Werk ein klassischer viktorianischer Familienroman zu sein, der sich in altbekannte literarische Traditionen einreiht. Doch bei genauerem Hinsehen offenbart sich eine Tiefe, die in dieser Weise nur selten gelesen wurde.
Im Zentrum der Handlung steht die vermögende Familie Edgeworth. Gleich zu Beginn stellt Compton-Burnett alle Familienmitglieder vor, wodurch die Ausgangskonstellation schnell etabliert ist. Wie für viktorianische Romane typisch nimmt der Hausherr Duncan selbstbewusst den Platz des Oberhaupts ein. Er gibt sich gebieterisch gegenüber seiner Frau und seinen noch unverheirateten Töchtern. Das Fehlen eines Sohnes, der als Erbe antreten könnte, schwebt als unausgesprochenes Problem über der Familie. Diese Lücke füllt zunächst der Verwandte Grant aus. Damit entspricht die Familienkonstellation nahezu einem Lehrbuchbeispiel eines viktorianischen Romans, der die Erwartungen der Leser zu Beginn kaum enttäuscht.
Das Anwesen der Familie Edgeworth wird zum Schauplatz für die großen Themen: Tragödien, Intrigen, Hochzeiten, Trennungen, Tod und glückliche Wendungen prägen die Handlung. Besonders geschickt gelingt der Autorin der Aufbau des Romans. Der Einstieg legt nahe, dass die Handlung sich innerhalb weniger Tage abspielen wird – genauer gesagt rund um das Weihnachtsfest, welches zunächst das zentrale Thema bildet. Gespräche und Interaktionen der Figuren kreisen um die Feiertage, um Familie und Tradition. Doch unvermittelt nimmt die Geschichte an Fahrt auf und entwickelt sich in unerwartete Richtungen. Der Roman löst sich bald von der Enge, die die Festtage über die Familie Edgeworth ausgeübt haben, und weitet seinen erzählerischen Horizont.
Ein einschneidendes Ereignis ist der plötzliche Tod von Duncans Frau, der Mutter seiner Töchter. Diese Tragödie bringt das bis dahin geordnete Familiengefüge ins Wanken. Zuvor schien das Leben der Edgeworths in festen Bahnen zu verlaufen; jeder kannte seinen Platz und seine Rolle. Compton-Burnett lässt den Leser annehmen, dass dieser Zustand bereits seit langem besteht, ohne dass es Veränderungen gab oder gar erwartet wurden. Doch nun gerät alles ins Chaos.
Die Reaktionen der Familienmitglieder auf diesen Verlust sind auf den ersten Blick erwartbar: Duncan zeigt sich gefühlskalt und verweigert sich jeglicher Trauer, während seine Töchter Schwierigkeiten haben, ein angemessenes Verhalten zu finden. Doch je tiefer man in die Familienstrukturen eintaucht, desto deutlicher zeigt sich, wie komplex und brüchig das gesamte Gefüge ist. Compton-Burnett nimmt den Leser mit auf eine Reise durch ein zerklüftetes, sich stetig wandelndes Familienleben, in dem zunehmend alles drunter und drüber geht.
In vielerlei Hinsicht wirkt „Ein Haus und seine Hüter“ wie ein moderner Roman. Die Handlung scheint fast an die Seh- und Lesegewohnheiten unserer heutigen Gesellschaft angepasst zu sein. Man hat das Gefühl, die Geschichte könnte ebenso gut aus der Feder eines geübten Drehbuchautors stammen, der seine Zuschauer mit Intrigen, Cliffhangern und emotionalen Spannungen in seinen Bann ziehen will. Unterstützt wird dieser Eindruck durch den eigenwilligen Schreibstil der Autorin: Die Handlung wird fast ausschließlich durch Dialoge vorangetrieben. Beschreibende Erzählungen oder längere Reflexionen sind nahezu Fehlanzeige.
Diese Dialoge zeichnen sich allerdings durch eine bemerkenswerte Eigenart aus: Sie wirken oftmals sprunghaft, absurd und banal. Kaum eine Figur scheint je etwas von wirklichem Gewicht oder von klarer Relevanz zu sagen. Ständig fühlen sich die Charaktere bemüßigt, einen Einwurf zu machen – oft belanglos, oft widersprüchlich, und nicht selten ohne klaren Bezug zur vorherigen Frage oder Antwort. Was zunächst wie ein Defizit erscheint, erweist sich bei näherer Betrachtung als ein geniales Stilmittel. Denn es entsteht eine Dynamik, die ein äußerst treffendes Bild der damaligen Gesellschaft zeichnet. Die Qualität dieser Dialoge und des gesamten Romans offenbart sich somit erst in seiner Gesamtheit. Wenn man die Gespräche mit etwas Abstand revue passieren lässt, wird deutlich, wie präzise Compton-Burnett die Oberflächlichkeit, die sozialen Konventionen und die Spannungen innerhalb der Familie einfängt. Der Vorwurf der Banalität, den man der Handlung oder den Figuren beim ersten Lesen vielleicht machen könnte, erweist sich als ungerechtfertigt. Stattdessen entsteht ein fein gewebtes literarisches Bild, das in seiner Eindringlichkeit beeindruckt.
Auch die Handlung selbst bleibt diesem Muster treu. Viele Motive, die Compton-Burnett aufgreift, hat man in ähnlicher Form bereits bei viktorianischen Erzählern wie Jane Austen oder Frances Hodgson Burnett gesehen. Es wird verlobt und getrennt, ein Todesfall (Mordfall?) sorgt für Aufruhr, und die Familie sieht sich mit Verdächtigungen, Gerüchten und Verleumdungen konfrontiert. Das alles klingt wie der Stoff eines trivialen Unterhaltungsromans oder zeitgenössischen Dramas. Doch trotz dieser vertrauten Elemente gelingt es der Autorin, ihr literarisches Niveau durchweg zu wahren. Das liegt vor allem daran, dass Compton-Burnett die Fäden ihrer Geschichte souverän in der Hand behält. Jeder Dialog, jede Wendung und jede Charakterentwicklung wirkt glaubhaft und an der richtigen Stelle.
Insgesamt ist „Ein Haus und seine Hüter“ ein hervorragender Familienroman, der klassische viktorianische Motive mit moderner Erzählkunst verbindet. Die dialogbasierte Handlung, die vermeintliche Oberflächlichkeit der Figuren und die scheinbar banalen Episoden fügen sich zu einem stimmigen Gesamtbild. Ivy Compton-Burnetts Roman ist eine wahre Wiederentdeckung, die sowohl Liebhaber klassischer Literatur als auch moderne Leser zu fesseln vermag. Es ist eine Geschichte, die sich nicht nur durch ihre Handlung, sondern vor allem durch ihre kluge und innovative Umsetzung auszeichnet.

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