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Veröffentlicht am 24.12.2024

Ein sprachliches Highlight

Was vom Tage übrig blieb
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Mit diesem Roman über einen Butler, welcher von 1956 aus rückblickend über sein (Arbeits-)Leben als hochrangiger Vertreter seiner Zunft im Dienste einer englischen Lordschaft berichtet, konnte mich Kazuo ...

Mit diesem Roman über einen Butler, welcher von 1956 aus rückblickend über sein (Arbeits-)Leben als hochrangiger Vertreter seiner Zunft im Dienste einer englischen Lordschaft berichtet, konnte mich Kazuo Ishiguro vollends von seiner Schreibkunst überzeugen. Mr. Stevens war dabei, als nach dem Ersten Weltkrieg Geschichte geschrieben wurde; immer im Dienste des "moralisch Guten"; immer mit der nötigen Würde, um als einer der besten seines Fachs zu gelten. Zumindest sieht er das so.

Auf diesen subjektiven Blickwinkel kommt es in diesem Buch an, denn es handelt sich definitiv um einen unzuverlässigen Erzähler, wie man mit fortschreitender Lektüre bemerkt. Wir erfahren hier die eloquent ausformulierten subjektiven Erinnerungen einer Person. Etwas, was man durch den geschickten Schreibstil Ishiguros gekonnt untergejubelt bekommt. Die Verklärung selbst erlebter und historischer Ereignisse ist nicht nur prototypisch für die Zeitspanne um die beiden Weltkriege herum, sondern natürlich auch brandaktuell.

Diese unverkennbare Erzählstimme des Ich-Erzählers Mr. Stevens ist einfach nur grandios. Jedes einzelne Wort ist durchdacht und abgewogen. Mit ausschweifenden, hochtrabenden Formulierungen trifft der Autor exakt die Stimme, die sich die Lesende für einen würdevollen, englischen Butler nur vorstellen kann. An dieser Stelle ist die Übersetzung von Hermann Stiehl besonders hervorzuheben. Das Paket der mir vorliegenden Büchergildeausgabe macht dann noch die wunderschöne grafische Aufarbeitung des Romans durch Janna Klävers komplett.

Ein rundum hochwertiger Lesegenuss, der meinerseits eine uneingeschränkte Leseempfehlung zugesprochen bekommt. Wirklich ein Highlight der Weltliteratur!

Veröffentlicht am 24.12.2024

Die literarische Stimme einer Generation

Raumfahrer
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Ich muss zu meinem Bedauern zugeben: Das Erstlingswerk von Rietzschel "Mit der Faust in die Welt schlagen" habe ich bisher noch nicht gelesen. Nach der Lektüre von "Raumfahrer" wandert es jetzt aber ganz ...

Ich muss zu meinem Bedauern zugeben: Das Erstlingswerk von Rietzschel "Mit der Faust in die Welt schlagen" habe ich bisher noch nicht gelesen. Nach der Lektüre von "Raumfahrer" wandert es jetzt aber ganz weit nach oben auf der persönlichen Leseliste. Wenn es im Debütroman noch um die Radikalisierung ostdeutscher Jungendlicher ging, so beschäftigt sich der Autor im vorliegenden Werk mit einer schicksalhaft-verwobenen Geschichte zweier Familien, wie sie unterschiedlicher und gleichzeitig ähnlicher - durch die formell-staatlichen Umstände - kaum sein könnten. So verwebt der Autor die Geschichte von Jans Familie (Jan, 32 Jahre alt, noch kurz vor der Wende in Kamenz geboren) mit der des berühmten Malers Georg Baselitz (geboren 1938 in Deutschbaselitz, Nachbarort von Kamenz) und dessen Bruder Günter.

Artischockenhaft entblättert der Autor die Zusammenhänge und schicksalhaften Zusammentreffen der Familien über einen Zeitraum vom Kriegsende 1945 bis hin in eine Zeit 30 Jahre nach der Wende. Das alles schafft er auf nur schmalen 288 Seiten mit einer herunterdestillierten Sprache, die aber gekonnt das jeweilige Lebensgefühl der Protagonisten aufleben lässt. Die Sprache entspricht vollständig dem "ostdeutschen Sprachgefühl" und liest sich unglaublich leicht runter. Noch nie habe ich mich im Schreibstil eines Autoren/einer Autorin so passgenau wiedergefunden. Klasse! Wie lakonisch der Autor die Landflucht in der ostdeutschen Provinz durch wenige Worte dingfest macht. Wie gekonnt er Parallelen zwischen historischen und psychologischen Zuständen heraufbeschwört. Diese Passage über das Werk Baselitz' in den 60ern und 90ern sowie der Befindlichkeiten der Menschen in diesen Abschnitten der Geschichte ist eine der unzähligen nennenswerten Stellen des Buches: "Nachkriegszeit und Nachwendezeit. Trümmer beseitigen, nicht nur Brocken und Steine eingestürzter Häuser. Nicht nur die Fundamente suchen und ihnen nachweinen. Gebäude ließen sich abtragen und aufbauen, Erinnerungen nicht. Schmerzen nicht. Ob tatsächlich empfunden oder eingebildet. Schmerzen wie Steine, weitergereicht in einer Menschenkette von Hand zu Hand, um sie abzuklopfen und eventuell wiederzuverwenden." Das Ganze gespickt mit einer Andeutung von trangenerativen Traumata. Wie gesagt: Klasse!

Und Lukas Rietzschel scheint ein Allround-Talent zu sein, denn auch das Gemälde auf dem Cover stammt von ihm. Klassisch ostdeutsche Straßenlaternen erhellen die Kartoffeläcker des Arbeiter- und Bauernstaates vor dem Hintergrund einer aussterbenden Provinzstadt. (So meine Deutung). Ich bin vom Gesamtpaket überzeugt und ab jetzt ein Fan von Rietzschel.

Veröffentlicht am 24.12.2024

East of West

Wie viel von diesen Hügeln ist Gold
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Was, im Wilden Westen gab es Tiger? Und auch Chinesen? Davon hat man doch noch nie gehört. Genau das ist auch der Punkt. C Pam Zhang macht sichtbar, was bisher in Romanen und Filmen, die im Wilden Westen ...

Was, im Wilden Westen gab es Tiger? Und auch Chinesen? Davon hat man doch noch nie gehört. Genau das ist auch der Punkt. C Pam Zhang macht sichtbar, was bisher in Romanen und Filmen, die im Wilden Westen der USA verortet sind, kaum Beachtung gefunden hat. Hier darf kaum etwas zur Handlung verraten werden, da die Spannung des Buches zu großen Teilen aus den (falschen) Erwartungen der Lesenden hervorgeht. Ein verwaistes Geschwisterpaar macht sich auf den Weg, eine passende Ruhestätte für den verstorbenen Vater, der Goldgräber war, zu finden. Das Besondere sind hier nicht nur die kindlichen Protagonisten in diesem Setting, sondern auch deren ethnische Zugehörigkeit. Sie sehen nämlich asiatisch aus und bekommen dadurch den Stempel des "Exotischen" im Westen der USA Mitte des 19. Jahrhunderts.

Dieser Roman ist dermaßen facettenreich sowohl in seiner unerwarteten Handlung als auch dem Schreibstil, dass es eine Freude ist, diesem literarischen Talent C Pam Zhang beim Entwerfen einer bisher zu wenig beleuchteten Welt zuzusehen. Spannung entsteht hier nicht in einem klassichen Bogen, sondern eher aus Rückblicken und stilistischen Kniffen heraus. Nicht zuletzt schafft es die Autorin immer wieder, den Lesenden den Spiegel der eigenen Voreingenommenheit vorzuhalten. Sie lässt ihre Leser*innen immer wieder in Denkfallen tappen, die dem Erkenntnisgewinn beim Lesen dadurch nur Vorschub leisten. Toll! Mit einer poetischen aber auch durchaus brutalen Sprache vermittelt die Autorin einen Eindruck von sowohl der Schönheit der Natur und auch der Grausamkeit deren Zerstörung. Hier kann man sich auf nichts verlassen, alles ist möglich. Der Clou an der Geschichte ist letztendlich das Setting der Landschaft des US-amerikanischen Westens mit den vielen Glückssuchern und unglücklich Vertriebenen wie z. B. den native americans.

Abschließend kann ich sagen, dies ist ein Buch, wie ich es so noch nie gelesen habe. Selbst wenn man aufgrund des Klappentextes glaubt, eine Vorstellung davon zu haben, um was es in diesem Buch geht, wird man doch in jedem Kapitel aufs Neue überrascht. Meines Erachtens ein augenöffnendes - übrigens grandios von Eva Regul übersetztes - Leseerlebnis!

Veröffentlicht am 24.12.2024

Colson Whitehead: Wie immer ein Garant für hochkarätige Literatur.

Harlem Shuffle
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„Ich bin vielleicht manchmal pleite, aber ein krummer Hund bin ich nicht“, beschreibt sich der Protagonist des neusten Whitehead-Romans selbst. Ray Carney ist ein einfacher, schwarzer Möbelhändler im Harlem ...

„Ich bin vielleicht manchmal pleite, aber ein krummer Hund bin ich nicht“, beschreibt sich der Protagonist des neusten Whitehead-Romans selbst. Ray Carney ist ein einfacher, schwarzer Möbelhändler im Harlem der 1960er Jahre. Er hat sich sein Möbelgeschäft mit viel Anstrengung aufgebaut und kann stolz durchaus darauf sein. Zu Beginn ist er auch noch stolz darauf, dass er dies größtenteils ohne Gaunereien geschafft hat. Er ist nämlich der Sohn eines mittlerweile verstorbenen, stadtteilweit bekannten Ganoven, früh Halbwaise nach dem Tod der Mutter geworden und zeitweise stark verwahrloster Junge gewesen. Nun taucht sein Cousin, welcher für Ray wie ein Bruder ist, mit jeder Menge Ärger im Gepäck auf und zieht Ray immer tiefer in das Zwielicht Harlems.

Der neue Roman von Colson Whitehead ist ganz anders als die vorherigen und trotzdem bleiben die wichtigsten Themen des Autors omnipräsent: Rassismus und das Leben als Schwarze Person in einer Weißen Gesellschaft. Was ist ganz anders? Es handelt sich hier größtenteils um eine Gangstergeschichte, die grandios aufgezogen ist und mit einem Heist beginnt, über eine lang geplante Rache hin zu Schwierigkeiten mit Personen ganz anderen Kalibers entwickelt. Flott und mitreißend erzählt Whitehead in 1959 einsetzend die Geschichte um die Verwicklungen von Ray in immer zwielichtigere Geschäfte. Grandios scheint immer wieder der Möbelunternehmer mit Herz und Seele, der er eigentlich bleiben wollte, in den Beobachtungen und Schilderungen Rays durch. Bezüglich des Plots und des Stils taucht man mit Ray tief in die 60er Jahre ein, inklusive der damals im Rahmen der Bürgerrechtsbewegung erwachenden Rassenunruhen ein. Treffsicher baut Whitehead immer wieder Brücken zu den aktuellen Geschehnissen in den USA mit Polizeigewalt gegen Schwarze, der Erschießung George Floyds (neben unzähligen anderen) und den darauffolgenden Protesten und zeigt damit, wie sich leider noch nicht genug getan hat bezogen auf diese Themen in den vergangenen 60 Jahren. Auch den Wandel der Mega-City New York zeichnet er dezent nach. Und trotzdem bleibt der Autor ganz nah dran, an den Menschen, den Beziehungen, vor allem der zwischen Ray und seinem chaotischen Cousin Freddie, die eigentlich wie Brüder sind und zwischen denen eine tiefe Verbindung existiert.

Neben den vielen literarisch hochwertigen Kunstgriffen des Autors gefallen mir besonders die eingebauten Querverweise auf literarische Werke unterschiedlicher Epochen und Qualitäten, die in gewisser Weise immer wieder die Handlung des Plots von „Harlem Shuffle“ vorhersagen. Großartig, wenn man dann noch nebenbei - selbst in brenzligen Situationen - in die Vorteile gewisser Möbelserien eingeweiht wird, denn der Möbelverkäufer hat nun mal ein Auge dafür. Es macht einfach Spaß, dieses Buch zu lesen und sich auf die Brillianz von Colson Whiteheads Sprache einzulassen. Seine Wortwahl ist immer pointiert und aufs Kleinste durchdacht. Kein Wort ist hier nur zufällig im Text gelandet. An dieser Stelle ist auch die exzellente Übersetzungsleistung von Nikolaus Stingl hervorzuheben.

Wir begleiten einen Schwarzen in der Zeit der Bürgerrechtsbewegung dabei, wie er - eigentlich ganz unpolitisch – versucht, sein Leben langsam immer weiter zu verbessern, gespiegelt durch verschiedenste Metaphern im Roman. So wird das Private zunehmend zum Politischen. „Der Fehler war, zu glauben, er wäre jemand anders geworden. Zu glauben, dass die Umstände, die ihn geformt hatten, anders gewesen waren oder dass diesen Umständen zu entkommen ebenso leicht war, wie in ein besseres Gebäude umzuziehen oder richtig sprechen zu lernen.“

Der vorliegende Roman konnte mich einmal mehr von der literarischen Klasse Colson Whiteheads überzeugen und ich drücke ihm die Daumen, dass er mit „Harlem Shuffle“ den Triple-Erfolg schafft und mit drei Romanen in Folge den Pulitzer-Preis erhält. Verdient hätte er es.

Veröffentlicht am 24.12.2024

Grandioser Genremix - Ein Jahreshighlight!

Mama
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Jessica Lind schafft es meisterhaft eine Beziehungsgeschichte am Wendepunkt zur Elternschaft mit einer surrealen Alptraum-Horror-Atmosphäre im dunklen österreichischen Wald zu verbinden. Das Irren durch ...

Jessica Lind schafft es meisterhaft eine Beziehungsgeschichte am Wendepunkt zur Elternschaft mit einer surrealen Alptraum-Horror-Atmosphäre im dunklen österreichischen Wald zu verbinden. Das Irren durch den düsteren Wald, in dem die Hütte von Josefs Familie liegt und welche ein noch viel düsteres Geheimnis bereithält, wird dem Irren durch eine moderne Beziehung mit Rollenvorstellungen und Konflikten gegenübergestellt.

Sprachlich auf das Wesentliche reduziert erzeugt Lind die schwankende, zwielichtige, gruselige und mitunter kaum greifbare Atmosphäre dieses Romans. In traumartigen Sequenzen passieren unmögliche und undenkbare Dinge, die weit oder gar nicht so weit außerhalb der Realität angesiedelt sind. Der Sog dieser Geschichte ist so enorm, dass man das 187 Seiten umfassende Buch am liebsten gleich am Stück lesen möchte. Aber Vorsicht: Vielleicht nicht gerade am Abend vor dem Schlafengehen, denn es wartet ein fulminantes Ende auf die Leser*innen.

Das i-Tüpfelchen zu diesem sprachlich wie inhaltlich überzeugenden Werk bietet die Buchgestaltung als Gesamtkunstwerk von Christine Fischer. Wie vom Verlag Kremayr & Scheriau gewohnt, handelt es sich hierbei um ein von vorn bis hinten durchdachtes Design, welches nicht einmal bei der eindeutig-zweideutigen haptischen Erfahrung der Coveroberfläche (samtig und doch irgendwie unangenehm anzufassen) halt macht. Ganz großartig.

Von meiner Seite gibt es somit eine eindeutige Leseempfehlung für diese Neuentdeckung im Literaturbetrieb von der – man merkt es dem Roman an – studierten Drehbuchautorin Jessica Lind. Denn die Bilder zum Text sind sofort da… und verschwinden so schnell auch nicht wieder. Ob man das nun will oder nicht.