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Veröffentlicht am 24.12.2024

Wie ein literarisches Überraschungsei: Spiel, Spaß, Spannung

Der Stotterer
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Dieser Roman von Charles Lenwinsky kann auf allen Ebenen überzeugen. Es handelt sich hier nur nur um ein Vexier-Spiel, das Spaß macht und die nötige Spannung enthält, sondern ich meine noch drai ganz andere ...

Dieser Roman von Charles Lenwinsky kann auf allen Ebenen überzeugen. Es handelt sich hier nur nur um ein Vexier-Spiel, das Spaß macht und die nötige Spannung enthält, sondern ich meine noch drai ganz andere Komponenten, die an ein Ü-Ei erinnern.

Lewinsky lässt seinen inhaftierten Betrüger Johannes Hosea Stärckle aus der JVA heraus in Briefen an den Anstaltspfarrer, genannt "der Padre", nicht nur seine eigene Lebensgeschichte erzählen, sondern auch in kleinen sogenannten "Fingerübungen" dessen literarisches Können zeigen. Diese Fingerübungen sind Kurzgeschichten auf höchstem Niveau, die so auch als Kurzgeschichtenband von Lewinsky direkt veröffentlich werden könnten. Die dritte Komponente stellt der Plot in der Gegenwart dar, also das Geschehen im Gefängnis, von welchem man nicht nur in den Briefen an den Padre erfährt sondern auch über Tagebucheinträge von Stärckle. Wobei nicht nur bei den Tagebucheinträgen dem schreibenden Betrüger unvoreingenommen zu glauben ist. Es handelt sich hier nämlich um einen unzuverlässigen Erzähler. Das ist nichts, was man erst im Laufe des Buches für sich selbst herausfindet, nein, der Erzähler sagt es uns (bzw. dem Padre) offen heraus: Er erfindet nun mal und nimmt es mit der Wahrheit nicht so genau.

Das ist auch eins von zwei kleinen Mankos im ansonsten brillanten Text von Lewinsky. Für meinen Geschmack betont der Protagonist zu Beginn ein wenig zu oft seine nicht vorhandene Vertrauenswürdigkeit. Da hätte einmalig ein Hinweis genügt, um es den Lesenden verständlich zu machen. So scheint es mir, als ob Lewinsky seinen Leserinnen nicht genügend Sachverständnis zutraut, wenn es doch um einen verurteilten Trickbetrüger geht. Das zweite Manko stellt die länge der Geschichte dar. Die Spannung kann nicht ganz bis zum Schluss aufrecht erhalten werden. Die hochinteressante und kreative Art, wie der Autor seinen Roman konstruiert hat, nutzt sich einfach mit der Zeit etwas ab. Eine leicht verkürzte Romanfassung hätte dem Buch gut getan.

Ohne Frage ist Charles Lewinsky einer der größten Erzähler des deutschsprachigen Raums und er beweist vor allem mit den eingeschobenen Kurzgeschichten, dass er in vielen Genres Talente hat. Allein die "Fingerübungen" verdienen schon 6 von 5 Sternen, aber es zählt nun einmal der Gesamteindruck. Ein sehr gelungenes, ungewöhnliches Buch, was ich allen Leser
innen nur ans literarische Herz legen kann.

Veröffentlicht am 24.12.2024

Spiel mit der Zeit

Der Kolibri
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In „Der Kolibri“ schwirrt der Autor Sandro Veronesi wie der gleichnamige Vogel um das Leben von Marco Carrera. Zunächst wirkt dieser Marco wie ein eher langweiliger Nullachtfünfzehn-Augenarzt mit Affäre ...

In „Der Kolibri“ schwirrt der Autor Sandro Veronesi wie der gleichnamige Vogel um das Leben von Marco Carrera. Zunächst wirkt dieser Marco wie ein eher langweiliger Nullachtfünfzehn-Augenarzt mit Affäre inklusive schmalzigen Liebesbriefen. Er wird von seiner Frau verlassen und erfährt dies nicht von ihr selbst, sondern von deren Psychoanalytiker. Wie kläglich. Dass das Leben von Marco aber mit nicht immer nur „kläglich“ war, sondern auch echte und abwegige Schicksalsschläge für ihn bereithielt und – vom Zeitpunkt des Gesprächs mit dem Psychoanalytiker ausgehen – noch zukünftig bereithalten wird, erfahren die Lesenden dieses ungewöhnlichen Romans erst mit der Zeit.

„Mit der Zeit“ ist das Stichwort, da das herausstechendste Merkmal des Romans dessen Erzähl- und Zeitstruktur darstellt. Hier wird nichts chronologisch den Lesenden auf dem Präsentierteller hingehalten, nein, die Abfolge der Lebensereignisse von Marco muss sich schwer erarbeitet werden. Zwischen den Jahren 1960 und 2030 springt Veronesi wild hin und her, wirft nicht nur prosaische Texte sondern ebenso (Liebes-)Briefe, Telefonate und Emails ein. Was jetzt wirr klingt, ist es mitunter auch, fügt sich schlussendlich aber doch zu einem einigermaßen vollständigen Puzzlebild.

Was genau der Autor mit diesem Puzzlebild, welches das schicksalhafte Leben von Marco zeigt, ausdrücken möchte, ist mir zwar bis zum Schluss nicht ganz klar, aber auch egal. Der Sprachstil von Veronesi lohnt sich einfach aufgrund seiner Art zu lesen. Wenn er über Seiten hinweg am Stück, ohne Luft zu holen, ohne Punkt aber mit vielen Kommata den Moment beschreibt, wenn ein Elternteil einen Telefonanruf des Nachts bekommt, welcher nur bedeuten kann, dass etwas Schlimmes passiert sein muss, setzt auch der Atem bei den Lesenden aus. So nimmt das Buch, nach einer ersten Eingewöhnungsphase, vor allem im zweiten Teil enorm an Fahrt auf und steht gleichzeitig auch auf der Stelle. Wie ein Kolibri eben.

Meine Kritikpunkte liegen vor allem in einer stellenweise nachlässigen Übersetzung bzw. ungünstigen Übersetzungsentscheidungen, die dem Text nicht gut zu Gesicht stehen. Und mitunter schweift der Autor dann doch auch inhaltlich zu weit ab, wird zum Zugvogel statt ein Kolibri zu bleiben. Zuletzt hat mich das letzte Kapitel mit den Nachweisen und der Danksagung gleichermaßen enttäuscht, mir aber auch gefallen. Enttäuscht, weil man desillusioniert erkennen muss, wie viele Ideen ein Autor (und wahrscheinlich auch viele andere Autorinnen) von anderen Schriftstellerinnen übernehmen. Gerade an den Stellen, die man besonders toll und kreativ empfand. Gefallen, weil der Autor damit eine mir bisher im Anschluss an einen Roman nur selten begegneten Transparenz darbietet. Es lohnt sich also bis zur letzten Seite zu lesen!

Insgesamt liegt hier ein sehr guter Roman - mit Abstrichen - vor, der durchaus lesenswert ist, mich zeitweise tief berühren konnte, aber auch mal genervt hat. Deshalb abschließend 3,5 Sterne von mir für diesen Kolibri von einem Roman.

Veröffentlicht am 24.12.2024

Kurzweilige Lektüre mit Tiefgang aber zu schnödem Abschluss

Barbara stirbt nicht
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Herr Schmidt, ein Mann, der denkt, da er der Mann im Haus ist, habe er auch alle Zügel in der Hand. Schon immer. In Wahrheit entpuppt sich der altbacken-konservativ verbohrte Herr Schmidt als ein hoch ...

Herr Schmidt, ein Mann, der denkt, da er der Mann im Haus ist, habe er auch alle Zügel in der Hand. Schon immer. In Wahrheit entpuppt sich der altbacken-konservativ verbohrte Herr Schmidt als ein hoch unselbstständiger Zeitgenosse. Bis zu dem Zeitpunkt, als seine Frau Barbara bettlägrig wird und nicht mehr die Geschicke im Verborgenen lenken kann. So sieht sich Herr Schmidt gezwungen, selbst Hand anzulegen und den Alltag der beiden zu bewältigen.

Unglaublich amüsant und gleichzeitig in seiner Überspitztheit sehr wahrheitsgemäß beschreibt Alina Bronsky ein nicht so seltenes Szenario. Der frühere „Geldverdiener“ (und mehr aber auch nicht) muss zum „Hausmann“ werden und realisiert, was die Ehefrau die letzten 52 Jahre eigentlich alles gestemmt und geschafft hat. Denn natürlich wissen wir: Keine Arbeit macht sich von allein. Feinfühlig zwischen „hinreißend“ und „bitterböse“ entlarvt Bronsky die mal mehr mal weniger offensichtlichen Unterschiede in der Selbst- und Fremdwahrnehmung. Ich bin begeistert. Der so unfehlbare Herr Schmidt ist nämlich bei weitem nicht unfehlbar oder gar perfekt. Die Leser*innen sehen, was er nicht erkennt oder nicht erkennen will. Dass sein Sohn, wenn er nach dem Enkelkind befragt antworten muss „Ist nicht meine Woche“, meint, dass er von der Kindsmutter getrennt lebt und ein Wechselmodell zur Kindsbetreuung existiert. Dass wenn die Tochter immer ihre „beste Freundin“ mit zu Familienbesuchen bringt, natürlich ihre Partnerin gemeint ist. Herr Schmidt ist nun einmal verbohrt altmodisch, versteht die Welt nicht sonderlich gut. Und doch ist der Blick von Bronsky immer feinfühlig, denn auch Herr Schmidt ist nicht ohne Grund so geworden, wie er ist. Das scheint immer wieder durch. Nichts ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Die Autorin nimmt sich die Zeit, genauer hinzuschauen.

Eigentlich legt Bronsky damit einen sehr guten, kurzweiligen Roman mit Tiefgang vor. Die Figuren sind – auch wenn sie nicht die von vornherein absolute Sympathieträger sein können – doch mit Empathie angelegt und man schließt sie mit all ihren Ecken und Kanten ins Herz. Nur leider konnten mich die letzten 40 Seiten des Buches überhaupt nicht überzeugen. Da zaubert die Autorin plötzlich noch eine neue Figur aus dem Hut, führt sie nur kurz ein und macht sie zur Hauptperson des Buchendes. Das holt mich als Leserin einfach nicht ab. Hinzu kommt, dass auch diese Person auf ihre Art „besonders“ ist und aus der Norm fällt, sodass es scheint, als ob Bronsky auf Biegen und Brechen dem auf den ersten Blick vollkommen durchschnittlich wirkenden Herrn Schmidt, so viele diverse Figuren, wie nur möglich an die Seite stellen wollte. Das wirkt, neben der homosexuellen Tochter und dem Sohn, dessen Sohn übrigens „brauner“ Hautfarbe ist, also die Ex-Schwiegertochter eine Person of Color zu sein scheint, der russischstämmigen Ehefrau Barbara und anderen einprägsamen Randfiguren, doch alles sehr gewollt, zu überzufällig divers und in seinem Auftreten doch sehr unwahrscheinlich. Mit dieser Konstruktion des Romanpersonals im Sinne von: „only to proof a point“ habe ich Probleme. Das war dann wirklich zu viel des Guten. Ein bisschen wie ein zu schönes Weihnachtsmärchen.

Somit ist dies durchaus ein guter, auch zur Lektüre empfehlenswerter Roman geworden, der meines Erachtens zum Ende hin zu sehr schwächelt. Mit seeehr viel gutem Willen sind es noch gerade so 4 Sterne geworden, weil mir die Grundthematik von Pflege und Abschied mal unkonventionell umgesetzt erscheint.

Veröffentlicht am 24.12.2024

Für Laien gut aufgearbeiteter Ratgeber

Leaky Gut
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Dirk Schweigler erklärt das (mir bis zur Lektüre unbekannte) Phänomen des "Durchlässigen Darms" (Leaky Gut) in seinem selbstveröffentlichten Büchlein wirklich sehr gut und zeigt Wege zur Diagnostik und ...

Dirk Schweigler erklärt das (mir bis zur Lektüre unbekannte) Phänomen des "Durchlässigen Darms" (Leaky Gut) in seinem selbstveröffentlichten Büchlein wirklich sehr gut und zeigt Wege zur Diagnostik und Behandlung auf. Dies leitet er schlüssig her und untermalt viele psycho- wie auch somatischen Zusammenhänge mit anschaulichen, vergleichenden, bildhaften Beispielen.

Besonders diese Beschreibungen haben mir im Buch sehr gefallen. Aber auch die vielen ganz konkreten Praxistipps zu erhältlichen Tests und Nährstoffen waren wirklich wissens- und lesenswert. Alles sehr übersichtlich aufbereitet. Ganz selten sind mal noch ein paar kleinere Tippfehler durch die Kontrolle gerutscht, aber das ist nicht weiter schlimm. Ein wenig tiefergründige Informationen zum Autor hätten mir gefallen. Und zuletzt war es unnötig das insgesamt nur 150 Seiten dünne Büchlein zum Schluss erst in einem Zusammenfassungsteil nochmals zu wiederholen und danach erneut einen sog. "FAQ"-Abschnitt anzuhängen, der genau das vorher schon Zusammengefasste noch einmal in Frage- und Antwortform darbietet. Das Buch kann man sowieso recht gut an einem Tag durcharbeiten und braucht dann nicht zwingend zwei Arten von Zusammenfassungen.

Von dieser Formsache abgesehen, ist dies ein wirklich tolles und vor allem verständliches Buch zum Thema.

Veröffentlicht am 24.06.2024

Beeindruckende Sprache

Wie Inseln im Licht
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Nach der Lektüre von „Inseln im Licht“ bleibt vor allem Franziska Gänslers Zauberei mit der Sprache im Gedächtnis hängen. Natürlich neben der ungewöhnlichen Geschichte einer mittlerweile erwachsenen Frau, ...

Nach der Lektüre von „Inseln im Licht“ bleibt vor allem Franziska Gänslers Zauberei mit der Sprache im Gedächtnis hängen. Natürlich neben der ungewöhnlichen Geschichte einer mittlerweile erwachsenen Frau, die eine symbiotische Beziehung zu ihrer Mutter unterhielt und das alles nicht ohne Grund. Zoeys Mutter ist nach Jahren der Pflege mit Ende Vierzig verstorben. Was hinter der ungewöhnlichen Familiengeschichte steckt, erfährt man nach und nach im Laufe des sehr kurzen, nur etwas mehr als 200 Seiten langen Romans.

Der Plot, üder den man nicht zu viel verraten sollte, ist fast krimihaft, da Zoey nach dem Tod der Mutter an die französische Atlantikküste reist, um dort deren Asche zu verstreuen. Der Ort ist nicht per Zufall gewählt, lebte sie doch bis zu ihrem siebten Lebensjahr mit der jüngeren Schwester und der Mutter hier auf einem Campingplatz. Nach und nach „ermittelt“ Zoey zum damaligen Verschwinden ihrer fünfjährigen Schwester und es treten Familiengeheimnisse ans Licht, die auch die Dynamiken zwischen Zoey und ihrer Mutter offenbaren.

Das macht Gänsler durch eine beeindruckende, punktgenaue Sprache. Hier ist kein Wort zu viel. Abschließend hätte ich mir aber durchaus den ein oder anderen Satz mehr gewünscht, um manche Ereignisse, die als gegeben hingenommen werden, näher zu beleuchten. Mit vielleicht insgesamt 250 Seiten wäre dies sicherlich ein Highlight für mich geworden.

Nichtsdestotrotz handelt es sich hier um einen mitreißenden Roman, der sich in eine ganz andere Richtung entwickelt, als man das bei der Prämisse „Tochter will Asche der Mutter verstreuen und deckt Familiengeheimnisse auf“ erwartet hätte. Hat mir sehr gut gefallen!

4/5 Sterne

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