Das Glück und die Schuld des Überlebens
Suche liebevollen MenschenJournalist Julian Borger entdeckt Anzeigen im »Manchester Guardian« aus dem Jahr 1938. In diesen Kleinanzeigen der englischen Zeitung versuchten jüdische Eltern in Wien, ihre Kinder vor den Nazis in Sicherheit ...
Journalist Julian Borger entdeckt Anzeigen im »Manchester Guardian« aus dem Jahr 1938. In diesen Kleinanzeigen der englischen Zeitung versuchten jüdische Eltern in Wien, ihre Kinder vor den Nazis in Sicherheit und aus dem Land zu bringen; selbst mit der Gewissheit, die Kinder nie wiederzusehen. Auch Borgers Vater war eines dieser Kinder. Im Lauf der Recherche findet der Journalist Spuren von sieben weiteren Kindern, die ebenfalls von Wien aus ins Exil gebracht wurden. Die Recherche führt nicht nur nach England, sondern auch nach Shanghai, zu niederländischen Schmugglern oder französischen Widerstandskämpfern, und leider auch ins KZ Auschwitz.
Das Cover ziert ein Foto mit lächelnden Menschen, daneben Ausschnitte jener Kleinanzeigen, die Wiener Kinder 1938 Sicherheit bringen sollten. Neben einem übersichtlichen Personenverzeichnis und zahlreichen Anmerkungen weist das Buch die Kopien der betreffenden Kleinanzeigen und eine Reihe von Fotos auf. Der Autor lüftet ein Familiengeheimnis, das er vor allem durch die Schicksale anderer sieben betroffener Kinder lösen wird, denn sein Vater hat im während seiner Lebenszeit nur wenige Anhaltspunkte zu jener Zeit gegeben. Die Kapitel behandeln jeweils die Lebenswege dieser Kinder und Borger zieht mit deren Hilfe immer wieder Parallelen zu seinem Vater. Der Schreibstil ist angenehm, dennoch erfordert das Buch Konzentration, den Lebenswegen der unterschiedlichen Personen zu folgen, da der Autor die Geschichten oft ineinander verwebt. Aber das Buch ist ohnehin nicht geeignet, um es so nebenbei zur Unterhaltung zu lesen. Es ist nicht nur eine Entdeckungsreise in die Vergangenheit seiner Familie. Es ist ein Buch, das auch vom Schweigen erzählt, das immer wieder Abstecher zu historischen Persönlichkeiten, Gebäuden, usw. macht, und eine weitere Menge an Hintergrundinformationen liefert.
Borger ist hier ein sehr wertvolles Buch gelungen. Es berührt und lehrt zugleich. Die Schrecken jener Zeit werden eindrücklich beschrieben, durch historische Tatsachen, aber auch durch die Aufzeichnungen einiger dieser Kinder, denen durch die Annonce ihrer Eltern die Flucht gelang; ebenso durch die Gespräche, die er mit Überlebenden oder deren Nachfahren führen konnte. Es ist ein Buch, das betroffen macht - durch die Geschehnisse jener Zeit in Wien, aber auch durch die Situation in den englischen Pflegefamilien, in denen die jüdischen Kinder aufgenommen und gefördert wurden, in etlichen Fällen aber leider auch ausgebeutet wurden. Borger zeigt auch, dass ein sicherer Platz, eine gelungene Flucht, kein Garant dafür sind, unbeteiligt aus der Situation hervorzugehen. Und, dass diese Auswirkungen nicht nur den Beteiligten betreffen, sondern auch auf die Nachkommen übergehen kann, wie es auf dem Gebiet der Epigenetik erforscht wird.