Große Liebe ohne Perspektiven
Es ist für beide eine ganz große Liebe - aber eine Liebe mit Verfallsdatum und ohne Perspektiven: Die israelische Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin Liat ist mit einem Stipendium ein halbes Jahr ...
Es ist für beide eine ganz große Liebe - aber eine Liebe mit Verfallsdatum und ohne Perspektiven: Die israelische Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin Liat ist mit einem Stipendium ein halbes Jahr in New York. Hier lernt sie über einen gemeinsamen Bekannten den Maler Chilmi kennen, der schon seit ein paar Jahren in der Stadt lebt.
Die beiden verlieben sich Hals über Kopf und voller Leidenschaft. Dabei wissen sie, ihre Beziehung ist auf den Zeitrahmen von Liats Visum beschränkt. Denn Chilmi ist Palästinenser aus Ramallah. Angesichts der politischen Verhältnisse in der Heimat des Paares, angesichts Besatzun, Siedlungsbau und Intifada hat die Beziehung keine Chance, in Israel zu überleben, auch wenn Chilmi, etwas romantischer und vielleicht auch realitätsferner als Liat, diese Möglichkeit in Gesprächen manchmal in den Raum stellt. Der Besuch von Chilmis in Berlin lebendem Bruder öffnet aber auch ihm die Augen über den Widerstand, auf den die Beziehung selbst in der eigenen Familie stößt.
Dorit Rabinyans Roman "Wir sehen uns am Meer" ist bereits 2016 erschienen und aktueller denn je. Denn Menschen verlieben sich, wenn sie die Chance haben, einander ohne den Ballast von Geschichte und Politik zu begegnen, auch über Grenzen hinweg, die sie zu einem modernen Romeo und Julia-Paar werden lässt. Und heute wäre diese israelisch-palästinensische Liebesgeschichte angesichts der Kluft, die der Hamas-Angriff vom 7. Oktober und der Gaza-Krieg weiter aufgerissen haben, vermutlich noch viel, viel schwieriger.
Rabinyan erzählt vor allem aus der Sicht Liats, die zwischen Herz und Verstand hin- und hergerissen ist, die darunter leidet, ihre Gefühle vor der eigenen Familie, vor jüdischen Freunden in New York, geheimhalten zu müssen und stets in der Angst vor einem Ende des Versteckspiels lebt. Israel ist schließlich klein, und zahlreiche Israelis haben Freunde oder Angehörige in der jüdischen Diaspora in New York. Da ist die Gefahr, einem Bekannten über den Weg zu laufen, auch in einer Millionenstadt nicht unerheblich.
Die Politik spielt in den Gesprächen des Paares nur eine Nebenrolle - unterschiedliche Erfahrungen sind zwar durchaus ein Thema, aber Liat und Chilmi suchen das Verbindende. Ein emotionales Buch, das seinen Protagonisten mit Wärme und Sensibilität folgt, Probleme nicht verschweigt, aber dennoch Ausdruck einer Hoffnung ist, dass eine Liebe wie die von Liat und Chilmi eines Tages nicht von vornherein chancenlos ist.