REZENSION – Mit seinem belletristischen Romandebüt „Im Tal“ (2023) hatte der als Kriminalschriftsteller preisgekrönte Autor Tommie Goerz (71) das Genre gewechselt und die Geschichte eines Dörflers in der Fränkischen Schweiz erzählt. Im Januar erschien nun beim Piper Verlag mit „Im Schnee“ sein zweiter Roman, der nicht nur in seinem kurzen Titel dem Vorgänger ähnelt. Diesmal ist es die Geschichte des alten Bauern Max, der in Austhal, einem fiktiven oberfränkischen Dorf zwischen Arzberg und Wunsiedel, um seinen heute verstorbenen Freund Schorsch trauert. „Kein Mensch hat den Schorsch je Georg gerufen, nur in seinem Pass hatten sie es so geschrieben: Georg Wenzel. Aber was wissen die im Amt schon von den Menschen.“ Schorsch war für Max viel mehr als nur ein Freund und Nachbar: „Sie waren ja fast wie Geschwister, schon als Kinder.“
Nun ist Schorsch gestorben, liegt daheim aufgebahrt auf dem Sofa, und die Alten kommen zur Totenwacht zusammen – bis Mitternacht die Männer, danach die Frauen, wie es der alte Brauch verlangt. Nur Max bleibt auch noch bei den Frauen dabei. In leisem Gespräch erinnert man sich an gemeinsam Erlebtes, an Komisches und Trauriges. Über Stunden erzählen sie sich von Freuden, vom kleinen Glück und vom Schorsch, aber auch von der Enge im Dorf und dem eisigen Schweigen. „Der Schnee ist wie das Schweigen. … Wenn man schweigt, kommt man sehr gut miteinander aus. Worüber man nicht spricht, das gibt es nicht. Alte Dinge rührte man nicht an. Man wollte, man musste ja zusammenleben.“
Max erinnert sich an ein Dorfleben, das es so heute nicht mehr gibt. „Hier gibt es gar nichts mehr. Keinen Laden, keinen Bäcker, keinen Metzger. Haben wir früher alles gehabt. Sogar mal einen Schmied, einen Schuster, drei Wirtshäuser, einen Wagner, einen Daubner und einen Korbflechter ganz früher und was weiß ich. … Hatte man früher [im Wirtshaus] am Abend zehn, zwölf oder mehr Striche auf dem Filz, völlig normal, waren es heute gerade mal drei, wenn überhaupt. Und es saßen auch viel weniger Männer im Wirtshaus, es gab ja nicht mehr viele.“
Wir lesen von der Geschichte eines sterbenden Dorfes, das für Max einmal die ganze Welt war. Doch das alte Dorf besteht nur noch in seiner Erinnerung. Nichts wird wiederkommen. Inzwischen leben im Neubaugebiet am Ortsrand sogar Neubürger aus der Stadt, sauber getrennt von den Dörflern: „Und die kannte man noch nicht lange genug, egal wie lange sie schon da waren.“
„Im Schnee“ ist ein sehr leiser, eindringlicher, atmosphärisch dichter Roman über das in früherer Zeit sehr einfache, bescheidene Leben auf dem Land. Die Menschen waren mit dem Wenigen zufrieden, was sie hatten und sich leisten konnten. Bei Tommie Goerz, der eigentlich Marius Kliesch heißt und promovierter Soziologe ist, steht nicht die Action im Vordergrund seines Romans, sondern die menschliche Psyche. Er beschreibt die innere Zerrissenheit seiner Dorfbewohner und deren Marotten, aber auch deren selbstverständlichen Zusammenhalt. In alter Zeit war man aufeinander angewiesen und half sich gegenseitig, wo Hilfe erwünscht war. Der saubere Schnee, der den Schmutz verdeckt und dem Durchreisenden eine winterliche Idylle vortäuscht, steht dabei als Symbol für das Verborgene, das Unausgesprochene, das von den Alten bewusst Vergessene. „Das Dorf ein ruhiger See, eine Idylle?“, zweifelt Max an der Begeisterung eines Wanderers. Nein! „Es war ein Rattennest. Wohin man sah, stieß man auf Komisches und Fragen, manchmal auf Dreck und Müll. … Und trotzdem war es schön da.“
Tommie Goerz macht mit seinem Roman „Im Schnee“, dessen Handlung sich nur über die Nacht der Totenwache und den folgenden Vormittag erstreckt, der „Belletristik“ in ihrem originären Wortsinn alle Ehre: Dieser Roman ist wirklich „schöne Literatur“. Es ist kein fränkischer Heimatroman, denn „Austhal ist eigentlich wie viele Dörfer heute“, sondern ein psychologisch tiefgehender, menschlich berührender und gerade wegen seiner dichten Atmosphäre, seiner Behutsamkeit im Umgang mit den Figuren und der leisen Erzählweise ein lesenswerter Roman.
Wer heute als jüngerer Angehöriger des modernen Social-Media-Zeitalters noch in einem solchen Dorf wohnt, wird nach der Lektüre dieses Romans vielleicht die Alten besser verstehen und eher gewillt sein, ihnen genauer zuhören, wenn sie aus alter Zeit erzählen. Man sollte auch mal genauer nachfragen, denn viel Zeit bleibt nicht mehr. „Wenn dann die Menschen starben, waren die Geschichten weg. Und damit alles, was sie wussten und immer verschwiegen hatten.“