Jodie Picoult gehört bereits seit Jahrzehnten zu meinen Lieblingsautorinnen. Ihre letzten Romane konnten mich allerdings nicht mehr ganz so überzeugen, wie etwa meine Lieblingsromane "19 Minuten" und "Beim Leben meiner Schwester".
Mit "Kleine große Schritte" hat fast zu ihrer alten Form zurückgefunden, auch wenn ich dafür keine 5, sondern 4 Sterne vergeben kann. Dafür hat mir doch noch einiges gefehlt...
Bei ihrem neuen Roman hat Picoult teilweise wieder zu altbewährtem gegriffen: Ein kontroverses Thema, das selten von anderen Autoren aufgegriffen wird. Teilweise deshalb, weil es hier um Rassismus in kleinen und großen Dosen geht und dieser doch immer wieder in Büchern verwendet wird. So haben wir diesmal also keine Thematik wie Organspende, Glasknochenkrankheit oder Amoklauf, sondern ein seit Ewigkeiten andauerndes Problem: Rassismus. Zu diesem Thema hatte ich dieses Jahr schon das Jugendbuch "The Hate U Give" gelesen, das aber nicht vergleichbar ist, weil es ein anderes Zielpublikum anspricht und auch die Sprache dementsprechend angepasst ist. Wer Jodie Picoult kennt, der weiß, dass sie sich gerne schwierigen Themen annimmt und diese aus verschiedenen Blickwinkel beschreibt. Auch diesmal legt die Autorin sehr viel Wert auf ihre Charakterbeschreibungen und lässt uns in die Köpfe ihrer sehr unterschiedlichen Figuren blicken.
Die Geschichte wird abwechselnd aus der Sicht von Ruth, Kennedy und Turk in der Ich-Form erzählt. Zuerst begegnen wir Ruth Jefferson. Sie ist Mitte Vierzig, Witwe, Mutter eines 16-jährigen Sohnes und arbeitet als Hebamme und Säuglingsschwester. Sie liebt ihren Beruf, in dem sie auch sehr gut ist. Nicht umsonst ist sie die einzige farbige Schwester im Mercy West Haven Hospital. Bis zu ihrem Aufeinandertreffen mit dem Ehepaar Bauer hatte sie keine offensichtlichen Probleme wegen ihrer Hautfarbe. Doch die Bauers untersagen ihr deswegen jeglichen Kontakt zu ihrem Baby. Als der kleine Davis nach einem harmlosen Eingriff plötzlich Atemnot bekommt, ist Ruth die Einzige auf der Station, da ihre Kolleginnen zu einer Not-OP gerufen wurden. Soll sie sich der Anweisung beugen und sich wirklich von Davis fernhalten oder soll sie eingreifen? Ruth gerät in einen Gewissenskonflikt. Als das Baby stirbt, schiebt das Krankenhaus die alleinige Verantwortung auf Ruth, die des Mordes angeklagt wird.
Mir tat Ruth leid, aber ich konnte nicht immer ihre Gedanken nachvollziehen und auch keine wirkliche Nähe zu ihr aufbauen. Es blieb eine Distanz, dessen Ursprung ich nicht genau benennen kann. Ähnlich erging es mir bei Kennedy, ihre Pflichtverteidigerin. Diese ist eine priviligierte weiße Frau, die sich selbst nicht als rassistisch beschreibt. Durch diesen Fall erfährt sie allerdings einen Wandel, der auch bei ihr Umdenken hervorbringt. Doch auch bei ihr spürte ich eine Distanz beim Lesen. Einzig bei Turk konnte Picoult Emotionen bei mir hervorrufen. Normaler Weise versteht es die Autorin beide Seiten so darzustellen, dass man sich schwer auf nur eine Seite schlagen kann und sich in einer Zwickmühle befindet, da man beide Ansichten mehr oder weniger verstehen kann. Hier war das für mich kaum durchführbar. Den Schmerz, den Turk durch den Tod seines Sohnes erfährt, kann man irgednwie nachvollziehen, aber nicht wie er damit umging. Von seinen radikalen Ansichten war ich geschockt. Bei Turk konnte ich die meisten Emotionen freilassen, auch wenn es fast nur negative waren. Hier konnte mich die Autorin wirklich packen und die Darstellung des jungen Rechtsradikalen ist ihr sehr gut gelungen. Es gab auch interessante Einblicke in die rechtsradikale Szene. Interessant fand ich noch, dass Turk Bauer eine farbige Staatsanwältin zugesprochen bekam, was noch etwas mehr Pfeffer in die Geschichte bringt.
Mit viel Fingerspitzengefühl wird der Gerichtsprozess erzählt, der erst im letzten Drittel zu tragen kommt. Wie gewohnt steckt hier sehr viel Enthusiasmus drinnen und man verfolgt gebannt die verschiedenen Zeugenaussagen. Dieser Teil ist mit Abstand der Beste des Romans.
Auch wenn es für die Autorin laut ihrem Nachwort ihr wichtigstes Buch war, konnte es mich nicht gänzlich überzeugen. Picoult schreibt aus ihrer eigenen Sicht, wie sie im letzten Teil des Romans erklärt. In der Figur der Verteidierin Kennedy beschreibt sie eine weiße priviligierte Frau, wie sich selbst und erklärt, dass Rassismus in verschiedenen Bereichen gelebt werden kann. Manche davon sind uns Weißen gar nicht bewusst und dieser bereits in kleinen alltäglichen Dingen beginnt. Die Welt ist noch immer für Weiße "aufgebaut". Picoult versucht den Leser mit für uns unwesentlichen Dingen auf die Diskriminerung hinzuweisen: Wie viele Bilderbücher gibt es mit farbigen Kindern? Wo sind die Werbespots mit farbigen Frauen? Hier könnte man allerdings auch gleich hinzufügen, wo eigentlich die weiblichen Wesen mit normalen Körpermaßen sind.... Das ist zwar eine andere Geschichte - jedoch genauso eine Diskriminierung, finde ich.
Man sieht, man begegnet Ausgrenzung und Rassismus eigentlich jeden Tag auf unterschiedlichste Weise. Genau darauf geht die Autorin ein und nicht nur auf die rechtsradikalen Werte eines Turk Bauer, der einer farbigen Säuglingsschwester verbietet sein Baby anzufassen.
Das Ende hat mich ebenfalls nicht ganz zufrieden gestellt. Dazu kann ich aber nicht mehr sagen, da ich sonst spoilern würde...
Das hört sich jetzt alles eigentlich viel negativer an, als ich es empfunden habe, denn Picoult gehört weiterhin zu meinen absoluten Lieblingsautorinnen. Vielleicht bin ich deswegen umso kritischer...?
Insgesamt hat mir der Roman nämlich sehr gut gefallen und Picoult hat es wieder geschafft, dass man sich auch nach dem Beenden des Buches noch weiter mit der Geschichte auseinandersetzt und diese einem nicht so schnell loslässt...
Fazit:
"Kleine große Schritte" ist ein weiterer Roman von Jodi Picoult, der unter die Haut geht und der sich mit unangenehmen Themen auseinandersetzt. Diesmal gelang es mir aber nicht ganz, ihren Figuren näher zu kommen. Ich hatte immer ein Gefühl von Distanz. Trotzdem bleibt der Roman auch noch Tage nach dem Beenden im Gedächtnis und regt zum Nachdenken an. Für Picoult Fans wie mich, aber auf jeden Fall ein Must-Read.