Ein Augenöffner
Das Lieben danachLene ist auf die Kanaren geflogen, um zu schreiben. Sie liebt die Bewegung um sich herum.
Mit mildem Einverständnis betrachte ich ein Treiben, das ich sonst reflexartig ablehnen würde: Das Schaulaufen ...
Lene ist auf die Kanaren geflogen, um zu schreiben. Sie liebt die Bewegung um sich herum.
Mit mildem Einverständnis betrachte ich ein Treiben, das ich sonst reflexartig ablehnen würde: Das Schaulaufen am Abend auf Highheels, das sich-spreizen, die Salven überdrehten Gelächters, die Sixpacks unter tief aufgeknöpften Hemden, das viele Bling Bling – alle wetteifern sie emsig um Rang und Prestige. S. 8
Sie hat die ständige Selbstbeobachtung hinter sich gelassen. Nun will sie ihre Geschichte beleuchten. Sie erinnert einige Szenen aus ihrer Kindheit. Die ersten Lektionen über Sex: Das Lehrmädchen ihrer Eltern hatte Pater Antonio ein Kind andrehen wollen und kam in ein Heim für gefallene Mädchen, das Flittchen sagte ihre Mutter.
Ihre Mutter fand Sex scheußlich, lieber hätte sie die Böden geschrubbt.
Ihre Mutter:
Schroffe Gehässigkeit gepaart mit verborgenem Mitgefühl – eine Gefühlsverzerrung, die Generationen von Frauen im Blick auf ihre Geschlechtsgenossinnen bravourös beherrschten. S. 19
Die Mutter mochte den Strecker sehr, ein Künstler, Autor, so kultiviert und unterhaltsam. Er gab Lene Nachhilfeunterricht in ihrem Zimmer. Immer saß er neben ihr, sie sollte mit dem Füller schreiben, während er sie streichelte, seine Hände unter ihr Kleidchen schob und mit ihren Nippeln spielte, dann seine rechte Hand zwischen ihre Beine schob, immer tiefer und mit der anderen schnelle Bewegungen unter ihrem Tisch machte. Diesen Moment erwartete Lene immer mit großem Schrecken, weil er ihr so weh tat. Es begann, als sie fünf war im Urlaub in Hunsrück.
Lena genoss seine liebevolle Zuwendung, seine Aufmerksamkeit, das Singflüstern, ihre Gespräche, seine zärtlichen Gesten. Das Schlimmste und Zerstörerischste daran war der Schock, wenn die Situation kippte und sie seine, durch Selbsthass und Selbstverachtung ausgelöste Aggression spürte. Er ließ sie spüren, dass es ihre Schuld war, dass er sich nicht beherrschen konnte.
Missbrauch ist eine vielschichtige Angelegenheit. Die gängigen Begriffe vernachlässigen das sträflich. Täglich werden in Deutschland 54 Kinder und Jugendliche bis 17 Jahre missbraucht, 3/4 davon sind Mädchen. In 2023 gab es laut BKA 16.375 Fälle von Missbrauch an Mädchen unter 14 Jahren und das ist nur die Spitze des Eisbergs.
Die Prägung durch den Missbrauch ist so allumfassend, so tiefgreifend, dass die Persönlichkeit eine Veränderung erfährt, die ein Leben lang anhält.
Fazit: Das zu lesen war gewaltig schmerzhaft. Das erschreckendste für mich als Selbstbetroffene war, dass mich die Schilderung der Taten gleichsam erregte und abstieß. Ich erlebte das hässliche Gefühl, mich so jemandem noch einmal hinzugeben und ihn gleichzeitig töten zu wollen. Diese Ambivalenz beschreibt die Autorin mit unglaublich klugen und treffenden Worten. Sie analysiert alle Fallstricke, in denen sie sich während ihres Lebens verfangen hat. Das Gefühl, das der Täter ihr vermittelte, etwas ganz Besonderes zu sein, um sie dann mit ihrer „freiwilligen“ Zustimmung zu schänden und ihre daraus resultierenden späteren Schuldgefühle, das ist pervers und ungerecht. Die Autorin spricht über die frühe Grenzüberschreitung, die es ihr später verwehrte, eigene Grenzen und die anderer zu erkennen und selbst Grenzen zu setzen. Sie spricht über Vertrauen, Kontrolle, Scham, Hingabe und Promiskuität. Sie erklärt meisterhaft die Zusammenhänge und macht das schier Unmögliche verständlich. Ich bin aufgewühlt, bin retraumatisiert, möchte weinen und zuschlagen und deswegen weiß ich, wie wichtig dieses Buch ist. Ich hoffe, dass Helene Bracht viele Menschen erreicht, es war sicher eine Herkulesaufgabe so authentisch darüber zu schreiben. Ich wünsche mir, dass dieser Augenöffner eine Veränderung in der Sicht der Gesellschaft bewirkt.