Gezeichnet
Der scharlachrote BuchstabeAmerika im 17. Jahrhundert: Esther Prynne wird mit dem Zeichen der Schande, dem scharlachroten Buchstaben, gebrandmarkt für Ehebruch, dessen Beweis sie in ihren Armen hält. Hartnäckig verweigert sie, den ...
Amerika im 17. Jahrhundert: Esther Prynne wird mit dem Zeichen der Schande, dem scharlachroten Buchstaben, gebrandmarkt für Ehebruch, dessen Beweis sie in ihren Armen hält. Hartnäckig verweigert sie, den Vater des Kindes preiszugeben und wird mit ihrer Tochter aus der Gesellschaft ausgestoßen. Am Rande des Dorfes fristet sie ihr Leben, arm, demütig und stolz.
Ein Klassiker, der von seinem Facettenreichtum lebt. Reduziert man ihn auf die nackte Geschichte, scheint sie manchmal langatmig, ereignislos und mit vielen offenen Fragen versehen. Der Reiz des Buches ist, dass man es nicht reduzieren kann. Gerade weil es so ereignislos erscheint, geht man als Leser den vielen Fragen nach, die es aufwirft. Jeder Blick auf die Charaktere eröffnet einen neuen Interpretationsspielraum, eine neue Facette. Auch ohne sich mit dem Nachwort zu beschäftigen folgt man als Leser den vielen Zeichen, die der Autor subtil und weniger subtil in die Oberfläche eingeflochten hat – wie der kunstvoll gestickte Buchstabe, den Esther Prynne trägt. Leuchtend, offensichtlich, schimmernd und doch so fein und komplex, dass jede Offensichtlichkeit in Frage gestellt wird. Die Faszination der Geschichte ist, dass sie sich mit jedem weiteren Blick verändert. Jedes Mal, wenn man die Szenen revuepassieren lässt, mit jeder neuen Lektüre, mit jedem neuen Gedanken blitzt eine neue Seite auf, erkennt man ein weiteres Detail, gibt man den Kleinigkeiten ein neues Gewicht und prompt verändert sich alles. Mag also die reine Geschichte an Spannung nicht viel hergeben so hat sie doch einen Tiefgang und eine Komplexität, die alles wieder wettmacht. Dieser Klassiker lohnt sich.
Die dtv-Ausgabe mit der Übersetzung von Franz Blei liest sich gut, die Anmerkungen von Hans-Joachim Lang beantworten viele Fragen, die sich beim Lesen aufdrängen und das Essay von Binnie Kirshenbaum gibt einen tiefergehenden Einblick in das Werk. Mein einziger Kritikpunkt: der Name der Protagonistin wurde vom Original „Hester“ in „Esther“ verändert. Gerade bei so ausgefeilten Werken wie dem vorliegenden, kann der Autor mit der Wahl von Namen bewusst ein Symbol geschaffen haben, das für das Verständnis des Werkes essentiell sein kann. So finde ich ein Eingriff durch den Übersetzer sehr fragwürdig. Außerdem sollte man in der Übersetzungsarbeit über die „Eindeutschung“ der Namen hinaus sein – es sei denn das wäre wesentlich für das Verständnis des Werks und dann mit einer Anmerkung erläutert.
Dieser Klassiker bietet sehr viel mehr als man auf den ersten Blick vermeint. Er fasziniert, er schillert und er ist eine mehrfache Lektüre wert. Mit jeder weiteren gewinnt man einen neuen Eindruck und findet immer wieder Dinge, die einem vorher nicht aufgefallen sind. Eine klare Leseempfehlung für jeden, der ein anspruchsvolles Buch nicht scheut!