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Veröffentlicht am 13.05.2025

Poesie der Trostlosigkeit

Der Kaiser der Freude
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Nach dem gefeierten Welterfolg „Auf Erden sind wir kurz grandios“ legt Ocean Vuong endlich seinen lang erwarteten zweiten Roman „Der Kaiser der Freude“ vor. Und wie schon beim Debüt gelingt Vuong eine ...

Nach dem gefeierten Welterfolg „Auf Erden sind wir kurz grandios“ legt Ocean Vuong endlich seinen lang erwarteten zweiten Roman „Der Kaiser der Freude“ vor. Und wie schon beim Debüt gelingt Vuong eine zutiefst bewegende Geschichte über Identität, Schmerz und die flüchtige Hoffnung auf Erlösung. Der neue Roman ist deutlich umfangreicher als der erste, doch thematisch knüpft Vuong an sein bisheriges Werk an: Wieder steht ein junger Amerikaner vietnamesischer Herkunft im Mittelpunkt, der versucht, seinen Platz in einer Welt zu finden, die ihm kaum Raum zum Atmen lässt.
Hai, der Protagonist, befindet sich zu Beginn des Romans in einem Zustand völliger Desorientierung. Bereits als Jugendlicher ist er abhängig von Pillen, verloren, erschöpft und seelisch gebrochen. Ein Sprung von einer Brücke scheint in greifbarer Nähe, doch in letzter Sekunde wird Hai von einer älteren Frau gerettet: Grazina, eine exzentrische Litauerin mit körperlichen Gebrechen und einem Geist, der in der Vergangenheit verhaftet ist. Sie lebt in einem Haus, das ebenso von Erinnerungen wie von Halluzinationen bewohnt wird – Spukgestalten, die ihr keine Ruhe gönnen. Hai zieht vorübergehend bei ihr ein, und so beginnt eine ungewöhnliche Beziehung zwischen zwei zutiefst verletzten Menschen.
Im weiteren Verlauf entwickelt sich „Der Kaiser der Freude“ zu einem modernen Bildungsroman – allerdings nicht im klassischen Sinne. Hais Entwicklung verläuft nicht geradlinig, es gibt keine großen Ziele, keine spektakulären Wendungen. Und doch geschieht Wandel. Er findet eine Stelle in einem heruntergekommenen Diner, lernt andere Gestrandete kennen: Menschen, die sich tagein, tagaus durch einen entmutigenden Alltag kämpfen. Die Realität, die Vuong zeichnet, ist weit entfernt von den Versprechungen der Werbung: Sie ist grau, von harter Arbeit und geringen Aussichten geprägt. Und doch erwächst zwischen den Figuren eine stille Solidarität, ein zartes Gefühl von Zusammenhalt, das sich wie ein feiner Lichtstrahl durch die düstere Szenerie zieht.
East Gladness, der Handlungsort, wirkt wie ein Ort kurz vor dem Verfall – trist, melancholisch, beinahe entrückt. Die Atmosphäre des Romans erinnert an Herbstabende, wenn das Licht schwindet und die Welt in Schatten getaucht wird. Doch gerade in dieser Trostlosigkeit liegt Vuongs große Kunst: Immer wieder lässt er Hoffnungsschimmer aufblitzen, die mehr gespürt als ausgesprochen werden. Hai ist dabei ein ungewöhnlicher Held – nicht, weil er große Ambitionen verfolgt (sein Traum, zu schreiben, bleibt vage und unerfüllt), sondern weil er durchhält. Jeden Tag aufs Neue.
Die Beziehung zu Grazina vertieft sich dabei zunehmend. Je mehr sie sich von der Realität entfernt, desto stärker wird Hais Rolle als Stütze. In ihrer gemeinsamen Verletzlichkeit entsteht eine leise, aber tragfähige Verbindung. Der Roman folgt dabei keinem klassischen Spannungsbogen. Es gibt kein Ziel, das erreicht werden müsste, keinen großen Abschluss. Vielmehr konzentriert sich Vuong auf die inneren Bewegungen seiner Figuren – ihre Erinnerungen, Verluste und Versuche, zu verstehen, woher sie kommen und wohin sie wollen. Hai setzt sich mit seiner Herkunft auseinander, mit seiner Mutter, mit dem Schmerz seiner Vergangenheit – und schafft es, wenigstens ansatzweise Frieden zu finden.
Stilistisch bleibt Vuong sich treu. Seine Sprache ist poetisch. Besonders die Eröffnung des Romans ist von solcher sprachlichen Kraft, dass man einzelne Sätze mehrfach lesen möchte. Diese Poesie ist jedoch nicht konstant – in manchen Passagen wirkt die Sprache flüchtiger, weniger ausgefeilt. Dennoch ist es der Übersetzung von Anne-Kristin Mittag und Nikolaus Stingl hoch anzurechnen, wie viel von Vuongs Tonfall erhalten bleibt.
„Der Kaiser der Freude“ ist ein leiser, eindringlicher Roman, der nicht mit Handlung glänzt, sondern mit Tiefe. Was auf den ersten Blick ziellos und fragmentarisch wirkt, entpuppt sich als präzises Porträt einer jungen Seele im Aufbruch. Ein Buch, das die hässlichen Seiten des Lebens zeigt, und dennoch schön ist.

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Veröffentlicht am 10.05.2025

Eine Jugend für die Freiheit

Himmlischer Frieden
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Wie bei vielen chinesischen Romanen, die im Exil entstanden sind, steht auch bei Lai Wens „Himmlischer Frieden“ die politische und gesellschaftliche Kritik im Vordergrund. Doch anders als viele andere ...

Wie bei vielen chinesischen Romanen, die im Exil entstanden sind, steht auch bei Lai Wens „Himmlischer Frieden“ die politische und gesellschaftliche Kritik im Vordergrund. Doch anders als viele andere Werke beginnt dieser Roman vor allem mit leisen Tönen. Eindringlich beschreibt Lai ihre Kindheit in Peking, in der sie vor allem durch ihre Großmutter, eine Figur voller Eigensinn und Wärme, geprägt wird – ein emotionaler Anker des Romans.
Bereits in diesen Kindheitsszenen schimmern jedoch erste Konfliktlinien durch. Beim Spiel mit den Nachbarskindern zeigt sich, wie Lai, obwohl sie eher zurückhaltend ist, durch äußere Impulse zu mutigem Verhalten angestachelt wird – eine Eigenschaft, die sie später in der Studentenzeit erneut begleiten wird. Früh gerät sie durch solche Begebenheiten in das Spannungsfeld zwischen individueller Freiheit und staatlicher Repression – ein Thema, das sich durch den gesamten Roman zieht.
Lai, eine introvertierte, literaturbegeisterte junge Frau, schafft es trotz aller Widerstände an die Universität. Dort wird sie, vor allem durch die Wiederbegegnung mit einem Kindheitsfreund, zunehmend in die aufkeimende Studentenrevolution hineingezogen. Was sich hier wie ein klassischer Erzählverlauf anhört, gewinnt durch den autobiografischen Hintergrund der Autorin enorme Authentizität. Lai Wens eigene Erlebnisse und Erinnerungen verleihen der Geschichte eine Tiefe, die rein fiktive Werke oft nicht erreichen.
Besonders hervorzuheben ist, dass der Roman sich nicht allein auf seine politische Brisanz verlässt. Lai Wen versteht es, mit einer feinfühligen und facettenreichen Sprache ihre Leser in das Alltagsleben der 70er- und 80er-Jahre hineinzuziehen. Familie, Freundschaft, Literatur und leise Romanzen bilden das Fundament, auf dem sich die politische Dimension des Romans aufbaut.
Die Studentenrevolution – unbestritten das Herzstück des Romans – nimmt so erst im letzten Drittel wirklich Raum ein. Doch diese dramaturgische Entscheidung erweist sich als klug: Sie erlaubt es den Lesern, Lai als Mensch zu verstehen, bevor sie ihre Haltung in historischen Krisenzeiten beurteilen. So wirkt ihre Beteiligung an den Protesten nie aufgesetzt, sondern nachvollziehbar und bewegend.
„Himmlischer Frieden“ erzählt mit leiser Stimme große Wahrheiten – und verfällt dabei weder in Pathos noch in ideologische Plattitüden. Ein erwähnenswerter Beitrag zur Exilliteratur und ein eindrückliches Zeugnis über den Wunsch nach Freiheit.

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Veröffentlicht am 14.03.2025

Eine Brücke zwischen den Generationen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart

Flusslinien
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Katharina Hagenas vierter Roman "Flusslinien" entführt die Leser in die vielschichtige Welt dreier Protagonisten, die sich in völlig unterschiedlichen Lebensstadien befinden: Margit, Luzie und Arthur. ...

Katharina Hagenas vierter Roman "Flusslinien" entführt die Leser in die vielschichtige Welt dreier Protagonisten, die sich in völlig unterschiedlichen Lebensstadien befinden: Margit, Luzie und Arthur. Mit einer einzigartigen Erzählweise, die von Erinnerungen, Gedankenfragmenten und scheinbar zufälligen Einsprengseln durchzogen ist, erschafft Hagena eine literarische Atmosphäre, die sowohl sanft als auch eindringlich wirkt.
Margit Raven ist mit über hundert Jahren die älteste der Hauptfiguren und lebt in einer Seniorenresidenz. Wie so oft in Hagenas Werk dient dieses hohe Alter als Gelegenheit, in die Geschichte Deutschlands einzutauchen. Margit hat den Krieg miterlebt, die Wirren der Nachkriegszeit durchstanden und schließlich ihre Berufung als Stimmbildnerin gefunden. Ihre Erinnerungen tauchen nicht als chronologische Nacherzählung auf, sondern fließen bruchstückhaft in die Erzählung ein. Mal sind es kurze Momente aus ihrer Kindheit, mal Episoden über ihre Beziehung zu ihrer Mutter oder über ihre Schulzeit. Dabei vermeidet Hagena den Fehler vieler anderer Autoren, die sich in pathetischen Dramen und übermäßigen historischen Recherchen verlieren. Stattdessen werden die geschichtlichen Ereignisse aus einer individuellen Perspektive geschildert – so, wie Margit sie damals empfunden hat. Dadurch fühlt sich der Roman nicht wie eine Geschichtsstunde an, sondern wie das gelebte Leben einer Frau, die das 20. Jahrhundert mit all seinen Höhen und Tiefen erlebt hat.
Trotz ihrer bewegten Vergangenheit strahlt Margit in der Gegenwart eine angenehme Ruhe aus. Ihre Erinnerungen sind nicht voller Bitterkeit, sondern erscheinen als fragmentierte Gedanken, die mal aufleuchten und wieder verblassen. Es ist ein leiser, aber eindrucksvoller Blick auf ein Jahrhundert deutscher Geschichte.
Auch Luzie, eine junge Frau, die sich gerade erst vom Abitur abgemeldet hat, kämpft mit ihrer Vergangenheit. Nach einer Vergewaltigung durch einen Mitschüler ist sie auf der Suche nach einem Weg, mit ihrer schmerzhaften Erfahrung umzugehen. Ihre Flucht in die Kunst des Tätowierens gibt ihr Halt, und sie beginnt, nicht nur Margits Körper, sondern auch die Haut anderer Senioren mit kunstvollen Motiven zu verzieren. Sie lebt abgeschieden in einer Hütte an der Elbe, meidet Menschen, doch ihre künstlerische Auseinandersetzung mit Schmerz und Vergangenem hilft ihr, sich selbst zu finden. Hagena zeichnet Luzie dabei nicht als reines Opfer, sondern als eine ambivalente, vielschichtige Figur. Luzie leidet unter ihrer Vergangenheit, aber sie wächst auch an ihr. Ihre Entschlossenheit, sich als Tätowiererin zu etablieren, verleiht ihr eine beeindruckende innere Stärke.
Arthur, die dritte Hauptfigur, erscheint zunächst als unauffällige Randgestalt: ein Fahrer, der Senioren zu ihren Terminen bringt. Doch auch er trägt eine Geschichte mit sich, die sich erst nach und nach offenbart. Er wirkt orientierungslos, seine Lebensziele sind unklar, doch er besitzt Eigenheiten, die ihn faszinierend machen – unter anderem seine Leidenschaft für das Erfinden fiktiver Sprachen. Besonders prägend ist für ihn die Erinnerung an seinen verschwundenen Zwillingsbruder, über den er nur vage spricht. Arthur dient in "Flusslinien" nicht nur als Brücke zwischen Margit und Luzie, sondern auch als Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft. In der wachsenden Beziehung zwischen ihm und Luzie zeigt sich schließlich die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft, in der beide vielleicht aus ihrer inneren Isolation ausbrechen können.
Hagena beweist in diesem Roman ein besonderes Geschick im Umgang mit ihren Charakteren. Sie sind nicht nur tiefgründig und facettenreich, sondern entwickeln sich organisch über die Seiten hinweg. Die Art und Weise, wie sie ihre Leser an den Erinnerungen und Gedanken der Figuren teilhaben lässt, zeugt von außergewöhnlicher schriftstellerischer Raffinesse. Diese Einschübe wirken niemals deplatziert oder konstruiert, sondern fügen sich fließend in die Erzählung ein – manchmal so sanft, dass man kaum merkt, wenn die Handlung in eine Erinnerung hinübergleitet.
Trotz der schweren Themen, die "Flusslinien" behandelt, ist der Roman von einer bemerkenswerten Sanftheit geprägt. Die Sprache ist poetisch, aber nicht überladen; die Stimmung melancholisch, aber nicht erdrückend. Hagena zeigt auf beeindruckende Weise, dass die Konflikte der Vergangenheit und Gegenwart gleichermaßen drängend und individuell sind. Ihre Geschichte offenbart, dass jede Generation ihre eigenen Herausforderungen zu bewältigen hat – und dass es Wege gibt, mit diesen umzugehen.
"Flusslinien" ist somit sowohl ein Gegenwarts- als auch ein Historienroman, der sich nicht in übertriebener Dramatik verliert, sondern mit leisen Tönen überzeugt. Der Roman erinnert daran, dass Erinnerungen nie vollständig verblassen und Vergangenheit und Gegenwart auf eine gewisse Weise miteinander verbunden sind. Die Begegnungen zwischen Margit, Luzie und Arthur zeigen, wie wichtig es ist, sich anderen zu öffnen und dass aus unerwarteten Verbindungen neue Wege entstehen können.
Mit "Flusslinien", erschienen am 13. März 2025 bei Kiepenheuer & Witsch, gelingt Katharina Hagena ein bemerkenswerter deutschsprachiger Roman, der in diesem Bücherfrühling definitiv zu beachten ist.

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Veröffentlicht am 29.01.2025

Flucht aus der Abhängigkeit

Monique bricht aus
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Bereits des Öfteren hat der französische Schriftsteller Édouard Louis über seine eigene Familie geschrieben - nicht selten zum Unmut seiner Angehörigen. In seinem neuesten literarischen Werk „Monique bricht ...

Bereits des Öfteren hat der französische Schriftsteller Édouard Louis über seine eigene Familie geschrieben - nicht selten zum Unmut seiner Angehörigen. In seinem neuesten literarischen Werk „Monique bricht aus“, der am 29. Januar 2025 im S. Fischer Verlag erschienen ist, rückt er erneut seine Mutter Monique in den Mittelpunkt.
Die Geschichte beginnt mit einem Hilferuf: Monique, die Protagonistin, ruft verzweifelt ihren Sohn an. Sie hat es zwar geschafft, einer früheren unglücklichen Ehe zu entkommen, findet sich jedoch nun in einer ähnlich bedrückenden Beziehung wieder. Ihr aktueller Partner bedroht und schikaniert sie, bis das Zusammenleben für sie unerträglich wird. Gemeinsam mit ihrem Sohn entwickelt sie einen Plan, um ihrer unhaltbaren Lebenssituation zu entfliehen. Der Roman schildert, wie Monique nicht nur den Mut findet, auszuziehen, sondern sich Schritt für Schritt ein unabhängiges Leben aufbaut – zum ersten Mal überhaupt.
Louis’ Schreibstil bleibt, wie in seinen vorherigen Werken, simpel und zugänglich, aber keineswegs oberflächlich. Mit wenigen, aber präzisen Worten zeichnet er ein Porträt einer Frau, die Zeit ihres Lebens unterdrückt wurde – zuerst von einem patriarchalen Gesellschaftssystem, dann durch ihre Partner. Doch diesmal ist Moniques Geschichte keine von Resignation, sondern von Befreiung. Der Leser begleitet Monique auf einer Reise der Selbstentdeckung und Transformation, bei der sie zur Hauptfigur ihres eigenen Lebens wird. Diese Veränderung, die Louis einfühlsam und dennoch schonungslos beschreibt, verlangt dem Leser Respekt ab, während sie zugleich als Hoffnungsschimmer für andere Frauen in ähnlichen Situationen dient.
Besonders bemerkenswert ist die autobiografische Dimension des Romans. Louis greift auf reale Ereignisse aus dem Leben seiner Mutter zurück, was der Erzählung eine außergewöhnliche Authentizität verleiht. Diese intime Nähe zur Wirklichkeit macht "Monique bricht aus" zu weit mehr als einem fiktionalen Werk. Sie gibt dem Buch eine Intensität und Tiefe, die in einem rein fiktionalen Roman nur schwer zu erreichen wären. Louis’ ungeschönter Blick auf die Umstände seiner Mutter erlaubt dem Leser, die Welt durch die Augen einer Frau zu sehen, die jahrzehntelang keine Kontrolle über ihr eigenes Leben hatte.
Monique wird anfänglich als eingeschüchterte und abhängige Frau beschrieben, die kaum Hoffnung auf ein besseres Leben hat. Doch Louis zeigt mit feiner Beobachtungsgabe, wie sie langsam mutiger und selbstbestimmter wird. Monique entdeckt neue Freuden, etwa in der Freiheit, ihre eigenen Mahlzeiten zu wählen und unbekannte Gerichte zu probieren. Diese kleinen, alltäglichen Veränderungen symbolisieren ihren wachsenden Selbstwert und ihre Emanzipation. Die größte Verwandlung erlebt sie jedoch am Ende, als sie eine neue Haltung gegenüber dem literarischen Werk ihres Sohnes entwickelt – ein Zeichen dafür, dass sie nicht nur ihr Leben, sondern auch ihre Perspektive auf sich selbst und ihre Umwelt grundlegend überdacht hat.
Trotz des kompakten Umfangs von 160 Seiten gelingt es Louis, Moniques Charakter nicht nur plastisch darzustellen, sondern auch zu analysieren. Diese Darstellung wird durch seine eigene Biografie bereichert, da er seine Kindheit und Jugend mit ihr verbracht hat. Seine erwachsene Sicht auf diese Zeit ist differenziert: Neben Vorwürfen und Bitterkeit schwingt auch Verständnis mit. Dieser Umschwung in der Wahrnehmung des Autors ist ebenso faszinierend wie die Transformation seiner Mutter, und zeugt von einer emotionalen Tiefe.
Louis’ Klarheit und Schnörkellosigkeit machen "Monique bricht aus" zu einer beeindruckenden literarischen Leistung. Der Roman illustriert, wie vermeintlich kleine Schritte – gepaart mit ein wenig Unterstützung – ausreichen können, um aus einer hoffnungslosen Lage auszubrechen. Die Botschaft ist klar: Freiheit ist oft greifbarer, als man denkt, wenn man den Mut findet, sie zu ergreifen. Diese Phrase, die schnell abgedroschen wirken kann, wirkt in diesem Fall durch den biografischen Charakter der Lektüre glaubhaft und nachvollziehbar.
Zusammenfassend ist "Monique bricht aus" nicht nur eine Biografie über Édouard Louis’ Mutter, sondern auch ein universell gültiger Appell für Emanzipation und Selbstermächtigung. Louis zeigt, wie Literatur eine Brücke zwischen dem Individuellen und dem Allgemeinen schlagen kann, und beweist einmal mehr, dass die Perspektive junger Autoren eine unverzichtbare Bereicherung für die Buchwelt ist.

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Veröffentlicht am 13.01.2025

Ein leiser und sanfter Dorfroman, der auch die Härte nicht verschweigt

Im Schnee
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Mit „Im Schnee“ liefert der Autor Tommie Goerz im Piper Verlag einen schmalen Prosaband, der gleich zu Jahresbeginn einen kleinen, leisen und in vielerlei Hinsicht entschleunigten Lesegenuss bereitet. ...

Mit „Im Schnee“ liefert der Autor Tommie Goerz im Piper Verlag einen schmalen Prosaband, der gleich zu Jahresbeginn einen kleinen, leisen und in vielerlei Hinsicht entschleunigten Lesegenuss bereitet. Auf gerade einmal 134 Seiten gelingt Goerz ein Werk, das durch seine Schlichtheit und Authentizität besticht und den Leser in eine vermeintliche Idylle entführt – eine Welt abseits des Trubels und der Hektik unserer Zeit. Doch wie trügerisch dieser Eindruck ist, darüber sinniert nicht nur der Protagonist Max am Ende des Romans, sondern diese Frage drängt sich dem Leser während der Lektüre immer wieder auf.
Die Geschichte spielt in einem kleinen Dorf, dessen Name und genaue Verortung bewusst unbestimmt bleiben. Diese Anonymität verleiht dem Setting eine universelle Gültigkeit, sodass es als Symbol für viele ähnliche Orte stehen kann, die im Laufe der Zeit immer weiter in Vergessenheit geraten. Max, der Protagonist, ist ein in die Jahre gekommener Mann, der allein lebt und seine Tage meist verträumt und verschlafen verbringt. Als sein langjähriger Freund Schorsch unerwartet stirbt, wird Max aus seiner Routine gerissen. Die beiden Männer verband eine tiefe Freundschaft, geprägt von ihrer zurückgezogenen, eigenbrödlerischen Art. Schorschs Tod löst bei Max eine Flut von Erinnerungen an gemeinsame Zeiten und Erlebnisse aus, die sich mit einer gewissen Wehmut und Melancholie in sein Bewusstsein drängen.
Doch nicht nur Max, auch die anderen Dorfbewohner verbinden Erinnerungen mit Schorsch. Sein Tod wird zum Anlass, bei einer gemeinsamen Totenwache Anekdoten auszutauschen und sich der eigenen Vergangenheit zu stellen. Dabei wird die enge Verbindung zwischen der Geschichte des Dorfes und den Biografien der Bewohner offenbar. Gleichzeitig wird deutlich, wie sehr sich die Gegenwart von dieser Vergangenheit unterscheidet. Die alten Zeiten, die von den Anwesenden oft mit Wehmut betrachtet werden, waren nicht immer glücklich. Die Erlebnisse, die während der Totenwache erzählt werden, zeugen sowohl von Zusammenhalt und Gemeinschaft als auch von harten Lebensbedingungen und Grausamkeiten.
Als moderner Leser wird man unweigerlich mit der Frage konfrontiert, ob man in dieser Zeit hätte leben wollen. Die Antwort ist oft ein klares Nein, trotz des romantischen Bildes, das manchmal mit ländlichen Gemeinschaften verbunden wird. Die Dorfbewohner selbst scheinen unterschwellig zu spüren, dass ihre Vergangenheit ebenso von Schmerz und Entbehrung geprägt war wie von gemeinschaftlichem Zusammenhalt. Dennoch bleibt ihnen nichts anderes, als der verlorenen Zeit nachzutrauern und sich allmählich mit ihrem eigenen Sterben auseinanderzusetzen. Schorschs Tod wird so zu einem Symbol für den unaufhaltsamen Verfall der alten Lebensweise und den nahenden Abschied der übriggebliebenen Generation.
Max ist dabei ein vielschichtiger Charakter, dessen Tiefe erst nach und nach offenbar wird. Als einfacher Mann, der sich mit Geschick im Umgang mit Motoren durchs Leben geschlagen hat, scheint er auf den ersten Blick unspektakulär. Doch seine Genügsamkeit und seine natürliche Art zu leben – ohne Fernseher oder Radio, mit selbstgesammeltem Tee und einer gewissen Gleichgültigkeit gegenüber Besitz und Habgier – machen ihn zu einem faszinierenden Protagonisten. Diese Bescheidenheit teilt er mit den anderen Dorfbewohnern, die sich in ihrer Einfachheit deutlich von der modernen Welt unterscheiden.
Besonders raffiniert sind die wenigen Szenen, in denen die Dorfgemeinschaft durch außenstehende Figuren ergänzt wird. Ein Beispiel ist der Fotograf, der als Wanderer in die Gegend kommt. Seine Weltanschauung und Gewohnheiten unterscheiden sich stark von denen der Dorfbewohner, doch er nimmt die Welt von Max und den anderen als idyllisch wahr. Max selbst kann sich dieser Auffassung nicht anschließen – warum das so ist, erschließt sich dem Leser aus den Geschichten und Erinnerungen, die während der Totenwache geteilt werden.
Goerz gelingt es, mit wenigen, nicht einmal sonderlich brisanten Anekdoten eine sterbende Epoche zu zeichnen, die in der modernen Welt kaum noch Platz hat. Seine ruhige, entschleunigte Erzählweise und der wunderbar langsame Schreibstil laden den Leser dazu ein, in die Welt der Dorfbewohner einzutauchen. Beinahe wirkt es, als wäre man selbst Teil der Totenwache, wo mit leiser und respektvoller Stimme gesprochen wird. Die winterliche Atmosphäre des Romans – unterstrichen durch den Schnee und die Abgeschiedenheit des Dorfes – verleiht der Geschichte eine besondere Tiefe und einen melancholischen Charme, ohne jemals kitschig zu werden.
Und auch der Sprecher Thomas Loibl verleiht „Im Schnee“ mit seiner angenehm ruhigen Stimme eine besondere Note. Seine Vortragsweise bleibt durchgehend auf einem gleichmäßigen Stimmniveau, ohne viele Höhen und Tiefen, und unterstreicht so die entschleunigte Atmosphäre des Romans. Anstatt durch den Text zu eilen, gibt er den Worten und Pausen Raum, wodurch er den Hörer einlädt, sich Zeit zu nehmen und die subtilen Nuancen der Geschichte auf sich wirken zu lassen.
Auch wenn seine Lesung insgesamt gelungen ist, bleibt sie für mich persönlich hinter der Lesung von Max von Pufendorf zurück, der mit seiner Interpretation von „Der andere Name“ von Jon Fosse Maßstäbe für leise und unterschwellige Romane gesetzt hat. Allerdings bewegt sich Fosse mit seinem Werk auf einem ganz anderen literarischen Niveau, das sich nur bedingt mit „Im Schnee“ vergleichen lässt.
In seiner Gesamtheit ist „Im Schnee“ vielleicht einer der bemerkenswertesten Dorfromane der letzten Zeit. Mit ordentlicher handwerklicher Präzision und ohne viel Aufhebens erzählt Goerz von einfachen Menschen, einfachen Gemeinschaften und einfachen Themen. Gerade diese Schlichtheit macht den Roman so eindringlich und wahrhaftig.

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