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Veröffentlicht am 19.01.2018

Gesamtpaket überzeugt!

Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken
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“Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken” ist das neueste Werk des amerikanischen Bestsellerautoren John Green, der nun fünf Jahre nach dem Welterfolg “Das Schicksal ist ein mieser Verräter” endlich wieder etwas ...

“Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken” ist das neueste Werk des amerikanischen Bestsellerautoren John Green, der nun fünf Jahre nach dem Welterfolg “Das Schicksal ist ein mieser Verräter” endlich wieder etwas von sich hören lässt. In den Mittelpunkt stellt er ein psychisch krankes Mädchen und ihren turbulenten Alltag. Eine Geschichte über Gedankenspiralen, der Suche nach dem eigenen Selbst und dem unerwarteten Finden der Liebe. Ein tiefsinniges, charakterstarkes Buch, das durch Authentizität und literarischer Qualität zu überzeugen weiß. Für Jugendliche ab 14 Jahren und Erwachsene.

Indianapolis. Die 16-jährige Aza leidet unter starken Ängsten und Zwängen. Wenn sie nur an ihren Mageninhalt denkt, wird ihr ganz anders. Sie ekelt sich vor ihren eigenen Verdauungsvorgängen und versucht sich beim Essen lieber keine Gedanken über die Prozesse zu machen, die in ihrem Körper ablaufen. “An der Anzahl der Zellen gemessen besteht der Mensch zu über 50 Prozent aus Bakterien, was bedeutet, dass die Hälfte der Zellen, die zu uns gehören, gar nicht unsere sind. […] ich bilde mir häufig ein, ich kann spüren, wie sie in und auf mir leben, sich fortpflanzen und sterben.” (Zitat S.9 aus “Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken”) Immer wieder liest Aza fachspezifische Wikipedia-Einträge und hat panische Angst davor eineInfektion mit dem Bakterium Clostridium difficile zu bekommen, die meist tödlich verläuft. Ein seltsames Magengrummeln könnte da schon den baldigen Niedergang bedeuten. Daher kann es auch mal vorkommen, dass sie inmitten einem Pausentreffen (unter anderem mit ihrer besten Freundin Daisy) den Gesprächen am Tisch nicht mehr ganz folgen kann und sich im Netz vergewissern muss, ob sie Anzeichen dieser schlimmen Infektion aufweist. Außerdem hat sie noch einen ganz anderen außergewöhnlichen Tick: “Seit ich klein bin, habe ich die Angewohnheit, mir den rechten Daumennagel in die Kuppe des rechten Mittelfingers zu bohren, sodass mein Fingerabdruck inzwischen eine Schwiele hat. Nach all den Jahren lässt sich die Hautstelle mühelos aufkratzen, weswegen ich immer ein Pflaster darüber klebe, damit sich die Wunde nicht entzündet. Aber manchmal fange ich an, mir einzubilden, dass die Wunde vielleicht schon entzündet ist und dass ich sie unbedingt reinigen muss, und der einzige Weg, die Wunde zu reinigen, ist sie wieder zu öffnen, und das Blut herauszudrücken, falls welches kommt.” (Zitat S.11) Aza ist in therapeutischer Behandlung und muss regelmäßig Medikamente nehmen. Doch irgendwie verbessert sich ihr Zustand nicht. Dann verschwindet auf einmal ein vermögender Vorstandsvorsitzender, der wegen Korruption verhaftet werden soll und Davis, der Sohn dieses Mannes, taucht wieder in Azas Leben auf. Denn Daisy will den zur Fahndung Ausgeschriebenen unbedingt finden und die Belohnung von 100.000 Dollar kassieren und da Aza Davis früher einmal sehr gut kannte, will ihre beste Freundin, dass sie wieder Kontakt miteinander aufnehmen. Unerwartet kommt Aza Davis näher. Aber wenn man unter Zwängen und Ängsten leidet, ist Verlieben nicht gerade die einfachste Sache der Welt…

“Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken” wartet mit einem diesmal nicht dunkelblau gestalteten Cover auf — so wie die Vorgängertitel, die seit dem Erfolg von “Das Schicksal ist ein mieser Verräter” neu und einheitlich dunkelblau aufgelegt wurden — sondern mit einem hellblauen. Doch: für alle, die es farblich etwas kräftiger mögen, es gibt auf der Rückseite des Schutzumschlags ein Wendecover mit einem leicht lila-bläulichen Hintergrund (der mir persönlich etwas besser gefällt). Der orangefarbene Schnitt dazu — sehr schön gemacht. Der Roman wird durchgehend aus Azas Sicht in der Ich-Perspektive erzählt und macht bereits zu Beginn klar, dass John Green eine ganz außergewöhnliche Figur erschaffen hat. Eine Protagonistin, die glaubt nicht “echt” zu sein und nur das Opfer ihrer Umstände und Gedanken: “Ich beschließe in diesem Moment, zum Mittagessen zu gehen, denkst du, wenn um 12 Uhr 37 das monotone Schrillen von oben klingt. Dabei entscheidet eigentlich die Glocke. Du hältst dich für den Künstler, aber du bist die Leinwand.” (Zitat S.7) Azas Art, sich über diese Abhängigkeit von der Außenwelt, aber vor allem über ihre Zwangsneurosen, Gedanken zu machen, verleihen dem Roman eine überraschend philosophische und tiefgründige Note, denn in nur sehr wenigen Jugendbüchern werden solch grundlegende, existentielle Fragen gestellt: “…gibt es überhaupt ein Selbst, unabhängig von den Umständen? Ist da ein tieferes Ich, das die echte wahre Person ist […]?” Denn wenn Aza plötzlich anfängt zu schwitzen, und dann an gar nichts anderes mehr denken kann, als an das (ihr unangenehme) Schwitzen, und dadurch nur noch mehr schwitzt, dann ist sie nicht mehr Herr über sich selbst. “Und wenn du nicht steuern kannst, was du denkst oder tust, vielleicht gibt es dich dann gar nicht wirklich […]? Vielleicht bin ich bloß eine Lüge, die ich mir selbst einflüstere.” (Zitat S.107) Darum kneift sie sich auch immer wieder in ihre Fingerkuppe, um sich davon zu überzeugen, dass es sie wirklich gibt. Denn als Kind hat ihre Mutter ihr einmal erklärt, dass sie sich einfach zwicken könne, um festzustellen, ob sie wach sei oder ob sie träume. Wenn sie den Schmerz spürt, dann muss es “echt” sein. Besonders ihre Gedankengänge, die sich kreisen und wie eine Spirale immer wieder verengen, hat John Green meisterhaft getroffen: “Ich glaube nicht, dass du es gewechselt hast. Ich glaube, das ist noch das Pflaster von gestern Abend. Nein, von gestern Abend kann es nicht sein, weil ich es auf jeden Fall nach dem Mittagessen gewechselt habe. Wirklich? Ich glaube schon. Du GLAUBST? Ich bin mir sicher. Aber die Wunde nässt. Was stimmte. Sie war noch nicht verheilt. Und du trägst dasselbe Pflaster seit — o Gott — wahrscheinlich über 37 Stunden und lässt die Wunde in diesem warmen, feuchten Pflaster vor sich hin eitern. Ich warf einen Blick auf das Pflaster. Es sah neu aus. Du hast es nicht gewechselt. Doch, ich glaube schon. Bist du dir sicher?” (Zitat S.129) Während die Protagonistin zu Beginn aufgrund ihrer Ticks und Rituale fast ein wenig abstoßend wirkt, wächst einem das Mädchen nach und nach beim Lesen wirklich ans Herz. Man spürt ihre Verzweiflung und ihre Ablehnung sich selbst gegenüber so deutlich und intensiv, dass ihr Leid wirklich greifbar scheint. Den Charakter einer Außenseiterin so glaubwürdig, so komplex und ihre Hilflosigkeit so überdeutlich zu skizzieren, darin hat der Autor sich wirklich selbst übertroffen: “Ich spürte, wie ich den Halt verlor, aber selbst das ist eine Metapher. Spürte, wie ich fiel, auch das ist eine. Kann das Gefühl nicht beschreiben, kann nur sagen, ich bin nicht ich. Geschmiedet auf dem Amboss einer anderen Seele. Bitte lass mich hier raus. Wer immer mich erfunden hat, lass mich hier raus. Alles, um hier rauszukommen.” (Zitat S.209) Der Roman ist ergreifend, mitreißend, schmerzvoll und zugleich voller Hoffnung. Mit tollen Nebencharakteren, einer teils anspruchsvolleren Sprache (lange, verschachtelte Sätze) und manch klugen Worten, die man sich am liebsten unterstreichen möchte: “In die Augen kann man jedem sehen. Aber jemand zu finden, der dieselbe Welt sieht, ist ziemlich selten.” (Zitat S.14) und “Das wahre Grauen ist nicht Angst zu haben; es ist keine andere Wahl zu haben.” (Zitat S.27) Und auch, wenn ich zu Beginn einzelne Stellen manchmal etwas zu ausgeschmückt fand (Gespräche über Fanfiction & Star Wars), gebe ich dem Buch dennoch die volle Punktzahl, da es in seinem Gesamtpaket einfach überzeugt und definitiv gelesen werden sollte!

Veröffentlicht am 20.12.2017

Geniales Buch - eins meiner Jahreshighlights!

Wunder
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Die amerikanische Autorin Raquel J. Palacio hat “Wunder” geschrieben und damit ihren Lesern ebenfalls ein enormes Lese-“wunder” beschert: Ein anrührendes, außergewöhnliches Buch über innere Schönheit und ...

Die amerikanische Autorin Raquel J. Palacio hat “Wunder” geschrieben und damit ihren Lesern ebenfalls ein enormes Lese-“wunder” beschert: Ein anrührendes, außergewöhnliches Buch über innere Schönheit und Freundschaft. Ein Plädoyer für mehr Menschlichkeit, Toleranz und Herzenswärme. Lesetipp für Erwachsene, Jugendliche und Kinder ab 10 Jahren. Herausragend!!

August ist anders als andere Kinder. Durch einen äußerst, äußerst seltenen Genfehler hat er seit Geburt ein Gesicht, das sehr deformiert ist. Seine Augen sitzen etwas tiefer, ungefähr auf Wangenhöhe, seine Ohren haben die Form kleiner Blumenkohlröschen und ein Kinn hat er erst durch eine Operation erhalten. Bisher ist August nur zu Hause von seiner Mutter unterrichtet worden, doch nun — im Alter von 10 Jahren — darf er das erste Mal in die Schule gehen. Bei einer privaten Führung während der Ferien, zu der sich neben dem Direktor auch ein paar andere Schüler bereit erklärt haben, bekommt August die Schule gezeigt. Natürlich beginnt der erste Schultag mit Getuschel und vielen Blicken in seine Richtung, doch August findet zwei Freunde: Summer und Jack, die ihn so mögen und akzeptieren wie er ist. Doch dann belauscht August eines Tages ein Gespräch zwischen Jack und seinen Klassenkameraden, die ihn immer ärgern, und er erfährt etwas, das so für seine Ohren eigentlich nicht bestimmt war…

Ein bemerkenswertes Buch! Es gewinnt auch besonders dadurch an Tiefe, dass die Perspektive der Geschichte nach einer Weile wechselt. So kommen neben August, auch seine Schwester Vio und andere Figuren zu Wort. Toll ist hierbei auch, dass es sich zunächst scheinbar um Randfiguren handelt, die im Laufe des Buches dann eine größere Rolle spielen. Deren Sicht zu erleben, eröffnet dem Leser viel mehr Möglichkeiten sich intensiv in die Geschichte einzufühlen. August selbst ist so ein liebenswerter Junge, mit so einem großen Herz und will eigentlich nur eines: gemocht werden, so wie er ist. Wie ihm das gelingt und sich am Ende des Romans sogar all seine Mitschüler für ihn einsetzen — das muss man einfach gelesen haben! Dieses Buch ist ein Highlight unter den Frühjahrsnovitäten und hinterlässt einfach ein gutes Gefühl im Bauch und das Vertrauen auf eine gerechte, schönere Welt. Grandios!! Ich wünsche diesem Titel ganz, ganz viele Leser!

Übrigens: 2014 hat “Wunder” den Deutschen Jugendliteraturpreis erhalten, gewählt von den Jugendlichen selbst!!

Veröffentlicht am 20.12.2017

Zum Abtauchen, Mitfiebern und Mitfühlen

Die längste Nacht
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“Die längste Nacht” von der deutschen Autorin Isabel Abedi ist eines der Buchereignisse des Frühjahrs 2016! Neun Jahre ist es her, dass die Autorin ein Jugendbuch veröffentlich hat. Nun gibt es ENDLICH ...

“Die längste Nacht” von der deutschen Autorin Isabel Abedi ist eines der Buchereignisse des Frühjahrs 2016! Neun Jahre ist es her, dass die Autorin ein Jugendbuch veröffentlich hat. Nun gibt es ENDLICH wieder neues Lesefutter. Darauf haben viele gewartet: Eine Geschichte über ein geheimnisvolles Manuskript, über eine Reise in die Vergangenheit und die einer großen Liebe. Fesselnd. Atmosphärisch. Brillant. Von einer Meisterin des Erzählens. Für Jugendliche ab 14 Jahren und Erwachsene.

Die 17-jährige Viktoria, genannt Vita, entflieht ihrem Elternhaus für ganze neun Monate. Ihrem Vater, seines Zeichens Verleger und einem intellektuellen Mann und ihrer Mutter, die in ihrer ganz eigenen strukturierten, gefühlserkalteten Welt lebt, in die sie sich seit dem Tod von Vitas älteren Schwester zurückgezogen hat. Nicht einmal richtig verabschiedet hat sie sich von ihrer Tochter: “Anstatt mich anzusehen, starrte meine Mutter auf die Asche meiner toten Schwester, und dieser Anblick war so grauenhaft, dass ich schreien wollte. Aber es kam kein Laut aus meiner Kehle, wie immer, wenn es um meine Schwester ging. Stumm machte ich einen Schritt auf meine Mutter zu, es war nur eine winzige Bewegung, die mich eine ungeheure Kraft kostete. Doch meine Mutter erhob die Hand, fast panisch, als sei ihr ein wildes Tier auf den Fersen, und noch immer, ohne sich zu mir umzudrehen.” (Zitat aus “Die längste Nacht” S.37) Doch nun ist Vita auf Europa-Reise. Mit ihren besten Freunden, die zugleich ein Paar sind: Trixie und Danilo. Gerade haben sie das Abitur bestanden und jetzt fahren sie mit ihrem VW-Bus Richtung Italien. Jetzt kann Vita erst einmal vergessen. Wie seltsam ihr Vater in der letzten Zeit war, als sie ihn eines Nachts beim Lesen eines Manuskripts in seinem Arbeitszimmer überraschte und er sie aus diesem ohne weitere Erklärungen hinausschmiss. Was hat ihn an diesem Papieren so aufgewühlt? Zufällig hat Vita vor ihrer Abreise herausgefunden, dass das noch unvollendete Manuskript von dem Bestsellerautor Sol Shepard stammt. Der normalerweise ganz andere Geschichten erzählt. “Der Roman soll weltweit erscheinen und wurde jetzt auch uns angeboten. Die Namen sind alle geändert, aber dass es die Geschichte aus Viagello ist, scheint mir unmissverständlich. Wie sehr ich mir wünsche, dass ich mich irre.” (Zitat S.18) Dieses Schreiben von einem befreundeten Lektor lag dem Manuskript bei, das Vita in seinem Arbeitszimmer entdeckte. Es gelang ihr sogar ein paar Zeilen des Werks zu lesen, die sie seltsam berührten. Umso überraschter ist sie nun auf ihrer Tour durch Europa in der Nähe eines Klosters, das Danilo unbedingt besuchen möchte, auf der Landkarte das Städtchen Viagello zu entdecken. Vita, die ihren Freunden von dem Roman von Sol Shepard erzählt hat, beschließt einen kurzen Abstecher dorthin zu machen. Dort Isabel Abedi Die längste Nachtlernt sie zufällig Luca kennen, der über den Häuser auf einem Seil balanciert. Er lädt sie ein, ihren VW-Bus auf seinem Grundstück abzustellen, auf dem er in einem Bauwagen nahe des Grundstücks seiner Eltern lebt. Eine seltsame Anziehungskraft geht von ihm aus. Doch ein Abendessen bei Lucas Eltern ändert alles, als Vita erzählt, wer ihr Vater ist. “Nein”, hörte ich Antonio [Lucas Vater] sagen mit einer Stimme, die so schneidend kalt war, dass meine Eingeweide gefroren. […] “Sag, dass das nicht wahr ist!”, schrie er mir ins Gesicht. “Du würdest das nicht tun. Nicht auf diese Weise. Nicht nach all den Jahren. Sag, dass du es nicht bist!” (Zitat S.121). Völlig verstört kann Vita nur das Weite suchen. War sie früher tatsächlich einmal in Viagello, wie Lucas älterer Bruder behauptet? Warum haben ihre Eltern ihr nie davon erzählt? Und was verdammt noch mal ist damals geschehen, das man ihr nun mit solch einer Feindseligkeit begegnet?

Isabel Abedi ist einfach — und das möchte ich meiner Rezension nun nochmals vorne heranstellen — eine begnadete Erzählerin. Sie spinnt ihre Geschichte mit einer geradezu magischen Fabulierkunst und zieht ihre Leser schnell in einen Sog. Vor allem Italien und das kleine, fiktive Städtchen Viagello bringt sie einem in atmosphärischen Beschreibungen so nahe, dass man tatsächlich ein wenig Reisesehnsucht entwickelt. Der Roman wird fast durchgehend aus Vitas Perspektive geschildert. Vita, die die Geschichte mit vielen Andeutungen vor allem für ihre Schwester erzählt: “Ich bin keine Schriftstellerin […] ich will nur meine Geschichte erzählen — aus meiner Perspektive, meinem Blickwinkel. Ich will die Wahrheit erzählen, sie loswerden und gleichzeitig festhalten, auch für meinen Schwester. Ja, vielleicht schreibe ich all das vor allem für Livia…” (Zitat S.9ff) Man kann sich in Vita — in ihre Gedanken- und Gefühlswelt — sehr gut hineinversetzen. Sie ist ein sehr sympathischer Charakter. Ein paar merkwürdige Begebenheiten lassen den Leser bereits zu Anfang munter mit rätseln. Warum hat Vita Angst vor allem, was fällt? “Ich selbst hatte kein Problem damit, auf Leitern oder Gerüste zu klettern, aber einen anderen Menschen vom Zehnmeterbrett springen zu sehen, konnte einen Asthmaanfall bei mir auslösen, und wenn ein reifer Apfel vom Baum plumpste, schnürte sich meine Kehle zu.” (Zitat S.9). Und warum träumt sie immer wieder von einem Mädchen ohne Mund, das in einem Brunnenschacht feststeckt? Viele kleine Details — auch die zwischen eingeschobenen Bemerkungen des Autoren des Manuskripts — lassen die Geschichte sehr geheimnisvoll erscheinen und drängen danach endlich zu erfahren, was in jener längsten Nacht damals geschehen ist. Diese Frage hält die Spannung in dem Buch aufrecht und lässt einen geradezu über die Seiten des immerhin 408-Seiten-dicken Schmökers fliegen. Dazu die sich langsam anbahnende Liebesgeschichte zwischen Vita und Luca — ein wahres Lesevergnügen! Sehr gut gefallen hat mir auch das filigran gestalte Cover, selbst der Bucheinband unter dem Schutzumschlag (mit dem ausgestanzten Gesicht) ist ein Hingucker. Auch wenn das Cover in seiner Gestaltung von den anderen vorhergehenden Romanen etwas abweicht, muss ich trotzdem sagen — lieber Arena-Verlag, da habt ihr euch echt etwas Schönes einfallen lassen Das Ende des Buches: ein dramatischer Paukenschlag!

Fazit: Eine Roman zum Abtauchen, Mitfiebern, Mitfühlen — ganz große Klasse! Am besten eine “lange Nacht” dafür reservieren.

Veröffentlicht am 20.12.2017

Jahreshighlight!

Was fehlt, wenn ich verschwunden bin
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Ein zutiefst ergreifendes Buch und zugleich ihr erstes Jugendbuch hat die deutsche Autorin Lilly Lindner geschrieben: “Was fehlt, wenn ich verschwunden bin”. Über die Beziehung zweier Schwestern, die einander ...

Ein zutiefst ergreifendes Buch und zugleich ihr erstes Jugendbuch hat die deutsche Autorin Lilly Lindner geschrieben: “Was fehlt, wenn ich verschwunden bin”. Über die Beziehung zweier Schwestern, die einander alles bedeuten, über die Geschichte einer Magersucht, über Wortgewandheit und Klugheit und über die Sehnsucht verstanden zu werden. Traurig und humorvoll zugleich. Mit Tiefgang und einer Sprache, die so außergewöhnlich schön ist, dass man sich am liebsten die Sätze seitenweise bunt anmalen möchte. Ein Leseerlebnis, das sich denfinitv lohnt! Nicht nur für Jugendliche ab 13 Jahren, sondern auch für Erwachsene.

Berlin. Phobe ist neun Jahre alt. In ihrer Familie ist nichts mehr so wie es war. Denn ihre große Schwester April ist nicht mehr da. Die 16-jährige ist in einer Klinik wegen Magersucht, wobei Phobe noch nicht so ganz verstehen kann, was genau das ist. Aber eines weiß sie: sie vermisst ihre Schwester ganz schrecklich! “Meine liebe, liebe April — wenn du nur bald gesund wirst und endlich wieder bei uns bist. Ohne dich sind wir nämlich nicht ganz. […] Eine halbe Mama. Ein halber Papa. Und nur noch ein kleines Stück ich. Ohne dich bin ich nämlich nicht einmal halb.” (Zitat aus “Was fehlt, wenn ich verschwunden bin”, S. 38). Und deshalb schreibt Phoebe ihrer Schwester mit größtem EiferBriefe. Monatelang. Ohne jemals eine Antwort zu bekommen. Sie erzählt von ihrem Schulalltag, von ihren Eltern, die so traurig und voller Sorgen sind. Auch dass sie manchmal von zu Hause weggeht. Um einfach mit dem Bus durch die Stadt zu fahren oder an Orte zu gehen, die sie an April erinnern. Mit ihrer Wortklugheit begegnet sie ihren überforderten Eltern: “Also habe ich Papa versprochen, dass ich nicht mehr weglaufe. Dabei war ich gar nicht verschwunden. Ich wusste schließlich die ganze Zeit über, wo ich war. Und wenn man weiß, wo man ist, dann ist man da und nicht weg.” (S. 71) Manchmal sucht sie Aprils Nähe auch in deren Zimmer. Sie legt sich in deren Bett und macht dabei auch nichts unordentlich. Sogar ihr aktuelles Lieblingsbonbon schickt sie ihrer Schwester per Post mit. Auch wenn sie es jetzt vielleicht nicht essen kann, es wäre ja lange haltbar. Doch dann vergeht der Sommer und es kommt der Winter…

Lilly Lindner ist ein sprachliches Phänomen! Sie schreibt mit einer Wortgewalt, über die man nur staunen kann. Wobei sie in ihrem jetzigen Buch ein wenig sanfter wirkt und sie geradezu behutsam mit ihren Figuren umzugehen weiß. Mit Phoebe hat sie einen ganz besonderen Charakter geschaffen. Ein Mädchen, das mit so klarer Logik zu reden weiß und von solch kindlicher Klugheit erfüllt ist: “Wir haben uns Sorgen gemacht!”, hat Mama geschimpft. “Ihr seid erwachsen”, hast du gesagt. “Das gehört dazu.” “Was?”, hat Papa gefragt. “Na, hast du schon einmal einen Erwachsenen ohne Sorgen getroffen?”, hast du zurückgefragt, “Ich glaube nicht, dass es so etwas gibt”. (S.258)
Phoebe plappert am liebsten ohne Unterlass. Und wenn ihr Vater sie einmal bittet, doch wenigstens mal fünf Minuten still zu sein, so kann sie ihm sogar ihre Gefühl, durch seine Worten verletzt worden zu sein, ganz deutlich sagen: “Da habe ich zu Papa gesagt, dass er seine Worte etwas sorgfältiger wählen muss, weil ich eine Tochter bin und kein Sohn, obwohl wir mittlerweile manchmal in den Park gehen zum Fußballspielen, und dass Töchter nun mal sensibler sind als Söhne.” (S. 26) Und ihr Vater entschuldigt sich sogar anschließend bei ihr. Doch so sehr Phoebe mit Worten auch umzugehen weiß, in ihrer Umgebung hat sie es damit nicht immer leicht. In der Schule muss sie ihre Sätze ständig erklären und auch ihre Eltern flüchten oft vor ihrer gewieften Logik. Doch Phoebe weiß auch um die Wichtigkeit des Schweigens: “Denn egal, wie viele Worte es gibt, und egal, wie anmutig man sie benutzen kann, es gibt Momente, da muss man sein Glück für sich behalten, damit die Worte den Klang der wundersamen Stille nicht zerstören. Glück braucht keine Worte. Glück hört man auch so.” (S.162/163)
Sehr viel geschwiegen hat auch Phoebes Schwester. Zum Schluss hat sie einfach aufgehört mit ihren Eltern zu sprechen. Warum, das erfährt man im zweiten Teil von “Was fehlt, wenn ich verschwunden bin”. Dieser wird ebenfalls in aneinandergereiten Briefen aus Aprils Sicht erzählt: “Ich war neun Jahre alt, so alt wie du jetzt bist, als ich meine Stimme aufgegeben habe. Mama hat damals zu mir gesagt: “Verdammt, April! Kannst du nicht einmal fünf Minuten lang wie ein ganz normales Kind sein?” Und Papa hat hinzugefügt: “Du bist ein Wortungeheuer.” (S. 216) Dieser Zeitraum makierte auch den Beginn von Aprils Krankheit. Ihrem Wunsch sich aufzulösen. Ihre Eltern konnten mit ihr nie etwas anfangen. Sie haben sie nie wirklich gesehen. Das liest sich sehr, sehr traurig. Deshalb ist es nun April, die ihrer Schwester Mut macht, ihre Worte nie zu verlieren. Um gehört zu werden. Und nicht unterzugehen in dieser Welt. So wie sie.
Phoebe nun noch einmal aus der Perspektive von April zu erleben, macht einen ganz besonderen Reiz der Geschichte aus und gibt dem Leser noch mehr Möglichkeit dieses bezaubernde Mädchen kennenzulernen. Ein Mädchen, das ihren selbst gebauten Schneemann mit einem Schlitten durch die Gegend zieht und ihn später dann in der Tiefkühltruhe vor dem Auftauen retten will. Ein Mädchen, das sich in einer Decke einwickelt und sich wieder daraus entfaltet, um “sich zu entfalten” (worüber ihr Vater nur den Kopf schüttelt).
Dem Leser wird nun aber auch erklärt, warum April ihrer Schwester nicht geantwortet hat. Warum sie ihre Briefe niemals abgeschickt hat. Und was danach geschah, als der Winter kam… Auch die Beziehung der Schwestern wird mehr als deutlich dargestellt: “Ich liebe dich, Phoebe. Du bist nicht einfach nur meine kleine Schwester. Du bist mein Leben.” (S. 260)

Fazit: Poetisch, kraftvoll, amüsant und gefühlvoll! Dieses Buch wird jetzt schon definitiv eines meiner Jahreshighlights bleiben!

Veröffentlicht am 18.12.2017

Überraschendes Ende

Du neben mir und zwischen uns die ganze Welt
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“Du neben mir und zwischen uns die ganze Welt” von der amerikanischen Autorin Nicola Yoon läuft bald im Kino an und ist passend dazu jetzt als Taschenbuch erschienen. Ein Roman über eine seltene Immunkrankheit, ...

“Du neben mir und zwischen uns die ganze Welt” von der amerikanischen Autorin Nicola Yoon läuft bald im Kino an und ist passend dazu jetzt als Taschenbuch erschienen. Ein Roman über eine seltene Immunkrankheit, durch die ein junges Mädchen ihr Leben lang ihr Haus nicht verlassen hat und eine unerwartete Liebe. Gefühlvoll, romantisch, humorvoll — angereichert mit einem Sammelsurium an Notizen und Zeichnungen. Dieses Buch kann sich definitiv sehen lassen, sowohl optisch (bezieht sich auf die Hardcover-Ausgabe, siehe unten), als auch inhaltlich! Für Jugendliche ab 13 Jahren.

Seit 17 Jahren hat Madeline ihr Haus nicht verlassen. Jetzt hat sie gerade ihren 18.Geburtstag gemeinsam mit ihrer Mutter und mit Carla, ihrer persönlichen Vollzeitkrankenschwester, gefeiert. Das Mädchen leidet unter einer äußerst seltenen Immunkrankheit: “Im Grunde bin ich allergisch gegen die Welt. Alles kann einen Anfall auslösen. Es könnten die Chemikalien im Putzmittel sein, mit dem der Tisch abgewischt wurde, den ich gerade berührt habe. Es könnte das Parfüm von irgendwem sein. Oder das exotische Gewürz in meinem Essen. […] Meine Mom sagt, dass ich als Kleinkind ein paarmal beinahe gestorben wäre.” (Zitat aus “Du neben mir und zwischen uns die ganze Welt”, S.12) Menschen sieht sie so gut wie nie. Sie wird per Internet unterrichtet. Nur sehr selten kommt ein Lehrer zu ihr ins Haus. Denn jeder, der hinein will, muss durch eine Sicherheitsschleuse und sich dekontaminieren lassen. Fremde müssen ihre Krankheitsgeschichte Nicola Yoon - Du neben mir und zwischen uns die ganze Weltoffen legen, um eventuelle Gefahren für Madeline vorauszusehen. So ist es auch kein Wunder, dass ihre Mutter selbst den als Höflichkeitsgeschenk abgegebenen Kugelhupf der neuen Nachbarsfamilie ablehnt, den der Sohn der Familie Olly und seine Schwester Kate vorbeibringen. Doch der äußerst gut aussehenden Nachbarsjunge, der Madeline am Fenster entdeckt hat, fragt nach ihr. Ob sie ihnen nicht die Gegend zeigen könne. Madelines Mutter wimmelt ihn ab. Doch Olly lässt nicht locker und inszeniert eine aufwendige Kugelhupf-begeht-Selbstmord-in-dem-er-sich-aus-dem-Fenster-stürzt-Szene, die Madeline doch tatsächlich zum Lachen bringt. Das, obwohl sie gar nicht weiß, ob sie näheren Kontakt zu diesem Jungen haben möchte. Der Junge, der seine Emailadresse bald darauf gegen sein Fenster hält, das ihrem gegenüber liegt. Denn schon einmal ist eine Familie nebenan eingezogen, die Madeline fast das Herz brach, als sie wieder umzog. Die Sehnsucht nach draußen zieht Madeline erneut in ihren Bann. Der Hunger nach Leben. Nach dem echten, pulsierenden, aufregenden Leben… doch wie weit kann sie gehen?

“Du neben mir und zwischen uns die ganze Welt” wird durchgängig aus Madelines Sicht erzählt. Schon der erste Satz des Buches macht neugierig: “Ich habe viel mehr Bücher gelesen als du. Es spielt keine Rolle, wie viele du gelesen hast. Bei mir sind es mehr. Glaub mir. Ich hatte genügend Zeit dazu.” (Zitat S.9). Sehr gut kann man sich in ihre Welt hineinfühlen, in ihr weißes Zimmer mit den weißen Wänden und weißen Bücherregalen, in denen nur ihre Bücher “die einzigen Farbtupfer” (Zitat S.9) sind. Bunt sind in ihrem eintönigen, sich unablässig wiederholenden Alltagsleben nur die Bücher und die Filme, die sie sieht. Die ihr einen Hauch von dem vermitteln, was draußen ist. In der “echten” Welt. Als sie Olly näher kennenlernt, kommt noch mehr Farbe in ihr Leben und das Nicola Yoon - Du neben mir und zwischen uns die ganze WeltGefühl definitiv etwas verpasst zu haben. Doch was ist besser? Eine Ahnung davon zu bekommen, was einem bisher entgangen ist und dann so weiterleben wie bisher oder am besten gar nichts von den ungeahnten Möglichkeiten wissen? Der Roman macht nachdenklich und bringt den Leser dazu sein Leben bewusster zu erleben, anstatt alles für selbstverständlich zu erachten. Was mir in “Du neben mir und zwischen uns die ganze Welt” auch gut gefallen hat, sind die Zeichnungen, die sich in den Text einfügen, die Ausschnitte von Krankenblätter, die Definitionen von Wörtern, die Madeline auf ihre Art beschreibt, die Chats und Emails. Man darf sich auf eine Menge Vielseitigkeit freuen, sogar Nachbarbeobachtungsbögen und zeichnerisch festgehaltene Kussanalyseprojekte finden sich in dem Buch. Teils recht kurze Kapitel sorgen für einen sehr angenehmen Lesefluss und abwechslungsreiche Unterhaltung. Die Liebesgeschichte, besonders die Annäherung der beiden Protagonisten wird sehr behutsam und sensibel erzählt: “Er schmeckt nach salzigem Karamell und Sonnenschein. Oder zumindest, wie ich mir salziges Karamell und Sonnenschein vorstelle. Er schmeckt nach Dingen, die ich noch nie erlebt habe, wie Hoffnung und Möglichkeiten und Zukunft. Diesmal bin ich es, die sich als Erste zurückzieht, aber nur, weil ich Luft holen muss […] “Ist das immer so?”, frage ich atemlos. “Nein”, sagte er. “So ist es nie.” Ich höre das Staunen in seiner Stimme. Und mit einem Mal ändert sich alles, einfach so.” (Zitat S. 1544). Höchst dramatisch und geradezu herzzerreißend wird es, als Madelines Mutter hinter die von Carla eingefädelten, heimlichen Besuche von Olly kommt und diese beendet. Man möchte das Buch kaum aus den Händen legen, so ergreifend ist die Geschichte geschrieben! Neben Madelines unheilvoller Krankheit kommt jedoch auch das Thema Alkoholismus und Gewalt in der Familie zum Tragen, welches die Ehe von Ollys Eltern prägt. Das Ende überrascht und passt (auch wenn ich damit irgendwie schon ein wenig gerechnet habe).