Gespenster der Vergangenheit - eine eindringliche Familiengeschichte
Portrait meiner Mutter mit GeisternMEINE MEINUNG
In ihrem neuen Roman „Portrait meiner Mutter mit Geistern“ erzählt Rabea Edel eine hochkomplexe und sehr bewegende Familiengeschichte, die sich über vier Generationen von Frauen erstreckt ...
MEINE MEINUNG
In ihrem neuen Roman „Portrait meiner Mutter mit Geistern“ erzählt Rabea Edel eine hochkomplexe und sehr bewegende Familiengeschichte, die sich über vier Generationen von Frauen erstreckt und in einem Zeitraum von vor dem Zweiten Weltkrieg bis in die Gegenwart spielt.
Edel erkundet eindringlich, wie die Schicksale der Frauen durch die vielschichtigen psychologischen Auswirkungen von Verlusten, Flucht, Kriegserfahrungen, gesellschaftlicher Zwänge und weiblichem Überlebenswillen sowie kollektiver Traumata geprägt wurden. Eindrucksvoll zeigt sie auf, wie ein fatales Geflecht aus Schweigen, verdrängten Erinnerungen und unsichtbaren Narben die labilen Familiendynamiken beeinflusst und unausgesprochene Traumata über mehrere Generationen weitergereicht werden. Jede dieser verschiedenen Frauenfiguren steht mit all ihren Verletzlichkeiten, belastenden Erlebnissen aber auch Stärken zugleich für eine bestimmte historische Epoche und die damalige Gesellschaft.
Die Handlung ist nicht linear erzählt, sondern wechselt zwischen verschiedenen Zeitebenen und Erzählperspektiven. Im Mittelpunkt der Geschichte steht die junge Protagonistin Raisa, die versucht das hartnäckige Schweigen ihrer Mutter Martha über ihre unerzählte Vergangenheit zu durchbrechen und die vielen Familiengeheimnisse zu ergründen. Vor allem sucht Raisa nach Antworten über ihren Vater, der eine unerklärliche Leerstelle in ihrem Leben bleibt, und ihre eigene Herkunft.
Neben den Perspektiven von Raisa, ihrer Mutter Martha, ihrer Großmutter Selma und der Urgroßmutter Dina gibt es auch einen weiteren Handlungsstrang mit Jakob, einem Jugendfreund von Selma, der im Jahr 2014 in New York versucht seine Lebenserinnerungen endlich aufzuschreiben, um so das quälende, lebenslange Schweigen zu brechen.
Die hochkomplexe, fragmentarische Erzählweise führt oftmals zu Verwirrung und erfordert beim Lesen höchste Aufmerksamkeit.
Statt ausführlicher Beschreibungen konfrontiert die Autorin uns neben zahlreichen Zeitsprüngen mit schlaglichtartigen Episoden und vielen Leerstellen, so dass wir stets herausgefordert werden, selbst Verbindungen herzustellen und zwischen den Zeilen zu lesen. Auch Emotionen werden eher angedeutet als explizit beschrieben, wodurch eine gewisse Distanz zu den Figuren entsteht und Raum für eigene Interpretationen lässt.
Als äußerst hilfreiches Orientierungsmittel findet sich auf den Vorsatzseiten ein Familienstammbaum, so dass man das kaleidoskopische Figurenensemble besser zuordnen kann.
Geschickt wechselt Edels Schreibstil zwischen gelungener poetischer Verdichtung, nüchternen Passagen und beklemmender Sprachlosigkeit.
Edel macht in ihrem Roman auf beeindruckende Weise deutlich, wie sehr persönliche Biografien mit dem zeitgeschichtlichen Kontext – insbesondere dem 2. Weltkrieg und der Nachkriegszeit - verwoben sind, aber auch wie sich intergenerationale Muster durch die gesamte Familiengeschichte ziehen und schließlich durchbrochen werden können. Sie zeigt eindrucksvoll auf, wie die Sprachlosigkeit als Überlebensstrategie und Schutz innerhalb Raisas Familie nicht nur persönliche Beziehungen belastet, sondern auch die eigene Gesundung und Selbstfindung behindert.
Die verwobenen Schicksale von Dina, Selma, Martha und Raisa bilden ein faszinierendes Puzzle, bei dem sich wiederholende Muster wie verstorbene Babies oder abwesende Väter als traumatisches Erbe durch die Generationen ziehen. Sie vermittelt eindrücklich, wie schwer es ist, Wahrheiten zu tragen, die nie ausgesprochen wurden und generationenübergreifende Ängste endlich zu artikulieren. Nach und nach entblättert sie geschickt die Ambivalenz der familiären Narrative, so dass wir die vielen Fragmente der erschütternden Familiengeschichte schließlich rekonstruieren können.
Zum Ende hin verdichtet Edel ihre Handlungsstränge zunehmend und führt diese stimmig zusammen. Dennoch bleiben etliche Handlungsfäden – ganz wie im wirklichen Leben - offen zurück und regen zu eigenen Deutungen an. So endet der Roman mit einem versöhnlichen Ausblick. Das Erbe belastender Erinnerungen sollte nicht nur als Last gesehen werden, sondern auch als Chance für einen Neuanfang. Indem wir die Geister der Vergangenheit bewältigen, eröffnen wir uns die Möglichkeit, diese Erfahrungen für persönliches Wachstum und eine hoffnungsvolle Zukunft zu nutzen.
FAZIT
Ein beeindruckender Familienroman voller poetischer Tiefe und ein eindringliches Porträt einer Familie, die über Generationen hinweg von Schweigen und Traumata geprägt wird.
Eine anspruchsvolle und faszinierende Lektüre, die berührt und nachhallt!