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Veröffentlicht am 20.12.2017

Was bleibt

Menschenwerk
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Ungeheuer schmerzhaft ist die Lektüre dieses Buches, das muss gleich vorweg gesagt werden: es geht um LEIDEN (ja genau, es muss groß geschrieben werden, so stark ist die Wirkung dieses Begriffs), um Trauer ...

Ungeheuer schmerzhaft ist die Lektüre dieses Buches, das muss gleich vorweg gesagt werden: es geht um LEIDEN (ja genau, es muss groß geschrieben werden, so stark ist die Wirkung dieses Begriffs), um Trauer und um Schmerzen, um Verlust - und auch um Unrecht.

Man könnte dieses Buch als historischen Roman bezeichnen: Die Autorin Han Kang, in Deutschland durch ihren 2016 erschienenen (jedoch bereits 2007 verfassten) Roman "Die Vegetarierin" bekannt geworden, hat hier einen mutigen, kraftvollen und schmerzhaften Roman über ihre Heimatstadt Gwangju verfasst, in der 1980 ein furchtbares Ereignis stattfand: der Aufstand der Bevölkerung gegen die neue Militärregierung wurde blutig niedergeschlagen, es gab haufenweise Opfer (was leider wörtlich zu nehmen ist, wie während der Lektüre von "Menschenwerk" klar wird). Diesen Aufstand, vor allem jedoch seine Folgen, hat Han Kang in ihrem Roman verarbeitet, wobei sie sich an der realen Biographie eines Jungen orientiert.

Verschiedene Charaktere, tote und lebendige, kommen zu Wort, zu unterschiedlichen Zeiten. Doch immer geht es um dieses Ereignis, das auch Jahre später nichts von seiner Tragik verloren hat - verständlicherweise. Denn: Was bleibt, ist der Schmerz. Und die Trauer.

Ein ganz anderes Buch als "Die Vegetarierin", in dem es um die Entwicklung einer Person ging - hier hingegen geht es um Zerstörung und zwar nicht nur eines Menschen.

Dieses Wissen machte es mir fast unerträglich, weiterzulesen, wobei ich meine Lektüre jedoch keine Sekunde bereut habe. Wie "Die Vegetarierin" ist auch dies ein eher stilles Buch, das jedoch voller Kraft und auch Mut steckt. Denn es erfordert sehr viel Mut, sich einem solchen Thema zu stellen und zwar so vollständig, wie es Han Kang getan hat. Ein kleines großes Buch von einer großen Autorin.

Veröffentlicht am 20.12.2017

Sperrige Charaktere in einer sperrigen Zeit

Die Schlange von Essex
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Das viktorianische Zeitalter - lang und schwerfällig - war keine einfache Epoche. Alles andere als leichtfüßig und charmant - sowieso nicht gerade britische Kerneigenschaften - kam es daher und musste ...

Das viktorianische Zeitalter - lang und schwerfällig - war keine einfache Epoche. Alles andere als leichtfüßig und charmant - sowieso nicht gerade britische Kerneigenschaften - kam es daher und musste doch mit einigen Änderungen wie Industrialisierung, erste Emanzipationsversuche von Frauen, das Aufeinandertreffen von Wissenschaft und Religion und natürlich auch diversen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Mängeln und Problemen.

Passend dazu wimmelt es in diesem Roman von sperrigen Charakteren, die sich quasi die Klinke in die Hand geben. Allen voran Cora, die Hauptfigur, eine starke Frau. In jeder Hinsicht, wobei sie es in mancher erst geworden ist. Denn sie hat ihren Mann verloren - kein Grund zur Trauer, im Gegenteil. Der - viel älter als seine noch als Teenager geheiratete Frau - hat sie nämlich verschiedentlich gequält und mißhandelt. Der Leser erhält hier nur punktuelle Einblicke, aber die reichen völlig!

Cora also lässt es sich nicht nehmen, zumindest hinter verschlossenen Türen zu frohlocken und ein neues Leben anzuvisieren - Geld ist zumindest kein Problem. Naturwissenschaftlich interessiert zieht es sie mit Sohn Francis und der ihr freundschaftlich verbundenen Haushaltangestellten Martha nach Aldwinter an der Küste von Essex, wo bald ein Gerücht umgeht, die sagenhafte Schlange von Essex sei wieder aufgetaucht. Und nicht nur dem muss sie sich stellen, sondern auch den Verlockungen des anderen Geschlechts. Ausgerechnet der Geistliche Will, ein verheirateter Mann mit komplett andern Wertvorstellungen kommt ihr emotional in die Quere.

Doch es sind nicht nur ihre Geschicke, die hier dargestellt werden, sondern auch die der Menschen um sie herum. Eindrucksvoll sind die Charaktere gezeichnet, jeder einzelne ist ein "Typ", leicht fällt es dem Leser, sich diese Gestalten bildlich vorzustellen.

Aber ach! Die Geschichte selbst ist gelegentlich ein wenig wirr, wenig logisch und ein bisschen unausgegoren, da nützen auch die kraftvollsten Charaktere nichts mehr. Ich empfand das Ende als recht rund, das Meiste wurde dann doch zusammengezurrt und auf den Punkt gebracht - wohlgemerkt in sehr angenehmen Schreibstil und einer ebensolche Übersetzung - aber einiges verlief doch im Sande. Dennoch habe ich dieses Buch genossen, aber ich warne - wer sich nicht wie ich von den Charakteren um den kleinen Finger wickeln lässt, der könnte enttäuscht sein. Und zwar nicht zu knapp!

Veröffentlicht am 20.12.2017

Ein Phantom ist es nicht

Wer ist B. Traven?
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dem der junge Reporter Leon hinterherjagen soll: B. Traven hat immerhin schon den ein oder anderen Roman geschrieben, jetzt - das heißt, im Jahre 1947 - wird einer sogar verfilmt. Und zwar von John Huston ...

dem der junge Reporter Leon hinterherjagen soll: B. Traven hat immerhin schon den ein oder anderen Roman geschrieben, jetzt - das heißt, im Jahre 1947 - wird einer sogar verfilmt. Und zwar von John Huston höchstpersönlich mit Starbesetzung - Humphrey Bogart und seine Frau Lauren Bacall, aber auch Walter Huston, der Vater des Regisseurs, sollen als Kassenmagneten wirken und natürlich auch dem Film sein gewisses Etwas verleihen.

Kommt Ihnen das bekannt vor? Kein Wunder, denn den Film, "Der Schatz der Sierra Madre" nämlich, gibt es wirklich. Und beide Hustons bekamen dafür Oscars: John für die beste Regie und Walter für die beste Nebenrolle.

Ebenso wurde Zeit seines Lebens (da seine Bücher seit Mitte der 1920er Jahre entstanden, kann man mit absoluter Sicherheit davon ausgehen, dass dieses bereits seit geraumer Zeit vorbei ist) über die Identität des Autors B. Traven spekuliert. Die bekanntesten Thesen dazu fließen in diesen Roman ein, wie auch der Autor Torsten Seifert an anderer Stelle Realität und Fiktion geschickt vermengt.

Der Start wurde mir durch die westernartige Aufmachung (Gringo kommt nach Mexiko, um Rätsel zu lösen und kämpft dabei gegen alle) ein bisschen verleidet, aber meine Geduld wurde belohnt, der Roman spannender, die Geschichte bissiger, ja, stellenweise troff sie regelrecht vor Ironie und so konnte ich die Geschicke des Reporters Leon mit großem Vergnügen begleiten.

Torsten Seifert versteht es, seinen Figuren Leben einzuhauchen - bis zu einem gewissen Punkt. Dann verliert sich alles ein bisschen, was zwar gut zur Geschichte passt, was ich aber in Bezug auf die Charaktere dennoch als schade empfinde. Auch werden nicht alle Erzählstränge aufgelöst, was absolut passend ist, aber dass der Mord ganz zu Beginn des Romans absolut keine Rolle mehr spielt, das fand ich dann doch ziemlich schade.

Auf jeden Fall eine Geschichte, die lebendig, zeitweise sogar waghalsig daherkommt und gut unterhält - mir hat sie zudem jede Menge Anregungen für diverse Google-Aktionen gegeben!

Veröffentlicht am 20.12.2017

Demaskierung einer vollkommenen Gesellschaft

Dann schlaf auch du
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anhand einer perfekt scheinenden Familie und ihrem ebenso einwandfreien Kindermädchen. So jedenfalls erscheinen Myriam und Paul mit ihren Kindern Mila und Adam sowie auch Louise, die bei ihnen angestellt ...

anhand einer perfekt scheinenden Familie und ihrem ebenso einwandfreien Kindermädchen. So jedenfalls erscheinen Myriam und Paul mit ihren Kindern Mila und Adam sowie auch Louise, die bei ihnen angestellt wird, ganz zu Beginn.

Ganz zu Beginn? Nein, stopp, das kann nicht sein, steht doch gleich zu Beginn, an erster Stelle, der Mord an den beiden noch kleinen Kindern. Und es kann eigentlich nur Louise gewesen sein. Aber was steckt dahinter?

Das ist das Wesentliche an diesem Roman, die Enthüllung der Wahrheit, die Demaskierung einer als perfekt erscheinenden Welt: Ein junges Paar mit kleinen Kindern schlägt sich herum mit Luxusproblemen. Wo wohl ist die perfekte Nounou, das perfekte Kindermädchen zu finden. Und: Oh, Wunder, sie finden sie mit Louise. Diese hat nicht nur die Kinder, sondern auch den Haushalt schnell im Griff, so schnell, dass das beruflich erfolgreiche Paar selbst im Urlaub nicht auf sie verzichten will.

Aber es gibt ein Dahinter: bei allen Akteuren, vor allem jedoch bei Louise. Und das hat mit ihrer sozialen Situation, ihrer Stellung in der Gesellschaft zu tun. Falsch, eigentlich mit dem gesamten sozialen Gefüge wie es hier im Roman präsentiert wird: Wer weiß was über wen, wen interessiert was, wer sorgt sich um wen? Welche Rechte hat eine Haushaltsangestellte, also eine Dienstbotin in Bezug auf ihr eigenes Leben, ihre Sorgen und Nöte? Wen darf sie mit so etwas belästigen?

Ein Angriff auf das soziale Gefüge in Frankreich, in Europa eigentlich, wenn auch ein leiser. Aber er erfolgt mit voller Kraft, mit einer solchen Wucht wie ihn ein Roman überhaupt bieten kann.

Ein ungewöhnliches Buch mit einem gewaltigen Nachhall - und eines, das mir dauerhaft Bauchschmerzen bereitet, denn allzuviel Hoffnung transportiert es nicht!

Veröffentlicht am 20.12.2017

Die tragischen Wege einer deutschen Familie

Die Affekte
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Eine deutsche Familie in Südamerika: in den 1950ern gab es viele solche, entweder hatten sie sich bereits in den 1930ern abgesetzt oder aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg - klare Hinweise auf die jeweilige ...

Eine deutsche Familie in Südamerika: in den 1950ern gab es viele solche, entweder hatten sie sich bereits in den 1930ern abgesetzt oder aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg - klare Hinweise auf die jeweilige Abstammung bzw. Gesinnung. Familie Ertl gehört zur zweiten Kategorie: Vater Hans war ein erfolgreicher, für seine Zeit extrem innovativer Kameramann, der im Dritten Reich unglaubliche Erfolge feierte, bspw. im Olympia-Film von Leni Riefenstahl. Auch wenn er selbst nicht sehr politisch dachte, wirkten diese Erfolge natürlich nach und er fand keinen Platz im Nachkriegsdeutschland. Also Bolivien - mit der ganzen Familie.

Jahrzehnte später entwickelte sich seine Tochter Monika zu einer linksradikalen Guerillakämpferin, die ein tragisches Ende nahm.

Es sind Wege einer deutschen Familie, die hier geschildert werden, mehrere, weil diese Familie auseinanderdriftet, keinen Zusammenhalt mehr hat und unterschiedliche Lebensrichtungen einschlägt. Gewiss, Vater Hans und die älteste Tochter Monika sind sicher die hauptsächlichen Protagonisten, doch dieser kurze, dennoch extrem gehaltvolle und eindringliche Roman lebt vor allem davon, dass unterschiedliche Sichtweisen geschildert werden, so auch die der jüngeren Töchter Heidi und Trixi. Und diese betreffen nicht nur Hans und Monika, sondern auch die Wahrnehmung der anderen Familienmitglieder und geben Einblick in das Gefüge.

Hasbún hat sich einiges an dichterischer Freiheit bewahrt, wozu er ja auch jedes Recht hat - die Rolle von dem in Bolivien als Klaus Altmann lebenden Klaus Barbie bei Monika Ertls Tod bleibt bspw. völlig außen vor.

Meiner Ansicht nach ist dieser Roman überhaupt nichts für Leser, die nicht an Geschichte interessiert sind und nicht in den Hintergrund des Romans eintauchen wollen. Denn ich kann mir nicht vorstellen, was sie von diesem Roman haben sollten - in solchen Fällen sind und bleiben diese Schilderungen böhmische bzw. bolivianische Dörfer für den Leser.

Schwere Kost also? Eigentlich nicht, finde ich, denn der junge Autor schreibt leichtfüßig und wortgewandt, es macht Spaß, ihm zu folgen, auch wenn die Materie an sich natürlich keine einfache ist.

Ein kleines Buch, das großen Gewinn für seine Leser bringen kann, aber nicht muss. Definitiv kein Buch für jedermann. Ich empfehle es von Herzen weiter, allerdings mit den erwähnten Einschränkungen.