Ein einziger Tag kann das leben für immer verändern. Diese Erfahrung mussten sowohl Alice als auch Mattia ganz früh in ihrem Leben machen. Beide haben ganz verschiedene Schicksale und doch finden sie sich gemeinsam in ihrer Einsamkeit wieder. Irgendwann lernen sie sich kennen und obwohl sie so unterschiedlich sind, verlieren sich beide über viele Jahre nie komplett aus den Augen.
Gleich auf den ersten Seiten des Romans erlebt man einen schweren Skiunfall und unheimliches Gefühlschaos der Protagonistin Alice. Ihr sturer Vater hatte sie in ein Skilager geschickt und wollte unbedingt, dass sie an Wettbewerben teilnimmt. Der Unfall lässt Alice nicht nur körperlich eingeschränkt zurück, sondern zerstört auch das ohnehin gestörte Verhältnis zu ihrem Vater. In der Schule wird sie gemobbt. Da sie all das nicht mehr aushält, entwickelt sie eine Magersucht.
Auch Mattia hat einen schweren Schicksalsschlag hinter sich. Seine Zwillingsschwester Michela ist geistig zurückgeblieben und er muss sich dadurch ständig um sie kümmern. Beide sind deswegen Außenseiter. Als sie schließlich zu einem Kindergeburtstag eingeladen werden, hat Mattia in einem Anflug von Leichtsinn die Idee, seine Schwester für die Zeit, die er feiern geht, allein im Park sitzen zu lassen. Danach taucht sie nie wieder auf.
Als sich die Wege von Alice und Mattia kreuzen, empfinden beide Gefühle, die sie so noch nie erlebt haben. Ein tiefes Vertrauen entsteht bei beiden und sie können nicht mehr ohneeinander, aber auch nicht richtig miteinander. Dieser Zustand erhält sich über viele Jahre und sie stehen zueinander wie Primzahlzwillinge. „Mattia hatte gelernt, dass es Paare von Primzahlen gab, zwischen denen immer eine gerade Zahl stand, die verhinderte, dass sie sich berührten. In Mattias Augen waren sie beide, Alice und er, genau dies: Primzahlen, allein und verloren, sich nahe, aber doch nicht nahe genug, um einander wirklich berühren zu können.“ (S. 156)
Das Buch ist meiner Meinung nach kein leichter Lesestoff für zwischendurch. Es hat mich tief bewegt und der Autor, Paolo Giordano, erreichte damit sein Romandebüt. Dass es das meistverkaufte Buch Italiens im Jahre 2008 ist und in 26 Länder verkauft wurde, spricht für sich. Die Protagonisten wachsen einem schnell ans Herz und man möchte immer mehr von den beiden erfahren. Dies gelingt durch den flüssigen Schreibstil recht gut und man kann verschiedene Etappen im Leben der beiden gut nachverfolgen. Das Ende kam für mich recht plötzlich. Es wirkt für mich ein wenig unabgeschlossen. Dadurch kann sich der Leser selbst noch einmal Gedanken dazu machen. Mir persönlich ging es so, dass mir dieser Roman tagelang nicht aus dem Kopf ging. Und eins habe ich bei diesem Buch gelernt: „Entscheidungen wurden innerhalb weniger Sekunden getroffen, und in der übrigen Zeit schlug man sich mit den Folgen herum.“ (S. 353)
Ein beeindruckendes und authentisches Werk wie dieses habe ich seit „Ein ganzes halbes Jahr“ nicht mehr gelesen. Von mir eine absolute Leseempfehlung!