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Monsieur

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Veröffentlicht am 22.09.2025

Vom Aufwachsen im digitalen Zeitalter

Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen Sachen in die Luft
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Fiona Sironics Roman „Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen Sachen in die Luft“ wagt sich an Themen, die nicht nur aktuell, sondern hochbrisant sind. Im Zentrum steht die 15-jährige Era, die ...

Fiona Sironics Roman „Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen Sachen in die Luft“ wagt sich an Themen, die nicht nur aktuell, sondern hochbrisant sind. Im Zentrum steht die 15-jährige Era, die als Erzählerin und Beobachterin zugleich eine Brücke schlägt zwischen Natur und digitaler Welt, zwischen persönlicher Identität und gesellschaftlicher Überforderung. Bereits zu Beginn deutet sich an, dass dieser Text nicht nach gewohnten literarischen Mustern verläuft, sondern eine ungewöhnliche Mischung aus Coming-of-Age-Geschichte, Gesellschaftskritik und Zukunftsentwurf darstellt.
Era wächst in einer kleinen Hütte am Waldrand auf, abgeschirmt von der Außenwelt. Ihre Mutter und ihre Tante ziehen sie groß, wobei vor allem die Mutter den Rückzug ins Abseits als Schutzraum begreift. Diese Ausgangssituation verleiht dem Roman eine abgeschottete Grundatmosphäre, die sich in Eras Wahrnehmung und auch im Sprachstil niederschlägt. Gleichzeitig beschäftigt sich das Mädchen mit dem Aussterben von Vogelarten, das sie dokumentiert – ein Hinweis darauf, dass ökologische Krisen hier eine ebenso wichtige Rolle spielen wie die Gefahren der digitalen Welt.
Über das Internet stößt Era auf eine Gruppe von Mädchen, die sich im Wald treffen und dort Dinge sprengen – von Festplatten bis zu elektronischen Relikten einer Vergangenheit, die längst zur Last geworden ist. Obwohl die Jugendlichen ihre Gesichter verhüllen, erkennt Era die Lichtung im eigenen Wald und sogar eines der Mädchen: Maja. Diese war früher unfreiwillig im Mittelpunkt der Öffentlichkeit, da ihre Mütter als „Momfluencerinnen“ das Aufwachsen ihrer Tochter im Netz ausstellte. Nun kämpft Maja damit, die Spuren dieser aufgezwungenen Öffentlichkeit loszuwerden, indem sie ihre frühere digitale Identität buchstäblich in die Luft jagt.
Durch ihre vorsichtige Annäherung an die Clique findet Era nicht nur Anschluss, sondern auch ihre erste große Liebe – eben zu Maja. Doch die Welt, in der sich diese beiden Figuren bewegen, ist keineswegs stabil. Sie ist geprägt von ökologischen Katastrophen, von gesellschaftlichen Spannungen und einer zunehmenden Entfremdung zwischen analogem Leben und virtueller Dauerpräsenz. Ein Waldbrand von verheerendem Ausmaß bringt das ohnehin fragile Gefüge endgültig ins Wanken.
Die Stärke des Romans liegt in seiner Grundidee: Sironic verbindet digitale Themen, Fragen von Identität und Öffentlichkeit, sowie ökologische Bedrohungen zu einem Gesamtbild, das in eine nahe Zukunft verlegt ist. Dadurch treten Fehlentwicklungen, die in der Gegenwart bereits sichtbar sind, noch deutlicher hervor. Bemerkenswert ist, dass die Autorin konsequent aus der Perspektive einer Jugendlichen erzählt. Era ist in diese Welt hineingeboren, kennt sie nicht anders, und erlebt viele Dinge zum ersten Mal. Ihr Blick ist fragmentarisch, oft naiv und unpräzise.
Dieser gewählte Erzählton prägt das gesamte Buch: Die Sprache wirkt wie lose aneinandergereihte Gedankenfetzen, Grammatik und Satzbau erscheinen teilweise absichtlich brüchig. Die Leser sollen dadurch ganz in Eras Gedankenwelt eintauchen, was einerseits die Unmittelbarkeit der Figur stärkt, andererseits aber die Lektüre erheblich erschwert. Nicht alle werden sich mit diesem Stil anfreunden können – für manche wirkt er originell, für andere schlicht nervenaufreibend.
Auch die Erzählstruktur selbst folgt keiner geradlinigen Linie. Zwar gibt es einen roten Faden, doch immer wieder wird er durch absurde, unerwartete Ereignisse unterbrochen. Die Figuren wirken eigensinnig, manchmal widersprüchlich, und gerade die Mädchen changieren zwischen Trotz, Frustration und einer Art grundsätzlicher Wut. Diese „Weltwut“ scheint aus der Erfahrung heraus geboren zu sein, dass die digitale Welt, die einst Verheißung und Verlockung versprach, letztlich zur Quelle tiefer Enttäuschung geworden ist.
Besonders interessant ist der Perspektivwechsel, den Sironic vornimmt: Nicht die Jugendlichen sind hier die treibenden Kräfte einer enthemmten Selbstentblößung im Netz. Sie sind vielmehr Opfer – ähnlich wie frühere Generationen Opfer des Umweltmissbrauchs durch ihre Eltern wurden. Damit positioniert der Roman die Teenager als Leidtragende, nicht als Täterinnen einer voyeuristischen Kultur.
So spannend dieses Konzept auch klingt, die Umsetzung überzeugt nur teilweise. Der jugendlich-naive Tonfall kann je nach Lesart als klug gewählte Perspektive oder als ermüdend empfunden werden. Zudem verliert die Handlung nach dem zunächst faszinierenden Aufbau an Kraft. Spätestens ab dem Waldbrand wirkt die Geschichte zerfahren, die Spannung weicht einem oft beliebigen Ablauf von Szenen. Auch die Zukunftswelt, die Sironic entwirft, schwankt zwischen düsterer Übertreibung und überambitionierter Symbolik. Schließlich fällt auf, dass die Autorin offenbar den Wunsch hatte, eine nahezu männerfreie Welt zu gestalten. Das wirkt einerseits provokant und bricht mit Konventionen, andererseits schränkt es die Vielschichtigkeit des Romans ein. Statt neue Perspektiven zu eröffnen, entsteht mitunter der Eindruck einer gewollten und unnötigen Einseitigkeit.
Insgesamt ist „Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen Sachen in die Luft“ ein Werk, das vieles wagt: Es ist provokant, überdreht, gelegentlich anklagend und manchmal moralisch zeigend. Doch bei aller Originalität bleibt die Umsetzung zu fragmentarisch, um das volle Potenzial auszuschöpfen. Sironics Roman ist mehr Experiment als vollendetes Werk – und gerade deshalb spannend, aber auch frustrierend zugleich.

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Veröffentlicht am 18.06.2025

Ein konstruierter Roman ohne Tiefe und Poesie

Strandgut
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Mit „Offene See“ gelang Benjamin Myers ein literarischer Überraschungserfolg, der vor allem im deutschsprachigen Raum mit großer Begeisterung aufgenommen wurde. Die berührende Geschichte um den jungen ...

Mit „Offene See“ gelang Benjamin Myers ein literarischer Überraschungserfolg, der vor allem im deutschsprachigen Raum mit großer Begeisterung aufgenommen wurde. Die berührende Geschichte um den jungen Robert und die exzentrische Dulcie war nicht nur feinfühlig erzählt, sondern zeichnete sich auch durch eine besondere Sprache und eine leise, aber eindringliche Atmosphäre aus – und umso gespannter war man nun auf seinen neuen Roman „Strandgut“, der vom Verlag nicht zufällig mit dem Erfolgsbuch in Verbindung gebracht wird. Doch handelt es sich in Wahrheit über eine vollkommen andere Art von Geschichte – und leider auch ein gänzlich anderes Leseerlebnis.
Im Zentrum von „Strandgut“ steht nicht mehr ein junger Mann am Beginn seines Lebenswegs, sondern Bucky, ein in die Jahre gekommener Soulsänger, der einst einen einzigen Hit hatte und seither in Vergessenheit geraten ist. Nach dem Tod seiner Frau lebt er ein freudloses, eintöniges Leben in den USA – bis ihn eines Tages überraschend die Einladung erreicht, in einer kleinen englischen Gemeinde aufzutreten. Die Reise über den Atlantik nimmt er spontan auf – ein ungewohnt impulsiver Schritt für jemanden, dessen Leben zuvor von Stillstand geprägt war.
Was zunächst wie der Auftakt zu einer bewegenden Selbsterkenntnis-Reise klingt, entwickelt sich leider bald zu einer eher schleppenden und wenig fesselnden Erzählung. Myers versucht durchaus, Buckys Vergangenheit zu beleuchten und seinen Charakter durch Erinnerungen und Reflexionen zu vertiefen. Doch anders als in „Offene See“ gelingt es ihm nicht, eine Figur zu schaffen, mit der man sich gerne auseinandersetzt oder die einen länger beschäftigt. Bucky wirkt oft grobschlächtig, unnahbar, mitunter sogar unsympathisch – was ihn als Hauptfigur schwer erträglich macht. Zwar bleibt er nicht blass, doch emotionale Nähe oder gar Empathie mag beim Lesen kaum entstehen.
Ähnlich problematisch sind auch die Nebenfiguren, insbesondere Dinah, die zweite zentrale Figur des Romans. Zwischen ihr und Bucky soll sich eine besondere Verbindung entwickeln – ähnlich wie zwischen Robert und Dulcie im Vorgängerroman. Doch wo dort ein literarischer Zauber entstand, bleibt die Beziehung in „Strandgut“ seltsam leblos. Zwar tauschen sich beide über ihre inneren Nöte aus, doch der emotionale Gehalt wirkt konstruiert, die Dialoge oftmals flach, und das finale „Zusammenraufen“ beider Figuren ist enttäuschend banal. Auch Dinahs Familie – ihr Sohn und ihr Ehemann – bleiben eindimensionale, teils karikaturhafte Figuren. Myers greift zu plumpen Mitteln wie Körpergerüchen, Fäkalhumor und aggressivem Verhalten, um die Charaktere zu skizzieren – statt sie zu entwickeln oder ihnen Tiefe zu verleihen.
Hinzu kommt, dass die gesamte Thematik des Romans fragwürdig erscheint: Ein abgehalfterter Soulsänger auf einer letzten Tournee – das mag für eine kurzweilige Erzählung reichen, doch nicht für einen Roman, der mehr sein will als seichte Unterhaltung. Die Geschichte kratzt bestenfalls an der Oberfläche, literarische Tiefe sucht man vergebens. Die melancholischen Töne, die „Offene See“ so auszeichneten, fehlen hier fast gänzlich, ebenso die leise Poesie, mit der Myers einst seine Leser gewann. Die Leichtigkeit, die seinen Erfolgsroman prägte, hat sich nahezu ins Gegenteil verwandelt. Alles an „Strandgut“ wirkt bemüht und angestrengt, der Autor hat sichtlich Mühe, die Geschichte und seine Figuren zu entwickeln. Dabei kommt ein konstruiertes Machwerk zustande, dessen Bauplan man als Leser rasch durchschaut.
Letztlich bleibt der Eindruck, dass Myers an seinem eigenen Anspruch scheitert, einen Gegenwartsroman zu schreiben, der zugleich unterhält und literarischen Anspruch besitzt. Ohne das historische Setting des Zweiten Weltkriegs, das „Offene See“ so glaubwürdig und atmosphärisch machte, treten die stilistischen Schwächen und die erzählerische Eintönigkeit in „Strandgut“ nur umso deutlicher hervor.
„Strandgut“ ist ein enttäuschender Roman, der kaum mit dem Vorgänger mithalten kann. Die Figuren bleiben blass oder unsympathisch, die Handlung flach, die Emotionen konstruiert. Selbst Fans von „Offene See“ sollten sich genau überlegen, ob sie sich auf diese Reise begeben wollen.

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Veröffentlicht am 16.04.2025

Ein Geflecht zwischenmenschlicher Beziehungen

Drei Wochen im August
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In „Drei Wochen im August“ versammelt Nina Bussmann ihre Figuren in einem abgelegenen Ferienhaus an der französischen Atlantikküste. Was auf den ersten Blick wie ein klassischer Familienroman anmutet, ...

In „Drei Wochen im August“ versammelt Nina Bussmann ihre Figuren in einem abgelegenen Ferienhaus an der französischen Atlantikküste. Was auf den ersten Blick wie ein klassischer Familienroman anmutet, erweist sich schnell als Versuch, das Genre auf unkonventionelle Weise neu zu denken. Im Mittelpunkt steht Elena, die sich in einer kriselnden Ehe befindet. Um Abstand zu gewinnen, reist sie ohne ihren Mann, aber mit ihren drei Kindern und zwei familienfremden Personen in den Urlaub.
Bussmann interessiert sich weniger für äußere Handlung als für das feine Geflecht der zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie seziert das Zusammensein auf engem Raum mit präzisem Blick, besonders Elenas ambivalentes Verhältnis zu ihren Kindern. Im Zentrum dieser Entwicklung steht die bislang eher verschlossene, dickliche Tochter, die im Verlauf des Aufenthalts zögerlich beginnt, sich zu öffnen.
Spannungen entstehen schleichend und bleiben oft unter der Oberfläche – ein erzählerischer Kniff, der die Atmosphäre unterschwellig auflädt, ohne sie zu dramatisieren. Der Reiz dieses Ansatzes liegt darin, dass der vermeintlich idyllische Rückzugsort zur Projektionsfläche für verdrängte Emotionen wird. Elena, gezwungen zur Innenschau, entdeckt dabei nicht nur ihre Rolle als Mutter, sondern auch sich selbst neu.
Trotz dieser vielversprechenden Anlage gelingt es Bussmann nicht durchgehend, ihre Figuren greifbar zu machen. Sie bleiben distanziert, fast austauschbar. Diese emotionale Unnahbarkeit erschwert die Identifikation und lässt die literarische Auseinandersetzung mit den Charakteren unbefriedigend wirken. Gerade weil der Roman beinahe vollständig auf seine Figuren baut und Handlung nur als Hintergrundrauschen dient, wiegt dieser Mangel schwer.
Auch stilistisch bleibt Bussmann hinter den Erwartungen zurück: Ihr knapper, teils abgehackter Schreibstil wirkt oft spröde und schafft es nicht, über die gesamte Länge zu tragen.
„Drei Wochen im August“ ist ein ambitionierter, aber letztlich blasser Roman. Er hinterlässt kaum Spuren – weder inhaltlich noch emotional. Nach der letzten Seite sind Elena und ihre Familie schnell vergessen.

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Veröffentlicht am 10.04.2025

Drei Geschwister und ein dubioses Familienerbe

Wo wir uns treffen
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Mit ihrem neuen Roman „Wo wir uns treffen“ begibt sich die britische Autorin Anna Hope auf das Terrain des Familienromans. Im Mittelpunkt steht ein großes Anwesen, das nach dem Tod des Vaters an die nächste ...

Mit ihrem neuen Roman „Wo wir uns treffen“ begibt sich die britische Autorin Anna Hope auf das Terrain des Familienromans. Im Mittelpunkt steht ein großes Anwesen, das nach dem Tod des Vaters an die nächste Generation übergehen soll – ein klassisches Szenario, das in der Literatur seit jeher als Ausgangspunkt für innerfamiliäre Konflikte und die Aufarbeitung einer gemeinsamen Vergangenheit dient. Hope bedient sich dabei bekannter Motive, versucht jedoch einen eigenen Weg zu finden, indem sie nicht auf überzeichnete Dramatik oder familiäre Zerwürfnisse setzt, sondern auf leisere Töne – mit wechselhaftem Erfolg.
Im Zentrum stehen die drei Geschwister Frannie, Milo und Isa, die nach dem Tod des Vaters in ihr Elternhaus zurückkehren – ein Haus, das sie aus unterschiedlichen Gründen längst hinter sich gelassen hatten. Der Anlass ist die Beerdigung des Vaters und die Frage, wie es mit dem geerbten Anwesen weitergehen soll. Bereits hier zeigt sich, dass das Erbe nicht nur eine finanzielle Belastung darstellt, sondern tiefere Konflikte innerhalb der Familie an die Oberfläche bringt.
Dabei folgt Hope einem bewährten literarischen Muster: Die Zusammenkunft anlässlich eines Trauerfalls wird zur Bühne für unausgesprochene Konflikte, alte Verletzungen und tief sitzende Spannungen. Doch anstatt diese auf eskalierende Weise auszuspielen, konzentriert sich die Autorin stärker auf die Auswirkungen, die das Anwesen selbst auf das Leben der Geschwister hat – und auf die Geschichte, die es in sich trägt.
Der Roman entfaltet sich dabei in einem gemächlichen Tempo. Vieles wird in Rückblenden erzählt, Erinnerungen an die Kindheit im Haus wechseln sich ab mit Gesprächen in der Gegenwart, in denen die Geschwister über das weitere Vorgehen diskutieren. Frannie, die als Haupterbin im Zentrum der Handlung steht, ist diejenige, die sich für den Erhalt des Hauses einsetzt. Unterstützt wird sie dabei von ihrer kleinen Tochter Rowan, für die sie sich ein behütetes Aufwachsen an jenem Ort wünscht, an dem auch sie selbst groß geworden ist.
Milo hingegen bildet den Widerpart. Er hat schon zu Lebzeiten des Vaters geheime Absprachen getroffen, deren Ziel nicht im Erhalt des Hauses, sondern vielmehr in dessen Verwertung liegt. Isa, die dritte im Bunde, bleibt im Hintergrund – mit sich selbst beschäftigt und durch Beziehungsprobleme abgelenkt, wirkt sie häufig wie eine Randfigur.
Trotz der bemühten Charakterzeichnung gelingt es Anna Hope nicht, die Figuren mit echtem Leben zu füllen. Zwar werden ihre inneren Konflikte ausführlich beschrieben, und auch ihre Vergangenheiten werden aufgerollt – doch die emotionale Bindung bleibt aus. Besonders Frannie, obwohl sie die meiste Präsenz aufweist, bleibt merkwürdig ungreifbar. Ihre Motive erscheinen nachvollziehbar, aber nicht fesselnd. Milo und Isa sind zwar als Kontrastfiguren angelegt, doch auch sie können dem Roman kaum mehr als eine oberflächliche Dynamik verleihen.
Hinzu kommt, dass der große thematische Umschwung im letzten Drittel des Romans beinahe ungeschickt eingeführt wird. Ohne eine wirkliche Vorwarnung offenbart sich eine düstere Vergangenheit des Anwesens – eine Verbindung zur britischen Kolonialgeschichte, die das Ansehen der Familie tief erschüttert. Was auf den ersten Blick wie ein spannendes erzählerisches Element wirkt, erweist sich rasch als enttäuschend unausgereift. Der koloniale Kontext, der in der britischen Literatur ohnehin nur selten aufgegriffen wird, bleibt hier eine Randnotiz. Die Diskussion darüber zwischen den Geschwistern wirkt gezwungen und oberflächlich, das Potenzial dieses Themas wird nicht einmal ansatzweise ausgeschöpft. Hopes Schreibstil indes trägt nicht dazu bei, das erzählerische Defizit auszugleichen. Ihre Sprache ist nüchtern, beinahe blass, und die Dialoge wirken häufig gestelzt oder belanglos. Die Erzählstruktur folgt einem klaren Plan, doch genau dieser Plan ist zu deutlich spürbar. Die Geschichte bleibt auf diese Weise zu sehr ein literarisches Konstrukt – und zu wenig ein lebendiges Familiendrama.
Insgesamt hinterlässt „Wo wir uns treffen“ den Eindruck eines Romans, der viel versucht, aber wenig erreicht. Die Idee, das Erbe eines geschichtsträchtigen Anwesens als Katalysator für familiäre Auseinandersetzungen zu nutzen, ist nicht neu – und Hope gelingt es nicht, dieser Konstellation neue Facetten abzugewinnen. Die Figuren sind zu blass, die Konflikte zu gezähmt, die historische Dimension zu oberflächlich.
Wer nach einem eindrucksvollen Familienroman sucht, der Generationenkonflikte, emotionale Tiefe und historische Verflechtungen miteinander zu verknüpfen weiß, wird bei diesem Buch enttäuscht. „Wo wir uns treffen“ bleibt hinter seinen Möglichkeiten zurück – ein Roman, der mehr verspricht, als er hält, und dabei letztlich kaum über Mittelmaß hinauskommt.

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Veröffentlicht am 14.06.2024

Spuren der Vergangenheit

Seinetwegen
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In "Seinetwegen" begibt die Schweizer Autorin Zora del Buono sich auf eine Spurensuche, um den Umständen näherzukommen, die zum Tod ihres Vaters geführt haben. Sie war noch ein Kleinkind, als Manfredi ...

In "Seinetwegen" begibt die Schweizer Autorin Zora del Buono sich auf eine Spurensuche, um den Umständen näherzukommen, die zum Tod ihres Vaters geführt haben. Sie war noch ein Kleinkind, als Manfredi del Buono, ein vielversprechender Oberarzt, in einen Autounfall verwickelt wurde und wenige Tage später seinen Verletzungen erlag. Hingegen überlebte der Schuldige des Unfalls, ein junger Mann, der bereits mehrfach mit seiner rücksichtslosen Fahrweise auffällig geworden ist. Beim Gerichtsprozess kommt er vergleichsweise glimpflich davon, während Zora del Buono fortan als Halbwaise aufwächst. Ihre Mutter heiratet kein zweites Mal. In einer literarischen Form beschreibt die Autorin nun, in welchen Verhältnissen sie aufwuchs, was das Fehlen eines Vaters für sie bedeutete, und nähert sich überdies dem Mann an, der für den Tod ihres Vaters verantwortlich ist - lange sind ihm nur seine Initialen, E.T., bekannt.
Ein vergleichbares autobiografisches Projekt ist mir nicht bekannt, dass eine Autorin den Versuch unternimmt, das Leben eines Fremden zu durchleuchten, der für den Tod des eigenen Vaters verantwortlich ist, darf als neuartig angesehen werden. Demnach war ich äußerst gespannt auf dieses Buch. Die Autorin findet durchaus eine geeignete Form, eigene Überlegungen, Fakten und Tatsachen, Anekdoten aus ihrem Leben, Essays und die Ergebnisse ihrer Recherchen miteinander zu verknüpfen. Obwohl der Text größtenteils aus Fragmenten und Schnipseln besteht, ist ein roter Faden zu erkennen. Auch ohne Kapitelüberschriften wirkt alles geordnet. Die Autorin setzt interessante Schwerpunkte, holt gelegentlich etwas aus, beispielsweise indem sie die Lebensumstände der Italiener in der Schweiz beschreibt wie sie es als Mädchen erlebt hat, bleibt ihrem Kurs jedoch stets treu. Sechzig Jahre nach dem verheerenden Unfall kommt sie E.T. immer näher. Wie ist er all die Jahre mit seiner Schuld umgegangen? Was für ein Leben hat er geführt?
Del Buono gelingt ein solider Text, keine Frage, aber kein Bravourstück. Vielleicht liegt es an meinen zu hohen Erwartungen an dieses Buch, dass es mich am Ende weniger abholen konnte, als erwartet. Trotz der Anstrengungen der Autorin, ihre Familie, ihren Vater und die Zeit, in der sie aufwuchs, zu beschreiben, entsteht nur ein blasses Bild von alledem. Vielleicht war das Thema am Ende doch zu persönlich, sodass del Buono sich scheute, unbekannte Leser tiefer in ihre Familiengeschichte einzuführen. Anstatt einer tiefgreifenden Analyse bieten die 200 Seiten des Buches daher nur einen knappen Abriss.

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