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Veröffentlicht am 30.12.2017

Das geraubte Leben des Häftlings Heiner Rosseck

Der Schrecken verliert sich vor Ort
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Für die Lektüre von "Der Schrecken verliert sich vor Ort" muss man viel Kraft aufbringen, denn dieses Buch ist ein Angriff - ein Angriff auf die Psyche, die Nerven, den Verstand des Lesers. Ein Angriff ...

Für die Lektüre von "Der Schrecken verliert sich vor Ort" muss man viel Kraft aufbringen, denn dieses Buch ist ein Angriff - ein Angriff auf die Psyche, die Nerven, den Verstand des Lesers. Ein Angriff durch ein erbarmungsloses, schonungsloses Buch - jedoch einer, der stärkt, der wachsen lässt und viel, viel mitgibt für den weiteren Lebensweg - und seien es nur Zitate zuhauf.

Ich zumindest habe mehrere Riesenzettel vollgeschrieben während des Lesens - Zettel mit wichtigen Bemerkungen - teilweise wichtig für das Gesamtverständnis des Buches, teilweise jedoch auch für mein weiteres Leben - Anmerkungen, die ich in Zukunft in gewissen Lebenssituation parat haben will, ja muss!

In diesem Buch geht es um den ehemaligen Auschwitzhäftling, den Wiener Kommunisten Heiner Rosseck, der am 5. Juni 1964 - er soll als Zeuge bei einem der NS-Prozesse aussagen - die Dolmetscherin Lena kennenlernt und nach langem hin und her bei ihm bleibt. Bzw. bleibt sie bei ihm, denn es ist eine immer neue Herausforderung, Heiner zu lieben, von Anfang an: "Sie wusste nicht, wie lange ihre Liebe für den Teil des Mannes reichte, der im Lager geblieben war." (S.63) Dies sieht sie von Beginn an und bleibt doch bei ihm, bei Heiner, bei dem Auschwitz allgegenwärtig ist, der IMMER davon spricht, der die Wertigkeit anderer ehemaliger Häftlinge nach deren Nummer bemisst, dessen erste Ehe an Auschwitz zerbrach, ja: der tatsächlich zu einem großen Teil für immer dageblieben ist.

Ein kleines, trauriges Buch, das sich zu einer großen Geschichte des 20. Jahrhunderts ausweitet - manchmal fand ich sie fast zu groß für mich. Sie quillt aus allen Seiten hervor, dann auch aus mir - bevorzugt in Form von Tränen. Doch erspart man sich diese Geschichte, verliert man etwas Großes und Ganzes. Ich empfehle sie quasi als Pflichtlektüre für jeden historisch Interessierten, für den Oberstufenunterricht, für Hochschulen - quasi für alle, die bereit sind, sich mit hochwertiger politischer Literatur auseinanderzusetzen - es bringt einen Gewinn fürs Leben!

Veröffentlicht am 30.12.2017

Gegen das Vergessen

Etta und Otto und Russell und James
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macht sich die 83jährige Etta auf zur Wanderung ihres Lebens, die sie nicht nur aus diesem einen Grunde macht. Nein, sie will auch das Meer sehen und wählt dazu nicht den kürzeren, nein, sie wählt den ...

macht sich die 83jährige Etta auf zur Wanderung ihres Lebens, die sie nicht nur aus diesem einen Grunde macht. Nein, sie will auch das Meer sehen und wählt dazu nicht den kürzeren, nein, sie wählt den langen, den mühsamen Weg - eine Wahl, die Otto, ihr daheim zurückgelassener - nicht jedoch verlassener - Ehemann durchaus verstehen kann. Daher bleibt er zu Hause und lernt, ebenfalls 83jährig, sich selbst zu bekochen und vor allem zu bebacken, denn Etta hat ihm ihre Rezeptkarten dagelassen.

Russell, ihr gemeinsamer Nachbar, langjähriger Freund und - in Ottos Fall - Konkurrent um Ettas Gunst &Liebe und selbstverständlich ebenfalls 83 - ist nicht ganz so ruhig und macht sich auf, um Etta zu finden. Ihren Wunsch, allein zu sein, respektiert jedoch auch er und hält stets gebührenden Abstand.

Denn allein ist Etta nicht, sie hat James getroffen und sich mit ihm angefreundet und wird nunmehr von ihm begleitet auf ihrer Wanderung ans Meer und ins Reich der Erinnerungen, die sie mit ihrer Aktion nicht nur bei sich, sondern auch bei Otto und Russell zu wecken weiß.

Ein Roman, in dem viele wichtige Themen angesprochen werden: Krieg, Frieden, Demenz, doch auch Einsamkeit, Respekt und Freundschaft. Es ist eine Dreiecksgeschichte der ganz besonderen Art, so wie das ganze Buch ein besonderes ist. Emma Hooper versteht es, eine ganz besondere - im Übrigen von Michaela Grabinger einfühlsam übersetzte - Sprache zu sprechen, vielmehr zu schreiben. Märchenhafter Realismus ist der Begriff, der für mich passend dafür erscheint, auch wenn er absolut unwahrscheinlich und unrealistisch klingt. Ein Buch mit vielen klugen, doch vor allem menschlichen Botschaften - ein weises Buch, ein warmherziges Buch, eines, das ohne kitschig oder wehmütig zu sein, düstere Themen anspricht und dennoch während und vor allem nach dem Lesen ein absolut wohliges Gefühl im Bauch und auch im Herzen des Rezipienten zurücklässt. Ein Buch auch gegen das Vergessen des Lesestoffs - dieser ist so besonders, das man sich dieses Buchs immer erinnern wird!

Veröffentlicht am 30.12.2017

Marschbefehl in idyllischer Schärenlandschaft

Mörderische Schärennächte
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Der vierte Teil von Viveca Stens auf und um die idyllische Ferieninsel Sandhamn angesiedelten Krimi-Reihe lässt schon auf den ersten Seiten die gewohnte atmosphärische Spannung aufkommen, die ich so liebe. ...

Der vierte Teil von Viveca Stens auf und um die idyllische Ferieninsel Sandhamn angesiedelten Krimi-Reihe lässt schon auf den ersten Seiten die gewohnte atmosphärische Spannung aufkommen, die ich so liebe. Die Handlung garantiert wie immer Aufregung und Unterhaltung gleichermaßen. Diesmal entführt uns die Autorin in ein für das friedliche und friedliebende Schweden sehr ungewöhnliches Setting - in die Welt des Militärs, die auch hier existiert. Zunächst wird ein toter junger Mann, ein Psychologie-Student aufgefunden, es folgen weitere Leichen - Männer in den 50ern, alle mit einer gemeinsamen militärischen Vergangenheit in den 1970er Jahren - und zwar bei den damals in unmittelbarer Nähe zu Sandhamn stationierten Küstenjägern. Allmählich kristallisiert sich eine Verbindung zwischen allen Todesfällen heraus - denn der Junge Student hat Forschungen im militärischen Umfeld getätigt. Wie so oft bei Viveca Sten, gibt es auch hier Verbindungen zu früheren Ereignissen - diesmal zur schwedischen Armee der 1970er Jahre.

Wie immer spielt auch die Rahmenhandlung um den attraktiven Ermittler Thomas Andreasson und seine Freundin aus Kindheitstagen, die Juristin Nora, eine Rolle, wobei sich das Leben der beiden in unterschiedliche Richtungen entwickelt: während Thomas und seine Exfrau wieder zueinander gefunden haben, treibt Nora die Scheidung zum untreuen Gatten voran und versucht sich mit dem Leben als alleinerziehende Mutter zu arrangieren.

Neben der Krimihandlung legt Viveca Sten in ihren Büchern stets den Akzent auf die Vermittlung und Relevanz gewisser Werte wie Freundschaft und Treue - da dies niemals mit dem erhobenen Zeigefinger und eher beiläufig geschieht, ist dies aus meiner Sicht ein angenehmer Aspekt, auf den ich mich bei jedem neuen Sandhamn-Krimi schon freue.

Wie auch in den beiden Vorgängern beweist sich die Autorin auch diesmal als Meisterin der atmosphärischen Dichte: der treue Leser kennt Sandhamn mittlerweile (fast) wie seine Westentasche und auch das Stockholmer Umfeld des Kripo-Teams ist ihm nicht mehr fremd. So fällt es ihm nicht schwer, mit Thomas, seiner Kollegin Margit und nicht zuletzt mit der wie immer an den Ermittlungen partizipierenden Nora - die diesmal als Lieferantin extrem wichtiger Hintergrundinformationen fungiert - mitzufiebern, sie quasi dabei zu begleiten. Dieser Band beinhaltet viele besonders tragische und auch brutale Elemente - gleichwohl gelingt es der Autorin, die über der Ferieninsel schwebende Leichtigkeit und spezifische Atmosphäre aufrechtzuerhalten, wobei von Unbeschwertheit keine Rede sein kann.

Viveca Sten hat sich mit ihren Krimis bereits eine treue Fangemeinde in Deutschland geschaffen - dieser wieder einmal überaus gelungene Band wird diese sicher noch vergrößern. Für Leser, die Autoren wie Viveca Stens Landsmänninnen Helene Tursten und Camilla Läckberg oder auch die Finnin Leena Lehtolainen lieben, ein gefundenes und von mir aus ganzem Herzen empfohlenes Fressen mit der Chance zu einer weiteren skandinavischen Lieblingsserie, wenn sie es nicht schon längst ist!

Veröffentlicht am 30.12.2017

Der schönste Platz ist immer auf dem Südbalkon

Südbalkon
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Und dort befindet sich Ruth Amsel nicht unbedingt: arbeitslos hängt sie viele Stunden am Tag allein in der Wohnung, die sie zusammen mit Freund Raoul - die Beziehung hat auch schon bessere Tage gesehen ...

Und dort befindet sich Ruth Amsel nicht unbedingt: arbeitslos hängt sie viele Stunden am Tag allein in der Wohnung, die sie zusammen mit Freund Raoul - die Beziehung hat auch schon bessere Tage gesehen - bewohnt, herum, hat Zweifel an der Loyalität ihrer Freundin Maja... und eben nur einen Westbalkon in einer Hochhauswohnung. Den nutzt sie allerdings voll aus, um ihre Nachbarn zu beobachten. Damit vergehen ihre Tage, unterbrochen von Putzorgien, vereinzelten Treffs mit Maja - bevorzugt in Musterwohnungen von Möbelhäusern, da es dort billiger ist als im Café und von Besuchen bei der Gesellschaft für W., nämlich für Wiedereingliederung. Ruth, eine lustlose Vertreterin der Gesellschaft, eine Parasitin? Nichts weniger als das, doch das werden Sie selbst wahrnehmen, wenn sie Isabella Straubs herrlich konstruierten Roman lesen, nein: genießen.

Gelegentliche Abstecher ins Tragikomische offenbaren Ruths wunde Stellen. Wahrhaft kein Mensch, der auf der Sonnenseite des Lebens weilt. Aber trotzdem ist dies ein helles, ein lichtes Buch, weit entfernt davon, für Frustration zu sorgen.

Die Ursache dafür ist nur durch die Lektüre desselben herauszufinden, aber glauben Sie mir - es lohnt sich, in diese von isabella Straub geschaffene Welt einzutauchen. Ihre Sätze sind treffend - auf wenigen Seiten skizziert sie eine Fülle von Charakteren, auf die man erstmal kommen muss - und die man so schnell nicht vergisst - und auch die Handlung ist nicht ohne. Hier zeigt sich, dass das Alltägliche oft die besten Geschichten birgt.

Als Kölnerin habe ich quasi mit der Muttermilch eingesogen, dass der schönste Platz immer an der Theke ist. Doch Isabella Straub hat mich eines Besseren belehrt - er ist auf dem Südbalkon, auf dem Südbalkon des Lebens nämlich, also quasi auf der Sonnenseite. Und oft sind es Kleinigkeiten, die einem dazu verhelfen, dort hinzukommen. Beispielsweise dieses Buch - satirisch, aber nie zynisch: es macht einfach gute Laune!

Veröffentlicht am 30.12.2017

Aller Anfang ist Köln

Max
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Naja, fast, denn Max Ernst, der große Künstler des 20. Jahrhunderts, kommt eigentlich aus Brühl, das aber nur einen Katzensprung von der Domstadt entfernt ist. Und dorthin zieht es ihn auch mit seiner ...

Naja, fast, denn Max Ernst, der große Künstler des 20. Jahrhunderts, kommt eigentlich aus Brühl, das aber nur einen Katzensprung von der Domstadt entfernt ist. Und dorthin zieht es ihn auch mit seiner ersten Frau, Mit seiner ersten Ehefrau (von insgesamt vier!) der Kunsthistorikerin Louise Straus-Ernst, lebt er dort und wird zu einer der Gallionsfiguren der Kölner Dadaismus-Bewegung, bis es ihn fortzieht - fort von der Familie, hin zur nächsten Frau.

Markus Orths kleidet das Leben des Künstlers in einen Roman und hangelt sich dabei an den Frauen im Leben Max Ernsts entlang - an sechs ausgewählten, denn es waren einige mehr, die sich für eine Zeit zu Max gesellten. Auf diese oder jene Art und Weise.

Die dichterische Freiheit gepaart mit historischen Fakten zu präsentieren ist nicht leicht - Markus Orths meistert diese Herausforderung mit Bravour, spannend schreibt er und mitreißend, vermag die Charaktere, die ja "in Echt" existiert haben, in wenigen Sätzen darzustellen. Und neben den sechs Frauen Lou, Gala, Marie-Berthe, Leonora, Peggy und Dorothea sind dies noch eine Menge anderer Gestalten, Weggefährten Ernsts in der ein oder anderen Phase seines Lebens oder auch - wie Paul Elouard, Hans Arp oder Marcel Duchamp - mehr oder weniger lebenslang.

Der Roman liest sich fast wie ein Umschlag der Geschehnisse in Westeuropa in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhundert - danach wird es um Max Ernst merklich stiller - es ist tollkühn, was Markus Orths hier wagt. Und mit Bravour meistert.

Ein Meisterwerk also, eines, das ich in vollen Zügen genossen habe, nicht nur, weil ich Max Ernst als Sohn (naja, fast - siehe oben) meiner Heimatstadt Köln schon lange kenne und schätze, das Max-Ernst-Museum in Brühl oft besucht, seine Bilder im Kölner Museum Ludwig oft gesehen habe, teilweise von Kindesbeinen an.

Ein Meisterwerk also, das einem (Maler-)Meister gewidmet ist und dem ich viele, viele Leser gönne! So sollte eine literarische Biographie geschrieben sein, aber ich kann mir vorstellen, dass das nur die Wenigsten schaffen. Das ist auch gut so - wenn es zu viele Meisterwerke auf der Welt gibt, relativieren sie sich!

Aber so: Ein Hoch auf den großartigen Maler Max Ernst und ein weiteres auf den Autor Markus Orths, der ihm mit diesem Roman ein einzigartiges Denkmal geschaffen hat!