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Veröffentlicht am 30.12.2017

Hand in Hand der Sonne nach

Die andere Seite des Himmels
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So hieß eines meiner Lieblingsbücher in meiner Kindheit: es ging um zwei Waisenkinder, zwei amerikanische Schwestern, die ihr trauriges Leben hinter sich lassen wollten und aufbrachen, um eine bessere ...

So hieß eines meiner Lieblingsbücher in meiner Kindheit: es ging um zwei Waisenkinder, zwei amerikanische Schwestern, die ihr trauriges Leben hinter sich lassen wollten und aufbrachen, um eine bessere Zukunft zu finden - sehr erfolgreich, wenn auch komplett anders als ursprünglich gedacht.

Dieses Buch hat Jeanette Walls bestimmt auch mal gelesen, denn während der
Lektüre ihres aktuellen Buches "Die andere Seite des Himmels" ergaben sich immer
wieder mal Assoziationen: die Schwestern Liz und Bean, fünfzehn und zwölf Jahre
alt, sind zwar keine Waisen, doch sind sie in einer ähnlichen Situation, werden
sie doch von ihrer Hippie-Mutter mit musikalischen Ambitionen - wir schreiben
das Jahr 1970 - immer wieder in Stich gelassen.

Und so sind sie mehr oder weniger gezwungen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und tun es auch - mehr oder weniger gezwungenermaßen, um der Einweisung ins Jugendheim zu entfliehen: sie begeben sich per Bus auf eine Odyssee quer durch die Staaten - von Kalifornien an die Ostküste, wo ihre Mutter herkommt: da gibt es nämlich noch einen Onkel.

Onkel Tinsley erweist sich als verschrobener, aber liebenswerter Kerl, auch andere Verwandte finden sich - quasi unverhofft - die den Mädchen, vor allem Bean, aus deren Perspektive die Geschichte erzählt wird, ein wenig Wärme vermitteln. Auch die Mutter taucht wieder auf, zumindest partiell.

Und sie treffen auf den bösen Wolf - in Form eines der mächtigsten Männer der Gegend und sagen ihm den Kampf an - mit allen Konsequenzen, die sie dann auch brutal erfahren müssen.

Ein wunderbares Buch - wie bisher alles, was Jeanette Walls zu Papier gebracht hat - atmosphärisch und dicht geschrieben, so dass man es als Leser nicht aus der Hand legen kann. Man erhält einen Einblick in das USA der frühen 1970er Jahre: Vietnam, Rassismus, arm und reich - das alles ist noch sehr, sehr präsent - vor allem in den Südstaaten, wohin es die Mädchen verschlagen hat. Die Charaktere sind charismatisch, (fast) nie schwarz oder weiß, es gibt humorvolle, erschütternde, beklemmende, aufrüttelnde und ergreifende Szenen: ein wahres Gefühlskarussell, durch das man während der Lektüre geschleust wird.

Keine Frage, es lohnt sich - für Menschen, die aufbrechen wollen, die Anstöße und Impulse brauchen, für Menschen, die etwas über die neuere Geschichte der USA erfahren wollen und vor allem für Menschen, die nach dem absoluten Lesegenuss lechzen - hier werden alle reich belohnt: Ein Buch, das man nicht so schnell vergisst.

Veröffentlicht am 30.12.2017

Therapeut glücklos - Leserin glücklich

Der glücklose Therapeut
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Nämlich mit der Lektüre dieses Buches!
Ein kleines Juwel ist dieses Büchlein, durch dessen Lektüre ich mich durchaus in eine Ecke drängen lasse: nämlich in die der psychoanalytisch Interessierten. Für ...

Nämlich mit der Lektüre dieses Buches!
Ein kleines Juwel ist dieses Büchlein, durch dessen Lektüre ich mich durchaus in eine Ecke drängen lasse: nämlich in die der psychoanalytisch Interessierten. Für andere ist dieses Buch nämlich definitiv nichts - sie werden sich tödlich langweilen.

Worum es geht: David Winter, seines Zeichens Pychotherapeut und seit Jahren auf Depressionen spezialisiert, ist am Ende: beruflich wie privat. Er ist analytisch an seine Grenzen gestoßen, in bezug auf seine - aus Frau und erwachsener Tochter bestehenden - Familie läuft auch alles schief. Kurzum: der gute Mann befindet sich in einer Zwickmühle, aus der definitiv schwer rauszufinden ist. Wohl und Wehe des Mannes hängen von den zukünftigen Entwicklungen, von Winters Handeln ab, sein beruflicher Ruf steht auf dem Spiel.

Dies alles wird auf gerade mal 250 Seiten sowohl unterhaltsam als auch ungewöhnlich dicht beschrieben - der Autor Noam Shpancer, selbst Psychologe, hat es sprachlich einfach drauf! Ein Genuss, seine leicht sarkastisch angehauchten Bonmots und Erkenntnisse zu lesen - wenn man selbst an Psychotherapie interessiert ist, andererseits jedoch nicht zu kritisch an die Materie rangeht. Der Autor bezieht nämlich durchaus Stellung bzw. lässt er dies seinen Protagonisten tun: dieser muss sich Gedanken über selbstmordgefährdete Patienten, eine untreue Ehefrau sowie die Zukunft der immer selbständiger werdenden Tochter machen - am meisten jedoch über sich selbst was - wie der Leser rasch merkt - der schwierigste Part von allen ist.

David Winters Alltag wird hier geschildert, wobei zwei Extremsituationen in das Setting eingebettet werden. Der Leser wird aufgerüttelt, wird aufgefordert, sich Fragen zu stellen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Sehr zu empfehlen, allerdings nur für Rezipienten, die bereit sind, ihr ganzes Umfeld und nicht zuletzt sich selbst in Frage zu stellen.

Veröffentlicht am 30.12.2017

Eine moderne Visionärin

Wunder muss man selber machen
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Sina Trinkwalder hatte einen Traum: nämlich den einer gerechten Arbeitswelt, in der es auch Platz für ausgemusterte, zu alte, zu kinderreiche, zu unflexible Arbeitnehmer gibt. Außerdem hat sie zwei Hände, ...

Sina Trinkwalder hatte einen Traum: nämlich den einer gerechten Arbeitswelt, in der es auch Platz für ausgemusterte, zu alte, zu kinderreiche, zu unflexible Arbeitnehmer gibt. Außerdem hat sie zwei Hände, zwei Beine, einen gesunden Menschenverstand - und vor allem hat sie Mut. Und so wurde ihr Traum zur Realität.

Sina Trinkwalder ist eine moderne Visionärin, die sich nicht von festgefahrenem schrecken lässt - und so schuf sie in der traditionellen Textilstadt Augsburg, die schon lange die Bedeutung als Industriestandort verloren hatte, die Textilfirma "mannomamma", in der ein Herz für Arbeitnehmer schlägt - aber auch eins für umweltfreundliche und nachhaltige Produkte. Sie baute diese Firma in Augsburg auf, weil es eben ihre Heimatstadt ist - wäre sie aus Dortmund, hätte sie eventuell Bier gebraut, in Bremerhaven Fische verarbeitet. Frau Trinkwalder hat sich den Umständen angepasst - und daraus Unglaubliches, Totgeglaubtes wiederaufstehen lassen.

In diesem Buch beschreibt sie ihren Weg - ohne Beschönigungen, Schönfärbereien oder Ähnliches - ehrlich und lässt selbst Peinliches nicht aus. Es hat nämlich nicht alles sofort geklappt, manchmal war Sina Trinkwalder ziemlich naiv, ja sogar blauäugig. Aber sie hat nie den Mut und den Glauben an ihre Idee verloren.

Dabei ist sie beileibe kein Gutmensch - nein, dagegen verwahrt sie sich ausdrücklich! Ihre Firma ist kein Auffangbecken für Leute, die hier ihr Gnadenbrot bekommen, im Gegenteil: Sina Trinkwalder stellt zwar Leute ein, die sonst nicht unbedingt mit Kusshand genommen werden, aber arbeitswillig und effizient müssen sie schon sein. Wer sich nicht bewährt, bzw. nicht dazu bereit ist, geht oft schon von allein, ohne dass eine Kündigung ausgesprochen werden muss.

Nachhaltigkeitspreise, Auszeichnungen für Umweltbewußtsein - Sina Trinkwalder hat sie alle eingesammelt. Sie freut sich darüber, aber käuflich ist sie nicht: schonungslos geht sie mit denen ins Gericht, die das Label Bio nur aus marktschreierischen Gründen verwenden. Auch Promis, die sie bei solchen Veranstaltungen kennengelernt hat, kriegen ihr Fett weg - wenn sie es denn verdient haben!

Die junge Unternehmerin ist Visionärin und Realistin zugleich - und eine tolle Autorin, versteht sie es doch, ihre Idee lebendig an den Mann und an die Frau zu bringen. Sicher ist so viel Energie und Antriebskraft nicht jedem gegeben - doch wir sollten ihre Zeilen, ihr Lebensmodell in Zeiten verinnerlichen, in denen alles komplett festgefahren und ausweglos scheint. Ein bisschen Sina Trinkwalder sollte in jedem von uns stecken!

Veröffentlicht am 30.12.2017

Ein Rabbi mit Macken

Der Rabbi und das Böse
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Ein Rabbi steht im Mittelpunkt des zweiten Krimis um Kommissar Assaf Rosenthal - und er lebt nicht nicht lange: nein, auf den ersten Seiten des überaus spannenden Krimis wird er vor den Augen Tausender ...

Ein Rabbi steht im Mittelpunkt des zweiten Krimis um Kommissar Assaf Rosenthal - und er lebt nicht nicht lange: nein, auf den ersten Seiten des überaus spannenden Krimis wird er vor den Augen Tausender auf einer Kundgebung umgebracht - ausgerechnet von einem Weihnachtsmann! Schnell stoßen die Ermittler auf Einiges im nunmehr vergangenen Leben des Rabbi, dem es wert ist, nachzuspüren und ermitteln nicht nur in eine Richtung.

Die junge Autorin Katharina Höftmann bietet ihren Lesern erneut einen klassischen Whodunnit mit allem Zipp und Zapp in in Tel Aviv, der inoffiziellen Hauptstadt Israels, die wir diesmal von ihrer religösen Seite erleben - auch das Leben der Palästinenser ist diesmal Thema.

Wie auch in Höftmanns erstem Krimi gibt es markante Charaktere mit Wiedererkennungswert - nicht nur Assaf, auch seine Kollegen sind mir aus dem Vorgänger, der "letzten Sünde" nachhaltig im Gedächtnis haften geblieben - wahrlich versteht es die Autorin, eine Figur mit wenigen Sätzen so hinzuwerfen, dass sie nicht nur Hand und Fuß hat, sondern durch hervorstechende, aber keineswegs übertriebene Eigenschaften und Merkmale im Gedächtnis - und nicht selten auch im Herzen - der Leser haften bleibt.

Bereits jetzt, im zweiten Teil, hat Höftmann für die Etablierung ihrer Serie gesorgt und einige Mängel aus dem ersten Teil elimiert. So ist hier durchgehend für Spannung gesorgt, wobei tiefgründigere Details und Hintergrundinfos zu Israel - aus meiner Sicht zeigen sich hier die wahren Qualitäten der Autorin - zu keiner Zeit auf der Strecke bleiben. Auch wenn sich auch diesmal die Lösung , bzw. zumindest Teile davon früh abzeichnen, gibt es einige überraschende Wendungen - und zumindest in den ersten zwei Dritteln durchaus ein paar falsche Fährten.

Bereits nach dem ersten Band um Assaf Rosenthal war ich zum Fan dieser Reihe geworden, dies hat sich jettz noch gesteigert! Höftmann hat ein Setting mit einer ganzen Anzahl von Alleinstellungsmerkmalen geschaffen, die sicher dafür sorgen werden, dass Assaf Rosenthal in der deutschen Krimilandschaft in einigen Jahren ähnlich bekannt ist wie Lisbeth Salander! Ein kleiner Tipp für alle, die Stoff für Verfilmungen suchen: dieser eignet sich bestens - Assaf wird sich - wenn er passend besetzt wird - sicher mit atemberaubender Schnelligkeit zum Liebling vieler weiblicher Zuschauer aufschwingen!

Wer packend und eloquent formulierte, atmosphärische Krimis liebt, der ist auch mit Höftmanns zweitem Krimi bestens bedient.

Veröffentlicht am 30.12.2017

Spiel des Lebens in zwölf Zügen

Carambole
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...oder vielmehr Runden, wie der Autor sie nennt. Der Titel des Buches ist "Carambole", ein altes Spiel, das im Buch von drei Männern, drei älteren Herrschaften, als welche sie bezeichnet werden, regelmäßig ...

...oder vielmehr Runden, wie der Autor sie nennt. Der Titel des Buches ist "Carambole", ein altes Spiel, das im Buch von drei Männern, drei älteren Herrschaften, als welche sie bezeichnet werden, regelmäßig gespielt wird - doch ist es das Spiel des Lebens, um das es hier geht. Das Leben der Dorfbewohner, die tagein, tagaus in einem kleinen Dorf ihre Tage verbringen - und doch so viele Sichtweisen auf dieselben Dinge haben, wie es Einwohner gibt - oder sogar mehr.

Einige fliehen auch, sind verschwunden. Sie lassen andere zurück und nehmen etwas mit - das gemeinsame Vermögen, das gemeinsame Kind. Die Verlassenen trauern nur bedingt - sie finden sich ab und fügen sich ein in die veränderten Strukturen... etwas passiert mit ihnen - eher, als dass sie selbst agieren. Das sind die Gebliebenen, die Romanhelden, die Steinchen der Carambole, die mit ihnen gespielt wird.

Es gibt ein Ende für einen Akteur, alle anderen machen weiter - genau wie bisher? Wir wissen es nicht, denn Jens Steiner präsentiert uns lediglich einen Ausschnitt, eine Art Blitzlichtaufnahme über ein paar Tage im Dorf. Das tut er sparsam, aber trotzdem wortgewaltig. Wie das gehen soll? Nun, er ist einer dieser Autoren, die mit Worten malen, aber er braucht nur wenige: ein Satz und ein Charakter, eine Beziehung, eine Situation wird erfasst, der Leser kann ihn/sie in ihrer Gänze begreifen. Hier sitzt jedes einzelne Wort.

Steiner präsentiert, nein, er entlarvt den dörflichen Alltag dadurch, dass die Bewohner aus verschiedenen Perspektiven dargestellt werden - mal aus der eigenen, mal wieder aus anderen.

Eine Milieustudie der Normalität - oder auch gerade nicht, denn wie einer der Protagonisten verkündet "war ich schon damals längst der Normalität abhanden gekommen." (S, 160)
Dieses kurze Buch beinhaltet eine Reihe einprägsamer Sätze, die zumindest ich nicht so schnell gergessen werde - so bin ich bspw. "überzeugt davon, dass jedes Alter seine eigene Ernsthaftigkeit hat" (S.112), ich wußte es bisher nur nicht!

Wie auch vieles andere, eigentlich Selbstverständliche, das der Autor mir hier plastisch vor Augen geführt hat. Lesenswert!