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Veröffentlicht am 30.12.2017

Der böse Wolf

Amon
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TochterAlice

vor 4 Jahren
(5)


kann, darf nicht Teil der eigenen Verwandtschaft sein?

Nun, bei Jennifer Teege ist es so und er hat nicht nur Rotkäppchen, sondern gar viele arme Seelen auf dem Gewissen: ...



TochterAlice

vor 4 Jahren
(5)


kann, darf nicht Teil der eigenen Verwandtschaft sein?

Nun, bei Jennifer Teege ist es so und er hat nicht nur Rotkäppchen, sondern gar viele arme Seelen auf dem Gewissen: ihr Großvater war nämlich Amon Göth, der "Schlächter von Plaszów", vielen bekannt aus "Schindlers Liste". Spät wurde die Autorin mit diesem Teil ihrer Vergangenheit, besonders makaber der persönliche Hintergrund: Amon Göth hat als Kommandant von Auschwitz nicht nur Juden, sondern alle andersartigen Menschen skrupellos umgebracht: ganz egal, ob die Andersartigkeit durch Herkunft, Gesinnung oder Aussehen bedingt war -zynisch ist er dabei vorgegangen und erbarmungslos.


Seine Enkelin Jennifer ist aus der damaligen Sicht auch anders, nämlich dunkel: sie hat einen wunderschönen Teint, den sie ihrem Vater, einem Nigerianer verdankt - einem Untermenschen aus der Sicht von Amon Göth. Früh wurde sie zu einer Pflegefamilie gegeben, hatte anfänglich noch Kontakt zu ihrer leiblichen Mutter, Monika Göth und zu ihrer Oma, Ruth Irene Kalder, der Geliebten von Amon Göth, der jedoch abbrach. Sie wuchs bei gütigen, verständnisvollen Eltern, aber fehlte etwas: ihre Vergangenheit. Wie so viele Adoptivkinder, suchte und fand sie beide Eltern wieder. Sie kannte also ihre Eltern, ihre Oma, doch erfuhr sie den familiären Zusammenhang erst durch ein Buch ihrer Mutter, das ihr zufällig 2008 in die Hände fiel.

Jennifer Teege beschreibt das Leben mit diesem Erbe - einem der großen Naziverbrecher, ja einem Massenmörder als Großvater. Und mit einer Mitläuferin, Mitwisserin, Begleiterin als Großmutter - einer Frau, die ihr als Kind gütig und liebevoll begegnete, die sie bis dahin nur positiv sah. Mutig legt sie das Dilemma, den inneren Zwiespalt dar, der sie so aufgewühlt hat: darf man eine solche Frau lieben? Kann man gegenüber ihr warme Gefühle, Erinnerungen, ja Sehnsüchte zulassen?

Doch dies ist nicht die einzige "Baustelle", die Jennifer Teege mit dem Wissen über ihre Vergangenheit zu klären hatte: nein, ausgerechnet sie hat enge Bindungen zu Israel, spricht Hebräisch, hat zwei sehr enge Freundinnen in dem Land. Wie sollte sie diese mit ihrem Erbe konfrontieren?

Ein kluges, reflektiertes und sehr persönliches Buch über Vergangenheit, historische Fakten, Sichtweisen - und über die Liebe. Aus meiner Sicht ein Gewinn für jeden aus der Generation der Nachkommen, der vielem verständnislos und ohnmächtig gegenübersteht, gewisse Fakten seine Familie, seinen Ursprung betreffend nicht begreifen will, es gar nicht kann, denn erstens zeigt uns Jennifer Teege, dass es gar keine optimale, sondern nur eine sehr persönliche Herangehensweise, ein individuelles Begreifen, eine individuelle Verarbeitung gibt. Es gibt auch andere Stimmen, so werden bspw. Stellungnahmen ihrer Adoptivmutter, ihres Adoptivbruders eingeblendet, historische Tatsachen werden mitgeteilt. So wird der Leser nicht nur von Jennifer Teeges Perspektive begleitet, sondern erfährt auch die Reflexion ihres Umfeldes. Ein kleines großes Buch, das ich sicher wieder und wieder zur Hand nehmen werde. Jennifer Teege hat aus meiner Sicht einen großen Schritt getan, der nicht nur ihr, sondern auch mir weitergeholfen hat.


Ich empfehle es jedem, der ein familiäres Erbe - sei es groß, sei es klein, ist es von Wissen oder von Nichtwissen geprägt. Mir hat das Buch gezeigt, dass ich zwiespältige Gefühle hinsichtlich meiner Vergangenheit zulassen darf, ja muss, um weitermachen zu können. Weitermachen heißt nicht "nur" weiterleben, indem man weiter funktioniert. Nein, es bedeutet auch die Bereitschaft, sich weiterzuentwickeln mit diesem Wissen, zu sich selbst und zu seinen widersprüchlichen Empfindungen zu stehen.

Veröffentlicht am 30.12.2017

Schrebergartenleichen

Radieschen von unten
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... findet man in diesem unterhaltsamen Buch zuhauf!

Es geht hoch her in der Schrebergartenkolonie "Saftiges Radieschen", in die Loretta Luchs sich geflüchtet hat, um ihrem computerspielverrückten Freund ...

... findet man in diesem unterhaltsamen Buch zuhauf!

Es geht hoch her in der Schrebergartenkolonie "Saftiges Radieschen", in die Loretta Luchs sich geflüchtet hat, um ihrem computerspielverrückten Freund Tom mal für eine Weile zu entkommen. Loretta hat eine Woche Urlaub von ihrem ausgesprochen ungewöhnlichen Job genommen: sie arbeitet in einer Telefon-Sex-Zentrale, wo sie Männern ganztägig was vorstöhnt. Ihre Freundin und Kollegin Diana ist stolze Besitzerin einer Laube mit Garten in der obengenannten Kolonie mitten im Ruhrpott - einem scheinbar perfekten Ort zum Ausruhen - und so nimmt Loretta das Angebot gerne an. Eine Oase der Ruhe ist das "Saftige Radieschen" aber nicht. Nachbar, die man mit gutem Willen als gesellig, ohne diesen als aufdringlich bezeichnen kann, rücken ihr Tag für Tag auf die Pelle. So erhält sie rasch Einblick in die Verhältnisse und erfährt, dass einige Frauen nicht so nette Männer haben. Diese sterben dann nach und nach und Loretta ist gemeinsam mit Schrebergartenbekanntschaft Frank immer mitten im Geschehen. Parallel erfährt sie, dass Tom durchaus andere Interessen als Computerspiele hat - nämlich Spiele mit anderen Damen. Traurig und frustriert lenkt sie sich durch Ermittlungen ab - sie geht den Todesfällen nach, die durchaus Morde sein könnten.

Nun, alles ist sehr, sehr absehbar und nicht so furchtbar spannend - aber das stört überhaupt nicht, denn Lotte Minck schreibt ungeheuer atmosphärisch und vor allem witzig - wenn man das Ruhrpott-Idiom mag, was eine unumgängliche Voraussetzung für den Genuss dieses Buches ist.

Die Charaktere sind einfach wunderbar gezeichnet - man kann sich Diana, Frank und die anderen vorstellen, als wäre man selbst dabei. Allerdings darf man nicht zu schwach auf der Brust sein für den mitunter recht direkten Humor: einen der toten Herren aus der Schrebergartenkolonie findet man beispielsweise "als Fleischpuzzle inner Plastiktüte" (S.165).

Für mich genau das Richtige vor und nach einem anstrengenden Arbeitstag: Lotte Minck schreibt wie immer - ich bin seit Jahren ein Fan und habe schon vieles von ihr gelesen - einfach mitreißend und bezaubernd. Wer sich durch eine originelle Geschichte mitten aus dem Pott aufmuntern lassen will - nur zu, das ist genau das Richtige!

Veröffentlicht am 30.12.2017

Hand in Hand der Sonne nach

Die andere Seite des Himmels
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So hieß eines meiner Lieblingsbücher in meiner Kindheit: es ging um zwei Waisenkinder, zwei amerikanische Schwestern, die ihr trauriges Leben hinter sich lassen wollten und aufbrachen, um eine bessere ...

So hieß eines meiner Lieblingsbücher in meiner Kindheit: es ging um zwei Waisenkinder, zwei amerikanische Schwestern, die ihr trauriges Leben hinter sich lassen wollten und aufbrachen, um eine bessere Zukunft zu finden - sehr erfolgreich, wenn auch komplett anders als ursprünglich gedacht.

Dieses Buch hat Jeanette Walls bestimmt auch mal gelesen, denn während der
Lektüre ihres aktuellen Buches "Die andere Seite des Himmels" ergaben sich immer
wieder mal Assoziationen: die Schwestern Liz und Bean, fünfzehn und zwölf Jahre
alt, sind zwar keine Waisen, doch sind sie in einer ähnlichen Situation, werden
sie doch von ihrer Hippie-Mutter mit musikalischen Ambitionen - wir schreiben
das Jahr 1970 - immer wieder in Stich gelassen.

Und so sind sie mehr oder weniger gezwungen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und tun es auch - mehr oder weniger gezwungenermaßen, um der Einweisung ins Jugendheim zu entfliehen: sie begeben sich per Bus auf eine Odyssee quer durch die Staaten - von Kalifornien an die Ostküste, wo ihre Mutter herkommt: da gibt es nämlich noch einen Onkel.

Onkel Tinsley erweist sich als verschrobener, aber liebenswerter Kerl, auch andere Verwandte finden sich - quasi unverhofft - die den Mädchen, vor allem Bean, aus deren Perspektive die Geschichte erzählt wird, ein wenig Wärme vermitteln. Auch die Mutter taucht wieder auf, zumindest partiell.

Und sie treffen auf den bösen Wolf - in Form eines der mächtigsten Männer der Gegend und sagen ihm den Kampf an - mit allen Konsequenzen, die sie dann auch brutal erfahren müssen.

Ein wunderbares Buch - wie bisher alles, was Jeanette Walls zu Papier gebracht hat - atmosphärisch und dicht geschrieben, so dass man es als Leser nicht aus der Hand legen kann. Man erhält einen Einblick in das USA der frühen 1970er Jahre: Vietnam, Rassismus, arm und reich - das alles ist noch sehr, sehr präsent - vor allem in den Südstaaten, wohin es die Mädchen verschlagen hat. Die Charaktere sind charismatisch, (fast) nie schwarz oder weiß, es gibt humorvolle, erschütternde, beklemmende, aufrüttelnde und ergreifende Szenen: ein wahres Gefühlskarussell, durch das man während der Lektüre geschleust wird.

Keine Frage, es lohnt sich - für Menschen, die aufbrechen wollen, die Anstöße und Impulse brauchen, für Menschen, die etwas über die neuere Geschichte der USA erfahren wollen und vor allem für Menschen, die nach dem absoluten Lesegenuss lechzen - hier werden alle reich belohnt: Ein Buch, das man nicht so schnell vergisst.

Veröffentlicht am 30.12.2017

Therapeut glücklos - Leserin glücklich

Der glücklose Therapeut
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Nämlich mit der Lektüre dieses Buches!
Ein kleines Juwel ist dieses Büchlein, durch dessen Lektüre ich mich durchaus in eine Ecke drängen lasse: nämlich in die der psychoanalytisch Interessierten. Für ...

Nämlich mit der Lektüre dieses Buches!
Ein kleines Juwel ist dieses Büchlein, durch dessen Lektüre ich mich durchaus in eine Ecke drängen lasse: nämlich in die der psychoanalytisch Interessierten. Für andere ist dieses Buch nämlich definitiv nichts - sie werden sich tödlich langweilen.

Worum es geht: David Winter, seines Zeichens Pychotherapeut und seit Jahren auf Depressionen spezialisiert, ist am Ende: beruflich wie privat. Er ist analytisch an seine Grenzen gestoßen, in bezug auf seine - aus Frau und erwachsener Tochter bestehenden - Familie läuft auch alles schief. Kurzum: der gute Mann befindet sich in einer Zwickmühle, aus der definitiv schwer rauszufinden ist. Wohl und Wehe des Mannes hängen von den zukünftigen Entwicklungen, von Winters Handeln ab, sein beruflicher Ruf steht auf dem Spiel.

Dies alles wird auf gerade mal 250 Seiten sowohl unterhaltsam als auch ungewöhnlich dicht beschrieben - der Autor Noam Shpancer, selbst Psychologe, hat es sprachlich einfach drauf! Ein Genuss, seine leicht sarkastisch angehauchten Bonmots und Erkenntnisse zu lesen - wenn man selbst an Psychotherapie interessiert ist, andererseits jedoch nicht zu kritisch an die Materie rangeht. Der Autor bezieht nämlich durchaus Stellung bzw. lässt er dies seinen Protagonisten tun: dieser muss sich Gedanken über selbstmordgefährdete Patienten, eine untreue Ehefrau sowie die Zukunft der immer selbständiger werdenden Tochter machen - am meisten jedoch über sich selbst was - wie der Leser rasch merkt - der schwierigste Part von allen ist.

David Winters Alltag wird hier geschildert, wobei zwei Extremsituationen in das Setting eingebettet werden. Der Leser wird aufgerüttelt, wird aufgefordert, sich Fragen zu stellen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Sehr zu empfehlen, allerdings nur für Rezipienten, die bereit sind, ihr ganzes Umfeld und nicht zuletzt sich selbst in Frage zu stellen.

Veröffentlicht am 30.12.2017

Eine moderne Visionärin

Wunder muss man selber machen
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Sina Trinkwalder hatte einen Traum: nämlich den einer gerechten Arbeitswelt, in der es auch Platz für ausgemusterte, zu alte, zu kinderreiche, zu unflexible Arbeitnehmer gibt. Außerdem hat sie zwei Hände, ...

Sina Trinkwalder hatte einen Traum: nämlich den einer gerechten Arbeitswelt, in der es auch Platz für ausgemusterte, zu alte, zu kinderreiche, zu unflexible Arbeitnehmer gibt. Außerdem hat sie zwei Hände, zwei Beine, einen gesunden Menschenverstand - und vor allem hat sie Mut. Und so wurde ihr Traum zur Realität.

Sina Trinkwalder ist eine moderne Visionärin, die sich nicht von festgefahrenem schrecken lässt - und so schuf sie in der traditionellen Textilstadt Augsburg, die schon lange die Bedeutung als Industriestandort verloren hatte, die Textilfirma "mannomamma", in der ein Herz für Arbeitnehmer schlägt - aber auch eins für umweltfreundliche und nachhaltige Produkte. Sie baute diese Firma in Augsburg auf, weil es eben ihre Heimatstadt ist - wäre sie aus Dortmund, hätte sie eventuell Bier gebraut, in Bremerhaven Fische verarbeitet. Frau Trinkwalder hat sich den Umständen angepasst - und daraus Unglaubliches, Totgeglaubtes wiederaufstehen lassen.

In diesem Buch beschreibt sie ihren Weg - ohne Beschönigungen, Schönfärbereien oder Ähnliches - ehrlich und lässt selbst Peinliches nicht aus. Es hat nämlich nicht alles sofort geklappt, manchmal war Sina Trinkwalder ziemlich naiv, ja sogar blauäugig. Aber sie hat nie den Mut und den Glauben an ihre Idee verloren.

Dabei ist sie beileibe kein Gutmensch - nein, dagegen verwahrt sie sich ausdrücklich! Ihre Firma ist kein Auffangbecken für Leute, die hier ihr Gnadenbrot bekommen, im Gegenteil: Sina Trinkwalder stellt zwar Leute ein, die sonst nicht unbedingt mit Kusshand genommen werden, aber arbeitswillig und effizient müssen sie schon sein. Wer sich nicht bewährt, bzw. nicht dazu bereit ist, geht oft schon von allein, ohne dass eine Kündigung ausgesprochen werden muss.

Nachhaltigkeitspreise, Auszeichnungen für Umweltbewußtsein - Sina Trinkwalder hat sie alle eingesammelt. Sie freut sich darüber, aber käuflich ist sie nicht: schonungslos geht sie mit denen ins Gericht, die das Label Bio nur aus marktschreierischen Gründen verwenden. Auch Promis, die sie bei solchen Veranstaltungen kennengelernt hat, kriegen ihr Fett weg - wenn sie es denn verdient haben!

Die junge Unternehmerin ist Visionärin und Realistin zugleich - und eine tolle Autorin, versteht sie es doch, ihre Idee lebendig an den Mann und an die Frau zu bringen. Sicher ist so viel Energie und Antriebskraft nicht jedem gegeben - doch wir sollten ihre Zeilen, ihr Lebensmodell in Zeiten verinnerlichen, in denen alles komplett festgefahren und ausweglos scheint. Ein bisschen Sina Trinkwalder sollte in jedem von uns stecken!