Journalistisches Sachbuch über Napoleons Russlandfeldzug
Im Jahre 1812 begann "La grande armée de France", zusammen mit ihren Preußischen, Österreichischen, Italienischen und Polnischen Verbündeten die größte Operation in der relativ kurzen Zeit ihres Bestehens: ...
Im Jahre 1812 begann "La grande armée de France", zusammen mit ihren Preußischen, Österreichischen, Italienischen und Polnischen Verbündeten die größte Operation in der relativ kurzen Zeit ihres Bestehens: Etwas mehr als eine halbe Million Mann überschritten damals die Grenze zum russischen Reich, mit dem Ziel, den abtrünnigen Verbündeten, Zar Alexander, wieder auf Linie zu bringen und ihn dazu zu zwingen, die Bedingungen des Friedens von Tilsit (Bündnistreue mit Frankreich) einzuhalten.
Die Armee, befehligt einerseits vom größten französischen Feldherrn aller Zeiten persönlich, Napoleon Bonaparte, und kommandiert andererseits von hervorragenden französischen Generalen wie Davout, Ney oder Berthier, erzielte anfangs noch einige Erfolge, wie etwa die Einnahme von Wilna, Witebsk und Smolensk - doch als klar wurde, dass die russsichen Verteidiger die Taktik der Verbrannten Erde praktizierten, liefen die Kaiserlichen Truppen in die Falle. Gezwungen, im Winter zurückzumarschieren, verlor die "Grande armée" viel mehr Leute durch Kälte, Hunger und Krankheiten als durch unmittelbare Feindeinwirkung; schließßlich setzte sich Napoleon in Wilna von seinen Truppen ab und reiste allein weiter nach Frankreich. Die Trümmer der Großen Armee, unablässig durch Kosakenangriffe dezimiert, lösten sich schließlich fast von selbst auf; nur die wenigsten entkamen nach Hause.
Was das Werk so angenehm macht, ist der wunderbare Schreibstil. Ohne Mühe liest man die Seiten herunter - und stehen Geschichtsbücher doch in dem Ruf, hin und wieder etwas trockener zu sein, so wird doch im Falle von "1812" eindrucksvoll das Gegenteil bewiesen. Eine Unmenge von Zitaten von soldatischer oder ziviler Seite - von Leuten also, die an dem Feldzug auf der einen oder anderen Seite teilnahmen - bewirkt, dass das Geschehen direkt, regelrecht hautnah erzählt wird. Ich persönlich empfand ein unglaubliches Lesevergnügen, während ich das Buch innerhalb einer Woche verschlang.
Der schnörkellose, unkomplizierte Stil des Buches ist aber, meiner Meinung nach, auch seine Schwäche. An manchen Stellen wirkt das Werk allzu journalistisch, allzu teißerisch - und in der Tat wird sehr viel Wert auf "Thrilling effects" gelegt: Beispielsweise häufen sich die Beschreibungen ekliger Vorkommnisse während des Feldzuges (wie zum Beispiel aufgestapelte, weil amputierte Körperteile, Schilderungen von Erfrierungen oder der Behandlungn von Gefangenen etc.). Irgendwann, nach der gefühlten zweihundertsten Schilderung solcher menschlicher Tragödien, reicht es dann auch wieder - jedenfalls hatte ich das Gefühl. Das Buch, das sich anfangs wie ein spannend geschriebenes Geschichtswerk las, erweckt im Mittelteil den Eindruck, den Leser einfach nur noch schocken zu wollen.
Der Schluss reißt das Ganze dann doch wieder raus. In klaren Worten analysiert Zamoyski die politischen Folgen des Napoleonischen Russland-Feldzuges; trotz allem lässt er sich dann zu diesem Schlusssatz hinreißen: "... wie Hybris am Ende von ihrer Nemesis eingeholt wird".
Na ja, das ist nicht besonders logisch: "Hybris" ist schlicht das altgriechische Wort für "Frevel gegenüber den Göttern" und "Nemesis" ist die Götting der Rache. "Hybris" kann folglich nicht von ihrer "Nemesis" eingeholt werden. Trotz dieses Fehlers und des allzu journalistischen Schreibstils kann man dem Werk aber noch getrost vier Sterne verleihen. Insbesondere für Einsteiger in die Thematik gut geeignet.